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Wer die Lüge kennt. Beate VeraЧитать онлайн книгу.

Wer die Lüge kennt - Beate Vera


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für Aidskranke und ihr Mann kümmere sich speziell um Frauen, die auf der Straße lebten. Glander hatte bereits mitbekommen, dass es in der Nachbarschaft rumorte, seit in dieser baufälligen Halle vor einigen Monaten Obdachlose Quartier bezogen hatten. Hartmann opferte nicht nur viel Zeit für diese Frauen, sondern nahm auch ihre Schicksale mit nach Hause. Das hatte Glander nachdenklich gemacht, denn allzu leicht verdrängte man, dass das alles kaum einen Steinwurf entfernt vom Eifelviertel geschah.

      »Vor sechs Wochen fand man die erste Tote, Roswita Kemper. Sie war um die siebzig«, fuhr Hartmann fort. »Ich habe nie herausgefunden, wo sie sich nachts aufhielt, aber tagsüber lief sie meist mit ihrem Rollköfferchen über den Bahnsteig Lichterfelde Ost. Abends verdrückte sie sich dann immer. Gott weiß, was sie im Gepäck hatte und wohin sie ursprünglich mal fahren wollte. Sie wurde mit Messerstichen verletzt und danach in ein Gebüsch am Gleisbett am Bahnhof Osdorfer Straße geworfen, wo sie verblutete.« Er musste eine kurze Pause machen, um nicht die Fassung zu verlieren. »Martin, man hat sie weggeworfen wie Müll! Und jetzt Greta. Die hat man in der Unterführung an der Fürstenstraße gefunden, da hatte sie einen festen Platz, den sie jeden Abend aufsuchte. Eine andere Obdachlose hat sie heute Morgen gegen sieben Uhr gefunden und mich angerufen. Sie will nichts mit der Polizei zu tun haben, also habe ich deine Kollegen verständigt. Greta wurde ebenfalls erstochen, das habe ich vorhin aufschnappen können.«

      Glander hörte deutlich, dass Hartmann einen dicken Kloß im Hals hatte, als er fortfuhr. »Da stimmt doch was nicht! Ich werde das Gefühl nicht los, dass das weitergehen wird, dass da irgendeiner unterwegs ist, der was gegen diese Frauen hat. In der Umgebung wird ja auch schon gegen die neuen Nachbarn jenseits der Gleise Stimmung gemacht, ohne den leisesten Hauch von Mitgefühl. ›Dieses obdachlose Gesocks‹, so ist der Tenor. Die Unterführung, in der Greta lag, ist am Morgen zwar nicht so stark frequentiert wie der Tunnel am Bahnhof. Trotzdem bin ich mir sicher, dass heute Morgen Menschen an ihr vorbeigelaufen sind und nichts unternommen haben. Da schaut man doch lieber weg, wenn so eine Frau verblutet.« Er schnaubte verächtlich. »Dieses Land lernt seit siebzig Jahren nicht dazu. Martin, diese Greta hat nie irgendjemandem etwas getan, die meisten Obdachlosen werden ja nicht einmal wahrgenommen. Die wenigen, die man mit Einkaufswagen voller Plastiktüten herumziehen sieht, haben in der Regel psychische Probleme, so wie die alte Roswita. Den meisten ist ihre eigene Lage selbst schrecklich unangenehm. Vermutlich haben sich auch deswegen ein paar von ihnen in der Halle am Stadtrand niedergelassen.«

      Glander wusste, dass es keine genauen Zahlen gab. Man ging von 4000 bis 12 000 Obdachlosen in Berlin aus, darunter rund 1500 Frauen. Aber diese Zahlen waren wenig verlässlich. Die Dunkelziffer war immens. Besonders Frauen schämten sich oft ihrer prekären Lage. Eine Vielzahl von ihnen hatte jahrelang männliche Gewalt erfahren und mied daher die Hilfsangebote der öffentlichen Hand oder privater Träger. Denn die Einrichtungen für Obdachlose wurden überwiegend von Männern frequentiert.

      Rechnete man die Frauen dazu, die in sogenannten »ungesicherten Wohnverhältnissen« lebten, also bei jemandem unterkamen, bei dem sie sich in der Regel sexuell revanchieren mussten, war die Zahl der weiblichen Obdachlosen noch einmal erheblich höher. Die meisten wohnungslosen Menschen befanden sich in einer ausweglosen Situation. Vielen von ihnen fehlte eine ordentliche Ausbildung. Ohne festen Wohnsitz gab es keinen Arbeitsplatz, ohne Arbeitsplatz fand man keine Wohnung. Oftmals konnte man sich nach dem Verlust der Arbeitsstelle oder einer Scheidung seine Wohnung nicht mehr leisten. Hatte man erst einmal Mietschulden oder aus anderen Gründen einen Eintrag bei der Schufa, war es beinahe aussichtslos, eine neue Wohnung zu finden. Hinzu kam, dass viele Obdachlose unter posttraumatischen Belastungsstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen litten, jedoch in den seltensten Fällen von den Behörden entsprechende Hilfe erhielten. Selbst ein nächtlicher Platz in einer Notunterkunft war für manche keine Lösung. Viele Obdachlose scheuten solche Einrichtungen, weil dort keine Hunde und kein Alkoholkonsum erlaubt waren, und blieben auch bei hohen Minusgraden lieber auf der Straße. Wie beschämend war das alles für eine Wohlstandsgesellschaft!

      Hartmann unterbrach Glanders düsteren Gedankengang. »Die Hilfen reichen hinten und vorne nicht. Die Betroffenen brauchen ja nicht nur ein Bett und ein Dach über dem Kopf, sondern fast alle benötigen auch Hilfe bei dem ganzen Papierkram. Da werden Leistungen aus den absurdesten Gründen verweigert oder gestrichen. Und richtige Unterstützung, um wieder auf eigenen Beinen stehen zu können, kriegt niemand. Die Frauen brauchen ganz einfach jemanden, der ihnen unter die Arme greift. Denn die üblichen Dinge des Alltags stellen sie oft vor gewaltige Probleme. Sie sind oft depressiv oder leiden an anderen psychischen Erkrankungen. Und was denen dann teilweise auch noch auf der Straße passiert … Aber davon will natürlich keiner etwas wissen. Es ist einfach zum Kotzen, wie sich all die vermeintlichen Christen in unserem Land vor der Verantwortung drücken und in Kauf nehmen, dass direkt vor ihren Augen Menschen kaputtgehen!«

      Das gilt auch für mich, dachte Glander. Er war zwar kein gläubiger Christ, aber auch er sah lieber weg, wenn er Obdachlosen begegnete oder ihm jemand den Straßenfeger verkaufen wollte. Alles junge Männer, die doch Arbeit finden müssten, wenn sie sich nur ein bisschen bemühen würden. Aber wer stellt schon jemanden ein, der nicht mal eine Wohnadresse angeben kann!, schalt Glander sich in Gedanken selbst. Kurz entschlossen sagte er zu Thomas Hartmann: »In Ordnung, Thomas, ich muss noch etwas erledigen und bin gegen Mittag wieder im Eifelviertel. Dann melde ich mich bei dir. Ich brauche dann mehr Informationen. Und du wirst sicher wissen wollen, was dich das Ganze kostet.«

      Thomas Hartmann lachte ohne jede Spur von Humor. »Ich hätte nicht wenig Lust, der Polizei die Rechnung aufs Auge zu drücken. Aber egal, ich will Gerechtigkeit für diese Frauen.«

      Gerechtigkeit … Dieses Wort hatte Glander lange nicht mehr gehört.

      Keinen Kilometer Luftlinie entfernt sinnierte Lea vor sich hin. Sie wartete auf Talisker, der sein Geschäft in einem Dickicht neben dem BUGA-Wanderweg verrichtete, der zwischen Lichterfelde Süd und dem brandenburgischen Teltow verlief. Dieser Winter war selbst für Berliner Verhältnisse hart. Die letzten Wochen und Monate waren zwar nicht so bitterkalt wie manch andere Winter gewesen, dafür waren sie von einer klammen Düsternis geprägt, die selbst Lea aufs Gemüt geschlagen war, obwohl sie beileibe nicht zur Depressivität neigte. Es schien Lea, als sei die Sonne Anfang Dezember untergegangen und habe sich seitdem nicht wieder gezeigt. Vor ein paar Tagen waren die Temperaturen dann deutlich gefallen, und Lea war sich sicher, dass es bald schneien würde. Schnee im Februar brauchte wirklich niemand in Berlin. Einmal mehr käme der Winter um Wochen zu spät, das Weihnachtsfest war wie in so vielen vergangenen Jahren verregnet gewesen. Es waren wahrlich keine fröhlichen Gedanken, die auf den wunderbaren Tagesauftakt folgten.

      Lea machte sich Sorgen. Sie hätte Martin sofort von dem Anruf erzählen müssen. Jetzt wurde es immer schwieriger, und doch musste sie mit ihm darüber reden. Am Montag begann ihr neuer Job, und sie kannte sich: Verheimlichen konnte sie es nicht, und dann würde Martin es ihr zu Recht übel nehmen, dass sie ihm nichts von ihrem Auftrag erzählt hatte.

      Sweet Bejeesis! Sie hatte sich setzen müssen, so perplex war sie gewesen, als sie vierzehn Tage zuvor den Anruf von Connor Fraser erhalten hatte. Detective Chief Superintendent Fraser – er hatte nach seinem Studium eine Karriere bei der schottischen Kripo gemacht. Seine Stimme hatte sie unmittelbar auf eine Reise die Memory Lane hinuntergeschickt, direkt in ihre Vergangenheit. Sie hatte über zwanzig Jahre keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt und über zwei Jahre so gut wie gar nicht an ihn gedacht, doch die Erinnerungen waren sofort wieder so deutlich gewesen, als wäre alles erst vor Kurzem geschehen.

      Talisker brauchte ewig, schien es Lea. Aber ein Hund seiner Größe produzierte nun einmal nennenswerte Haufen, das dauerte seine Zeit. Vielleicht hatte er auch nur eine interessante Fährte in der Nase. Sie fröstelte und wollte nach Hause zu ihren Unterlagen, denn sie wusste genau, dass ihre Gedanken in gar keine gute Richtung liefen, wenn sie Zeit zum Nachdenken hatte.

      Connor war ihre erste große Liebe gewesen. Love at first sight. Ohne zu übertreiben, es hatte sich um Liebe auf den ersten Blick gehandelt. Und die war so heftig, haltlos und hitzig gewesen, wie man sie wohl nur in jungen Jahren erleben konnte, wenn einen das Leben noch nicht enttäuscht hatte, einem das Herz noch nicht gebrochen worden war und man noch nicht schmerzhaft hatte lernen müssen, sich vor den eigenen Gefühlen


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