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Wer die Lüge kennt. Beate VeraЧитать онлайн книгу.

Wer die Lüge kennt - Beate Vera


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hatte sie Anglistik und Germanistik gewählt, im Nebenfach hatte sie Psychologie belegt. Connor studierte bereits Computing Science im letzten Semester und war im Rugbyteam der Uni. Sie lief gerade in Begleitung einiger Kommilitoninnen den Flur der Sporthalle hinunter, als er den Kopf aus einer Umkleidekabine steckte und laut fluchend nach jemandem rief. Das Gefühl, das sie in jenem Moment durchflutete, war unbeschreiblich. Es schien ihr, als breite sich eine unglaublich große Portion Schlagsahne rasend schnell in ihr aus, wunderbar cremig geschlagen und mit reichlich Vanillezucker versetzt. Ihr Atem stockte, ihr Herz setzte einen Takt lang aus, und ihre Knie wurden weich, beinahe beängstigend. Dann folgte eine wohlig-warme Freude. Connor sah sie an und zwinkerte ihr zu, bevor die Tür wieder zuging.

      Als sie ihre Kommilitoninnen fragte, wer das gewesen sei, grinsten die sie kopfschüttelnd an und rieten ihr, die Finger von ihm zu lassen. Connor Fraser sei in der ganzen Universität bekannt wie ein bunter Hund, in erster Linie nicht etwa wegen seines Rugbyrekords – kein Student hatte damals mehr Dropkicks erzielt als »KC«, Kickin’ Connor Fraser –, sondern seiner Frauengeschichten wegen: Er sei der unumstrittene Campus-Casanova. Die Mädchen hatten Lea gewarnt, nicht einmal daran zu denken, sich auf ihn einzulassen, da er ihr nur das Herz brechen würde. Doch gegen ihre Gefühle war sie machtlos gewesen. Sie hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen und sich, bis über beide Ohren verliebt, in eine Liaison mit Connor gestürzt. Die Rechnung war vergleichsweise spät gekommen – aber sie war unweigerlich gekommen.

      Ihre letzte Begegnung mit Connor hatte tiefe, hässliche Spuren hinterlassen. Und Lea war sich ganz und gar nicht sicher, ob es eine kluge Entscheidung gewesen war, seiner Bitte um Unterstützung während der bevorstehenden Tagung nachzukommen. Sein Dolmetscher habe einen Unfall gehabt, und er brauche dringend einen Ersatz, hatte er erklärt. Er habe sofort an Lea gedacht, weil doch die Tagung in Berlin stattfinde. Nach einer kleinen Recherche habe er zu seiner freudigen Überraschung festgestellt, dass sie tatsächlich Dolmetscherin geworden war. Nun hoffe er, sie würde ihm und seinem Team aus der Patsche helfen, hatte er gesagt.

      Er besaß noch immer the gift of the gab: Connor Fraser hätte Kühltruhen an Eskimos verkaufen können – noch immer hatte er die Fähigkeit, Menschen für sich einzunehmen.

      Talisker kam aus dem Gebüsch getrottet und sah sie fragend an. Der Schottische Hirschhund hatte ein feines Gespür für ihre Stimmungen und trat ganz nah an sie heran. Lea beugte sich zu ihm hinunter – was allerdings bei seiner Größe keine große Bewegung war – und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Dann machten sich beide auf den Heimweg. Sie hatten es nicht allzu weit, denn Leas Grundstück grenzte an den ehemaligen Mauerstreifen, der nach dem Fall der Grenze zwischen Ost und West ein beliebtes Ausflugsziel am südlichen Berliner Stadtrand geworden war. Es war ganz erheblich zu früh für ihr gelegentliches Antidot Whisky, also würde sie einen starken Tee trinken und sich in ihre Unterlagen vertiefen, um nicht weiter über Vergangenes nachdenken zu müssen. Das wäre jetzt das Richtige. Am Montag würde sie Connor und die Vertreter seiner Delegation zu einem gemeinsamen Abendessen treffen. Sie würde sich wappnen müssen. Und sie musste Martin endlich von ihm erzählen. Heute Abend würde sie mit ihm reden.

      Der kalte Wind blies das tote Laub der Bäume am Rande der ungepflegten Rabatten über den asphaltierten Weg und ließ sie erneut frösteln.

       3

      Der Billigflieger aus Glasgow traf pünktlich um 13.30 Uhr in Schönefeld ein. Ein großer, auffallend gut aussehender Mann mittleren Alters wartete kurz nach der Landung am Gepäckband auf seine Reisetasche. Währenddessen las er auf seinem Smartphone die Nachricht des deutschen Providers über die Kosten für das mobile Telefonieren in Berlin. Als seine große Reisetasche auf dem Gepäckband erschien, hob er sie lässig vom Band, schulterte die passende Burberry-Umhängetasche aus Londonleder und ging zügig zum Ausgang. Connor Fraser sollte am 4. April 48 Jahre alt werden, das sah man ihm aber nicht an, denn er legte großen Wert auf sein Äußeres. Die meisten seiner Freunde in Schottland, auch die erheblich jüngeren, hatten bereits einen Bierbauch und waren in eher jämmerlicher bis würdeloser körperlicher Verfassung. Er würde sich niemals so gehen lassen – no, thank youse! Seit seiner Jugend unterwarf er sich einem rigiden Fitnessprogramm. Fraser trainierte täglich zwei Stunden mit Gewichten und im Schwimmbad seines exklusiven Fitnessstudios im Glasgower West End.

      Seit dem kurzen Telefonat hatte er nur wenige Male über E-Mail mit Penthesilea »Lea« Holtkamp kommuniziert, und er war gespannt darauf, sie wiederzusehen. Storm hieß sie seit ihrer Heirat. Doch sie war seit gut anderthalb Jahren verwitwet, wie er wusste.

      Fraser ließ am Taxistand galant einer älteren Dame den Vortritt und nahm den alten Daimler, der folgte. Er setzte sich auf die Rückbank mit den abgenutzten schwarzen Ledersitzen und genoss das satte Geräusch, das die schweren Mercedestüren machten, als er und der Fahrer sie zuzogen. Das klang nach Qualität, und auf Qualität legte Fraser allergrößten Wert.

      Oscar Wilde soll gesagt haben, Fußball sei eine von Raufbolden gespielte Gentleman-Sportart und Rugby eine von Gentlemen gespielte Raufbold-Sportart. Dieses Bonmot sagte Fraser ungemein zu, Rugby war sein Sport. Connor Fraser war ein kultivierter Mann, nach seinem IT-Studium hatte er eine Laufbahn beim schottischen CID, dem Criminal Investigation Department, eingeschlagen. Beamte, die sich auf dem neuen Feld der Computertechnologie auskannten, waren damals noch rar gewesen, und er hatte sich zügig einen Namen machen können. Zwei Jahre hatte er bei der Entwicklung einer neuen Falldatenbank mitgearbeitet, die die Basis für die heutige elektronische Datenverwaltung darstellte. Danach war seine Karriere steil bergauf gegangen, sodass er sich seit geraumer Zeit die Rosinen herauspicken konnte. Die erste Tagung der »Task Force for the Prevention of Violent Acts at Football Events” war so eine Rosine. Sie bot überdies endlich den Anlass, nach Berlin zu fliegen, in die Stadt, in der Lea seit zwei Jahrzehnten lebte.

      Fraser hatte Lea nicht vergessen können und sich schon vor vielen Jahren eingestehen müssen, dass ihm das niemals gelänge. Es war Zeit, mit der Vergangenheit aufzuräumen. Er musste Lea zeigen, dass sie endlich alles, was gewesen war, überwinden mussten. Connor Fraser, Glasgows erfolgreichster Kriminalermittler und seit vergangenem Jahr Träger der George Medal – er hatte sich zwischen eine Zeugin und die für sie bestimmte Kugel geworfen und dafür die zweithöchste zivile Auszeichnung des Vereinigten Königreichs und des Commonwealth erhalten –, lehnte sich zufrieden in die Polster des Daimlers zurück. Die Zeit war reif, Lea zurückzuholen.

      Thomas Hartmann hatte glücklicherweise keine Ahnung, wie recht er mit seiner Einschätzung von Kriminalhauptkommissar Rolf Prinz hatte. Das Spurensichern, der Abtransport des Leichnams, die Befragung der Anwohner – all das nahm eine Menge Zeit in Anspruch, und so stand Prinz noch gegen Mittag am Fundort der Leiche von Greta Langner herum und verkniff sich sein Gähnen nicht mehr. Lichterfelde Süd – das war nach Prinz’ Meinung der Arsch der Welt, nur noch übertroffen von Rudow und dem ganzen Ostteil der Hauptstadt. Als gebürtigem Reinickendorfer, der schon seit drei Jahrzehnten in Charlottenburg lebte, missfiel ihm jede Gegend von Berlin, die südlich des Kurfürstendamms und östlich des Schäfersees lag. Schon das an Charlottenburg grenzende Moabit war indiskutabel, bestenfalls ein paar Ecken direkt an der Spree waren seiner Ansicht nach noch bewohnbar.

      Jenseits der Bahntrasse vor Prinz lag ein sogenannter sozialer Brennpunkt, eine dieser Wohnsiloanlagen aus den Siebzigern. Diesseits der Trasse zog sich eine Reihe von Schrebergärten entlang, denen gegenüber eine Reihe eklektischer Ein- und Mehrfamilienhäuser stand, für deren optische Einheitlichkeit sich das Bauamt bei der Errichtung offensichtlich nicht interessiert hatte. Da hatte jeder bauen können, wie er wollte. Prinz wusste, dass sich am Ende der Fürstenstraße ein Stadtrandbahnhof befand und kurz dahinter Brandenburg begann. Grundgütiger, hier wollte man wahrlich nicht einmal seinen Hund begraben!

      Sein Assistent Harald Fellner trat an ihn heran. »Rolf, wir haben gar nichts. Niemand hat was gesehen, niemand hat was gehört. Die Tote war den Anwohnern durchaus vom Sehen bekannt. Seit sie vor ein paar Monaten in der Gegend auftauchte, soll sie sich jeden Abend um halb acht hier niedergelassen haben, bis sie dann zwei Stunden später wieder loszog. Sie fiel nie unangenehm auf. Und keiner der Anwohner, die wir bisher befragt haben, konnte oder wollte irgendwelche sachdienlichen Angaben machen.


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