Mörderisches Bamberg. Werner RosenzweigЧитать онлайн книгу.
Hagenkötter seinem Gast einen Stuhl an. „Können Sie sich vorstellen, warum wir Sie zu diesem Gespräch eingeladen haben?“
„Ich kann es nur vermuten. Geht es um das tote Mädchen in der Regnitz?“
Tina überfiel sofort ein Gefühl der Abneigung und des Misstrauens, als Dr. Sieber zu sprechen begann. Da saß ein eiskalter Typ vor ihnen, dem man besser mit einer Portion gesundem Misstrauen gegenübertrat. Allein sein äußeres Erscheinungsbild war schon grenzwertig. Sie schätzte ihn auf um die 50. Dunkelbraunes, gegeltes Haar mit Linksscheitel, der wie mit dem Lineal gezogen aussah. Verhärmtes Gesicht, das kein Lächeln zuließ. Stocksteife Haltung und dann erst noch die Kleidung: weißes Hemd unter braunem Anzugsjackett, das bestimmt schon 20 Jahre auf dem Buckel hatte. Die blaue Krawatte passte dazu wie die Faust aufs Auge. Seine weißen Socken, die in braunen Sandalen steckten, hatte er unter Hagenkötters Schreibtisch versteckt.
„Wie kommen Sie auf das tote Mädchen in der Regnitz?“, fragte Hagenkötter. „Ich habe sie mit keinem Wort erwähnt.“
„Wir vermissen eine Schülerin“, erklärte Dr. Sieber. „Sie ist im gleichen Alter. Also, ich meine das Alter des toten Mädchens. Natürlich vorausgesetzt, die Angaben in den Zeitungen stimmen.“
„Aber bei uns gemeldet haben Sie sich diesbezüglich nicht. Sie haben ausschließlich den Verlust der Schülerin angemerkt. Oder sehe ich das falsch?“
Dr. Sieber blieb eine Antwort schuldig. Stattdessen griff er in eine der Innentaschen seines Jacketts und knallte ein Hochglanzfoto auf den Tisch. „Das ist die Schülerin, die wir vermissen“, erklärte er. „Johanna. Johanna Sonnleitner.“
Hagenkötter und Tina erkannten sie sofort.
„Ich hielt es für besser, mich erst mit den Eltern der Schülerin zu beraten, bevor ich die Polizei informiere.“
„Ich denke, Sie sind uns eine Erklärung schuldig, Herr Dr. Sieber!“ Hagenkötters Aufforderung kam schneidend und bestimmt. „Ihr Foto zeigt wirklich das tote Mädchen, das in der Regnitz trieb.“
„Mein Gott!“ Der Schulleiter schlug theatralisch die Hände vor dem Gesicht zusammen, schaute aber weiter sehr kühl und unberührt drein. „Ich habe es geahnt. Die armen Eltern!“
„Wir warten auf Ihre Erklärung“, erinnerte ihn Tina.
„Ja, natürlich. Mein Gott, wo soll ich bloß beginnen?“
„Am besten am Anfang“, forderte ihn der Hauptkommissar auf.
„Also gut.“ Dr. Sieber reckte das Kinn und richtete seinen Blick starr auf das Foto, das er selbst mitgebracht hatte. „Ich versuche mich kurz zu fassen: Die Sonnleitners sind Österreicher. Vor einigen Jahren sind sie nach Strullendorf gezogen, weil … es ist eine private Angelegenheit der Familie, kann ich das offenlegen?“
„Ich würde es Ihnen dringend empfehlen“, brummte Hagenkötter.
„Nun. Ihre Tochter Johanna leidet … litt an einer seltenen Krankheit, dem Tourette-Syndrom. Das kam bei ihr in Schüben, tagelang ging es ihr gut und dann brach es wieder mit Macht aus ihr heraus: unkoordinierte Bewegungen, Verrenkungen, dazu wilde Laute … Das war auch der Grund, warum ihre Eltern Johanna an unsere Schule gegeben haben. Sie müssen wissen, unsere Schule …“
„Wir haben uns informiert“, schnitt ihm Hagenkötter das Wort ab. „Fahren Sie fort!“
Sieber zog nur kurz pikiert die Nase kraus. „Na gut. Johannas Eltern mussten wegen eines Trauerfalls in der Familie kürzlich zurück in die Heimat, nach Graz, wollten ihrer Tochter aber die Reisestrapazen und, ich vermute, auch die ganze mit einer Beerdigung verbundene Aufregung nicht zumuten. Deshalb fragten sie mich, ob wir uns in der Schule um Johanna kümmern, sie während ihrer Abwesenheit in Obhut nehmen könnten – trotz Schulferien.“
„Wann genau war das?“, wollte Hagenkötter wissen.
„Die Sonnleitners brachten Johanna am 19. August zurück zur Schule, hatten vor, am 23. nach Graz zu fahren und kamen vorgestern wieder zurück.“
„Warum schon am 19., wenn sie erst am 23. losfuhren?“, hakte Hagenkötter nach.
„Da müssen Sie die beiden schon selber fragen“, wich der Schulleiter aus. „Das entzieht sich meiner Kenntnis.“
„Sie sprachen gerade von Obhut, Herr Dr. Sieber“, schaltete sich Tina ein. „Können Sie sich erklären, wie, wann und vor allem warum Johanna Ihrer Obhut entglitt? Ich meine, das Mädchen wurde mehr durch Zufall am 26. August tot in der Regnitz aufgefunden. Ermordet wurde sie nach unseren Einschätzungen aber rund eine Woche davor, also um den 19. August herum, an dem Sie sie wieder in der Schule aufgenommen haben wollen. Ist Ihnen beziehungsweise Ihren Betreuern nicht aufgefallen, dass Johanna sofort abgängig war?“
Dr. Sieber sah Tina nur mit leicht gerunzelter Stirn an.
„Haben Sie sich keine Sorgen gemacht? Warum haben Sie nicht schon früher eine Vermisstenanzeige aufgegeben? War Ihnen egal, wo Johanna abgeblieben war?“ Tina war dieser geschniegelte und gebügelte Typ, wie man in Franken sagt, so unsympathisch, dass es ihr schwerfiel, ihre Abneigung zu verbergen. Ihm fehlte einfach jeglicher Hauch von Mitgefühl, er war kalt wie eine Hundeschnauze.
„Nein, natürlich ist uns bei den Santi-Figli-di-Dio kein einziger unserer Schutzbefohlenen egal. Lassen Sie mich erklären: Ich wähnte Johanna auf einer Exerzitienfahrt nach Gößweinstein. Ich muss zugeben, ein peinliches Beispiel schlechter Kommunikation: Pater Ferdinand, einer unserer Religionslehrer, kam vor ein paar Wochen mit diesem Vorschlag zu mir. Aber lassen Sie mich von Anfang an erzählen.“ Sieber setzte sich etwas bequemer zurecht und schlug die Beine übereinander. „Sehen Sie, wir haben selbst während der bayerischen Schulferien unsere Tore für unsere Schüler geöffnet. Das unterscheidet uns von anderen Schulen. Derzeit beherbergen wir rund 30 von ihnen in unseren Mauern – trotz Ferienzeit. Um ihnen auch etwas Urlaubsgefühle zu verschaffen, schlug Pater Ferdinand einen elftägigen Ausflug nach Gößweinstein in der Fränkischen Schweiz vor. Um die geistlichen Werte in den Vordergrund zu stellen, haben wir den Ausflug als Exerzitienfahrt mit religiösem Hintergrund deklariert. Ich war begeistert.“ Sein Tonfall und sein kaum vorhandenes Mienenspiel ließen etwas anderes vermuten. „Nur, dass Johanna auch daran teilnehmen sollte, da waren Pater Ferdinand und ich uns zunächst uneinig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Johanna, ihrer Krankheit wegen, an so einer Exkursion teilnehmen könnte. Da hätte es doch einen ständigen Betreuer gebraucht, der sich gekümmert hätte, sobald sie einen ihrer Anfälle … ich meine, in der Öffentlichkeit kann man sie doch so nicht allein lassen. Nicht machbar mit weit über 20 Exkusionsteilnehmern und nur einem Betreuer. Nun ja, einen Tag später kam sie heulend zu mir. Daraufhin erklärte sich eine andere Lehrkraft, Pater Friedhelm, bereit, die Truppe zu begleiten und sich ausschließlich um das Wohlergehen von Johanna zu kümmern. Er war sogar bereit, die Reisekosten aus eigener Tasche zu bezahlen. Ich war tief gerührt und gab schließlich mein Okay. Was ich bis letzten Montag nicht wusste, war, dass Johanna zur Abfahrt des Busses nicht erschienen war.“
„Nicht erschienen? An welchem Tag war das genau?“ Tina glaubte Sieber kein Wort.
„Das war am 21. August.“
„Und Ihre beiden Lehrkräfte, Pater Ferdinand und Pater Friedhelm“, übernahm Tinas Chef wieder die Wortführung, „haben Sie nicht darüber informiert, dass Johanna fehlte, und sind einfach ohne sie losgefahren?“ Auch Hagenkötter hatte das ungute Gefühl, dass der Schulleiter log oder zumindest einen Teil der Wahrheit unterschlug, konnte ihm aber im Moment nichts Gegenteiliges nachweisen.
„Ja und nein. Sie waren guten Glaubens, dass ich meine Zusage, Johanna mitfahren zu lassen, kurzfristig doch wieder zurückgenommen hätte. So sagte es mir Pater Ferdinand in einem Telefonat, welches ich vorgestern mit ihm geführt habe. Er wähnte Johanna hier an der Schule und war schockiert, als er von mir hörte, dass dies nicht der Fall sei. Sie kommen übrigens morgen am Vormittag mit den anderen Schülern wieder von ihrem Ausflug zurück. Dann können Sie sich gern bei den beiden rückversichern.“
„Sie