Wenn ich wär, wie ich nicht bin. Kirsten SteineckertЧитать онлайн книгу.
Pfund, die sie jetzt noch zu viel hat, da sieht er großzügig hinweg. Sie wird sich doch wohl ein bisschen zusammenreißen können, sonst muss sie sich nicht wundern ... Er ist ja schließlich auch nur ein Mann.
Mama wollte sich nicht weiter wundern, da hat sie eines Tages Kind und einen Koffer genommen und ist in eine andere Wohnung gezogen.
Da hat sich Papa aber gewundert.
LIEBE FÜR EINE MARK
Mein Vati hat mich sicher geliebt. Mit Zärtlichkeiten tat er sich aber sehr schwer. Nie sah ich, dass er meine Mutter nur einfach mal so in den Arm nahm, immer war es ein „Sich-tapsig-Annähern“, „Grobes- auf-den-Hintern tatschen“, zu lautes Gelächter über zotige Witze. Er liebte es, mich abzukitzeln. Aber sein Abkitzeln war meist sehr rüde. Ich fand es nach kurzer Zeit nicht mehr lustig, es tat weh. Ab dem Punkt schien es ihm aber immer mehr Spaß zu machen. Er kannte kein Maß und kein Einhalten, ich hasste es. So wurden Lachtränen oft zu echten.
Er konnte seine Zuneigung schlecht zeigen. Vor allem meine Mutter hatte darunter sehr zu leiden. Er liebte sie aufrichtig und konnte sie deshalb nie endgültig loslassen, auch nach der Scheidung nicht.
Seine Liebe mir gegenüber bewies er auf seine Art. Ich war noch nicht mal 4 Jahre alt, da spielten wir Kinder auf der Straße. Mit bunter Kreide bemalten wir die Geh- und Fahrwege. Damals musste man keine besondere Angst vor Autos haben, 1954 gab es wenige, im Osten noch weniger als im Westen, und die paar, die es gab, fuhren in dieser Nebenstraße selten.
Ich wusste, dass mein Vater zu einer bestimmten Zeit nach Hause kommen würde und sah immer wieder gespannt und sehnsüchtig in diese Richtung. Endlich hielt die Straßenbahn, er stieg aus, ich sprang auf und lief ihm voller Vorfreude entgegen.
Ich streckte ihm meine Arme entgegen, er lächelte, strich mir wuschelig über den Kopf, kramte in seinen Taschen und steckte mir ein Geldstück in die Hand. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit dem Geld anfangen sollte, nahm es aber dankbar entgegen.
Dass dieses komische Gefühl im Bauch Enttäuschung war, verstand ich erst später, als alles, wofür er einen belobigen oder bestrafen wollte, mit Geld vergolten wurde. Wenn man etwas falsch machte, musste man 10 oder sogar 20 Pfennige abgeben. Ein nicht aufgehängtes Handtuch, schmutzige Schuhe, beim Einkauf etwas vergessen: es wurde abgerechnet. Für eine gute Zensur oder fürs Auto waschen bekam man etwas.
Als ich ihn ab meinem 12. Lebensjahr fast 30 Jahre lang nicht sehen durfte - weil seine neue Frau es ihm verboten hatte und er sich dem beugte - ersparten wir uns gegenseitig viel Geld.
SCHÖNHAUSER ALLEE
Seit meinem 10. Lebensjahr wohnten wir in Berlin in der Schönhauser Allee. Die Wohnungen hatten wunderschöne große Zimmer mit Stuck an der Decke und, was besonders wichtig war in diesen Zeiten, ein Bad innerhalb der Wohnung. Es gab auch hier Hinterhöfe, dafür aber das volle Leben vorne raus. Da fuhren nicht nur die U-Bahn direkt vor unserem Fenster vorbei, sondern auch die Straßenbahn und Autos in zweierlei Richtungen.
In der zweiten Etage lebten wir in der ersten Zeit mit dem zweiten Mann meiner Mutter und seiner Tochter Christine zusammen. Nachdem er nach 3 Jahren ausgezogen war und Christine später nachholte, blieben meine Mutter und ich in der schönen Altbauwohnung zurück.
Ich wohnte in einem winzigen Kämmerchen, das direkt von der Küche abging. Es war das ehemalige Dienstbotenzimmer mit dazugehörigem Dienstbotenaufgang, der sich als außerordentlich praktisch für heimliche Rendezvous herausstellte.
Wenn meine Mutter nicht unbedingt bemerken sollte, dass mein Freund länger blieb als erlaubt, erklomm er die herrliche Wendeltreppe, die vom Hof direkt in die Küche führte, und so konnten wir unbemerkt miteinander die Zeit verbringen. Bis wir hörten, dass vorne die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, dann hatte er gerade noch genug Zeit, um über denselben Weg zu verschwinden.
Gerne schlief ich aber auch bei meiner Mutter, deren Schlafzimmer direkt an der Straße lag. In der Nacht sahen wir die Lichter der Autos über die Schlafzimmerdecke laufen. An den Krach hatten wir uns gewöhnt. Damals ahnte man noch nichts von Langzeithörschäden. Außerdem war der Autoverkehr lange nicht so schlimm wie heute.
So lagen wir oft nachts nebeneinander und konnten uns alles erzählen. Die intimsten Geheimnisse vertrauten wir uns an, stundenlang war sie bereit, mir zuzuhören, das eine oder andere zu- oder abzuraten und kurz vor dem Einschlafen legte sie ihre Hand in die Mitte des großen Bettes, so dass ich mein Gesicht darauf legen konnte. Das gab mir das Gefühl der Geborgenheit und des Verstandenseins, was mich aber nicht davon abhielt, meine Pubertät voll auszuleben, alles besser wissen zu wollen, und ungeduldiger mit meiner Mutter zu sein, als sie es mit mir war.
Aber immer, wenn ich wieder mal auf die Nase gefallen war, wusste ich, wer mir beim Aufstehen helfen würde. Immer wieder meine Mutter.
SCHWÄNZEN
So ab der 2. Klasse verspürte ich – wie Millionen anderer Kinder – nicht immer Lust darauf, jeden Morgen in die Schule zu gehen. So kam auch ich, wie Generationen vor und nach mir, auf die glorreiche Idee, Bauch-, Kopf- oder sonstige Schmerzen zu erfinden. Morgens gejammert half für den ganzen Tag.
Natürlich durfte ich zu Hause bleiben und als erstes war Fiebermessen dran. Was wenig brachte, da ich erst mit 12 Jahren herausfand, dass neben einem geheizten Ofen Fieber zu messen sehr viel sicherer war. In den Jahren bis dahin musste ich mit Bauchschmerzen mein Glück versuchen. Zu meinem Leidwesen glaubte mir meine Mutter nicht immer. Manchmal hat sie Gnade vor Recht ergehen lassen und ich durfte zu Hause bleiben, das aber nur, wenn keine wichtigen Arbeiten anstanden.
Aber meine kluge Mutter hatte eine wunderbare Idee. Sie schenkte mir einen Tag im Jahr, an dem ich ohne Ausreden zu Hause bleiben dürfte. Einfach so. Ab diesem Zeitpunkt überlegte ich jedes Mal, wenn mich die Lust am Schwänzen überkam, ob ich diesen Tag nehmen solle. Aber ... Was wäre, wenn dann noch so ein Tag käme, an dem die Lust aufs Schwänzen viel größer wäre? Und dann wäre der Tag weg! Nein, so hob ich ihn mir jedes Mal wieder auf. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je genutzt zu haben. Es hätte ja immer noch ein besserer Tag kommen können.
Mein Mann bot mir vor 2 Jahren an, dass er mir einen großen ganz besonderen Wunsch erfüllen wolle. Mir fiel bisher keiner ein, der so besonders wäre, dass ich ihn einlösen wollte. Dann wäre er ja weg und vielleicht käme dann noch irgendein anderer, viel wichtigerer daher. So blieb er bisher unerfüllt.
Manchmal denke ich, vor einigen Lieben hätte eine Fee kommen und mir Einhalt gebieten sollen. Mit der Aussicht, es käme noch eine nächste, viel bessere, größere Liebe. Ich hätte mir so manchen Irrtum und Kummer ersparen können. Andererseits, wenn ich mich wie als Kind verhalten und immer abgewartet hätte, würde ich heute noch auf die Liebe warten.
Und das wäre verdammt schade, schade auch um manchen gelebten Irrtum.
MEINE GROßELTERN
Meine Großmutter war eine sehr resolute Frau. Mit ihrem grauen Haarkranz, kräftigen Hüften und imponierendem Busen wirkte sie in der kleinen Zweizimmerwohnung noch gewaltiger, als sie war. Sie sprach immer sehr laut, was an der Schwerhörigkeit meines Großvaters lag. Er war klein und schmächtig, wirkte fast demütig neben meiner Großmutter. Seine Stirn war immer in Falten gelegt, was seinem Gesicht einen erstaunten, fast erschrockenen Ausdruck verlieh.
Beeindruckend waren seine mächtig abstehenden Ohren, die er einem entgegenstreckte, wenn er – wieder einmal – kein Wort verstanden hatte. Aber meist machte er sich gar nicht mehr die Mühe, dem Unverstandenen nachzuforschen, er nickte der Einfachheit halber oder brummelte freundlich etwas Zustimmendes vor sich hin. Das wiederum rief den Unmut meiner Großmutter hervor, die nach 50 gemeinsam verlebten Jahren ihren Mann besser kannte, als sich selbst.
Kennengelernt hatten sie sich mit 16. Großvater war ihr Erster und – wie sie betonte – Letzter. Mit 18