Wenn ich wär, wie ich nicht bin. Kirsten SteineckertЧитать онлайн книгу.
deutschen Soldaten. Ich habe nie gehört, dass er das in irgendeiner Weise bedauert hätte. So lebten meine Großeltern ein Leben, in dem sich nur die Jahreszeiten änderten. Jeden Morgen, nachdem Großvater seine Mehlsuppe gegessen hatte, ging er zur Arbeit, begleitet von den wohlwollend ermahnenden, lautstarken Worten meiner Großmutter.
Er solle nicht vergessen, die Brote aufzuessen, vorsichtig über die neue Kreuzung zu gehen und die Mütze nicht wieder liegen zu lassen. Wenn er weg war, räumte Großmutter die Wohnung auf, schwatzte zwischendurch ausgiebig mit der Nachbarin über die Nachbarn, ging einkaufen und kochte für den Abend vor.
Punkt 15 Uhr trank sie eine Tasse Kaffee, legte danach die Schürze ab und zog sich eines der beiden festlichen Kleider an, die sie besaß, beide großgeblümt, aus leichtem Stoff in hellen Farben. Dazu eine Bernsteinkette, nur sonntags die mit den Perlen. Sorgfältig kämmte sie ihr Haar und wirkte ab 15.30 Uhr um Jahre jünger. Immer wieder sah sie kurz in den Spiegel, öffnete dann das Fenster, legte ein Kissen auf die Fensterbank und blickte erwartungsvoll die Straße entlang, als würde etwas ganz Ungewöhnliches geschehen.
Punkt 16 Uhr bog Großvater um die Ecke und sah gespannt nach oben. In diesem Moment jubelte Großmutter ihm ein, durch heftiges Winken begleitetes: »Huhu!« entgegen, das Großvater mit einem kurzen Heben der Hand beantwortete. Dann eilte sie zur Wohnungstür, um seine Schritte auf der Treppe zu verfolgen, ihn begeistert in die Arme zu schließen, als hätte sie ihn wochenlang nicht gesehen und auch nicht mehr mit seiner Rückkehr gerechnet. Undenkbar für uns, dass sie einen anderen Mann auch nur angesehen hätte.
Erst auf ihrem Sterbebett erwähnte sie einen Offizier, mit dem sie einmal spazieren gegangen sei. Natürlich war da nichts weiter, aber ein ruhiges Gewissen habe sie erst jetzt, wo sie es endlich gebeichtet habe und auf Großvaters Vergebung hoffe. Sie hatte viel leiser gesprochen als sonst. Großvater schwieg und lächelte, wie er meist lächelte, wenn er nichts verstanden hatte.
Nach Großmutters Tod hatte Großvater plötzlich viel Zeit. Er kümmerte sich nur noch um seinen Garten, der am Rande der kleinen Stadt lag. Jeden Tag ging er in die Laubenkolonie, versorgte seine Blumen; und bog Punkt 16 Uhr um die Ecke seiner Straße.
Immer noch den Kopf erwartungsvoll nach oben gerichtet.
Familientisch
Noch einmal am Familientisch
mit Vaters Sonntagsbraten
er hat von seiner Weihnachtsgans
nie das Rezept verraten.
Noch einmal satt mit dem Glas Wein
in Mamas Sessel fallen
willkommen und verstanden sein
der schönste Platz von allen.
Es lebe der Familientisch
er soll noch lang bestehn
weil immer einer vor der Zeit
aufstehn muss und gehn.
MEINE GROßELTERN II
Meine Großeltern hielten es für selbstverständlich, dass die Familie sie regelmäßig besuchte. So mussten wir sonntags zum Kuchenessen und Doppelkopfspielen antreten: »Oh, bist du groß geworden! Bist du auch brav?!«, riefen sie jedes Mal fast wie aus einem Munde und umarmten mich heftig.
Über die Welt wurde da nicht groß geredet. Meine Mutter versuchte manchmal von ihrer Arbeit zu erzählen, von den bedrohlichen Geschehnissen in der Welt, die doch alle beschäftigten, oder wie wichtig es ist, sich für den Frieden einzusetzen. Meine Großeltern schauten sie nur gelangweilt an, zumal sie der Meinung waren, Frauen sollten sich nicht mit diesen Dingen beschäftigen. Gut kochen können und lieb zum Ehemann sein, das genügte voll auf.
»Ja, Krieg ist schlimm«, klagte meine Großmutter einmal. »Wir haben auch Opfer für den Krieg gebracht: jeden Monat fünfundzwanzig Mark für einen Bauernhof in der Ukraine, den wir dann nie gesehen haben!« Das Gesicht meiner Mutter verzog sich.
»Und was wäre aus den Bauern geworden, die vorher ihr Zuhause dort hatten?« Meine Großmutter winkte ab »Na, die kannten wir ja gar nicht, hätten die auch nie zu sehen bekommen.«
Meine Mutter schaute sie einen kurzen Augenblick unverwandt an, schluckte zweimal, sah den drohenden Blick ihres Mannes, der kein Wort gegen seine Eltern duldete, es sei denn, es kam von ihm.
Dann wandte sie sich an meinen Großvater und fragte ihn so freundlich wie möglich: »Was machen denn deine grünen Bohnen dieses Jahr? Sofort sprang meine Großmutter auf. Und noch bevor mein Großvater richtig antworten konnte, kam sie mit einer Tüte grüner Bohnen aus der Küche.
»Hier, Mädel, sowas gibt es nicht zu kaufen! Koch deinem Mann mal was Schönes«, und dann mit liebevollem Blick zum Großvater, »Gut, dass wir wenigstens unseren Garten haben!«
Wir sind an diesem Sonntag nicht mehr lange geblieben.
EINE FRANZÖSIN
Ich war etwa 11, als ich wieder einmal einen Sommer mit meiner Mutter im Schriftstellerheim am Schwielowsee verbrachte. Ich wollte mit meiner Freundin Ilona in diesem Jahr etwas ganz Besonderes unternehmen. Vielleicht wollte ich auch nur mein schauspielerisches Talent ausloten, jedenfalls beschloss ich bei einem Spaziergang die Chaussee entlang spontan als Französin aufzutreten. Innerhalb der Villa im Schriftstellerheim, vor all den Leuten, die mich seit Jahren kannten, ging das schlecht. Aber man könnte ja außerhalb des Grundstückes fremden Leuten begegnen.
Es dauerte auch nicht lange und unser Flanieren stieß auf die Neugier ebenso gelangweilter junger Motorradfahrer. Die hielten neben uns und wollten ein Gespräch anfangen.
Glücklicherweise sahen wir etwas älter aus und so glaubten sie meine Geschichte, dass ich, eine Französin, gerade frisch in Deutschland angekommen sei. Ilona erstarrte vor Schreck und ich hatte Angst, sie könnte uns alles vermasseln mit – was weiß ich – haltlosem Gekicher oder anderen verräterischen Äußerungen, so erklärte ich spontan, dass meine Freundin stumm sei und beeindruckte die Jungs mit meinem charmanten Akzent, den ich früher schon immer mal wieder ausprobiert hatte.
Wir verabschiedeten uns schnell, versprachen aber uns am nächsten Tag an gleicher Stelle wieder einzufinden. Ilona erklärte mich für völlig verrückt und ich ihr, dass sie morgen unbedingt wieder mitkommen müsse. Sie dürfe auch wieder schweigen. So zogen wir am nächsten Tag los.
Ich weiß nicht mehr, worüber wir uns unterhielten. Wahrscheinlich habe ich von meiner fantastischen französischen Heimat geschwärmt. Ilona verdrehte ab und zu französisch die Augen. Plötzlich hielt ein weiterer Motorradfahrer neben uns und verkündete, dass er eine tolle Überraschung für uns hätte. Französische Landsleute, mit denen wir uns am nächsten Tag treffen könnten. Tolle Überraschung. Ich wurde blass, versprach aber zu kommen.
Natürlich erschienen wir am nächsten Tag nicht. Stattdessen wagte sich einer der Jungs auf das Gelände des Schriftstellerheims und fragte nach der Französin. Keiner konnte ihm weiterhelfen. In dem Moment trat ich aus der Tür. Er sprach mich an, aber ich tat höchst erstaunt und behauptete, ihn noch nie gesehen zu haben.
»Ach, du meinst vielleicht meine französische Zwillingsschwester!?« Und ich erzählte ihm eine aufregende Geschichte von den Zwillingen, die als Babys getrennt wurden. Die eine, die mit dem Vater nach Frankreich ging und ich, die ich mit der Mutter in Deutschland blieb. Er schien nicht sehr überzeugt zu sein.
Meine Mutter war es, die mich mal wieder rettete. Eigentlich wollte mich ja unser Heimleiter etwas auflaufen lassen und sich unwissend stellen, aber weder er, noch meine Mutter, brachten es letztendlich übers Herz, mich hängen zu lassen. So kamen sie dazu und bestätigten meine abenteuerliche Geschichte.
Dann wurde der arme Junge des Hofes verwiesen und ich war vor einer Totalblamage gerettet.