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Delikatessen für die Sinne (Band 1). Jutta DethlefsenЧитать онлайн книгу.

Delikatessen für die Sinne (Band 1) - Jutta Dethlefsen


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gefallen, die Verschlüsse aufgesprungen. Johlend hatten die beiden Jungen Hefte und Bücher im Schnee verstreut. Beim Einsammeln konnte Klara vor Tränen kaum noch etwas erkennen.

      Bis zum ersten Winter nach der Einschulung war sie gerne in die Schule gegangen, dann hatten die beiden Jungen begonnen, sie zu quälen. Sie wurden immer bösartiger, hatten gedroht, ihr die Gurgel durchzuschneiden, falls sie petzen sollte. Der kleinere der beiden führte dabei demonstrativ die flache Hand an seinem Hals entlang.

      Bis zum nächsten Tag forderten sie die Herausgabe von Klaras Weihnachtsgeschenk. Den lange ersehnten Puppenwagen, für dessen Anschaffung Mutter zusätzliche Klavierstunden gegeben hatte, sollte sie hergeben. Die Tränen waren über Gesicht und Hals hinunter in den kratzigen Winterpullover gelaufen.

      Sie beschleunigte ihre Schritte, gleich war sie zu Hause, gleich war sie in Sicherheit, jedenfalls für heute.

      Daheim war niemand. Ein Zettel lag auf dem Küchentisch: »Krümel, ich bin gleich zurück.« Nur Christopher, ihr drei Jahre älterer Bruder, nannte sie so. Er hatte versprochen, ihr irgendwann zu verraten warum. Sie hatte es nie erfahren. Es klang so liebevoll und zärtlich, wenn Christopher Krümel zu ihr sagte. Dann fühlte sie sich geliebt und geborgen.

      Mit dem Pulloverärmel fuhr Klara sich über das Gesicht. Sie ging zu ihrem Puppenwagen, nahm Puppe und Kissen heraus und zog den leeren Wagen auf den Hof unter den Dachüberstand. Da kam ihr Bruder auf seinem alten Fahrrad mit beängstigend quietschenden Bremsen um die Hofecke gefahren. Achtlos warf er das Rad gegen die Hauswand, stopfte seine Hände in die Hosentaschen und schlenderte mit besorgtem Blick auf Klara zu.

      »Krümel, was machst du da? Warum stellst du den Puppenwagen auf den Hof? Es wird gleich schneien.« Er fasste Klara bei den Schultern und schaute sie fragend an.

      Klara schluckte hilflos. Sie musste schon wieder heulen.

      Christopher ertrug es nicht, seine kleine Schwester weinen zu sehen. Als er selbst erst vier Jahre alt war, hatte ihr Babyweinen ihn schon traurig gestimmt.

      Immer und immer wieder hatte er sie dann gestreichelt und zärtlich auf sie eingeredet. In einer Nacht wurde er von der Mutter auf dem dunklen Flur gefunden, auf dem Fußboden schlafend, den Oberkörper gegen die Wand gelehnt. Klara selig schlummernd in seinem Arm.

      »Komm Krümel, wir bringen den Puppenwagen ins Haus zurück. Deine Puppe Ulrike wird ganz traurig sein, wo soll sie denn schlafen?«, fragte Christopher. Klara schmiegte sich fest an ihren Bruder. Sie war so verzweifelt! Sie durfte ja nichts verraten. Die Angst schüttelte ihren schmächtigen Körper so sehr, dass ihr Bruder sie in den Armen zu wiegen begann wie damals, als sie noch ein Baby war..

      Dann fasste er nach Klaras Hand. Mit der anderen zog er den Puppenwagen ins Haus.

      Sie gingen in die Küche, Klara setzte sich an den Tisch. Christopher wärmte die Suppe auf, die Mutter für sie vorbereitet hatte. Wochentags gab es immer Suppe oder einen anderen Eintopf. Mit dem Aufwärmen kam Christopher gut zurecht und diese Mahlzeiten streckten das karge Haushaltsbudget. Die alleinerziehende Mutter hatte mit erstaunlicher Fantasie Suppenrezepte entwickelt. Es schmeckte den beiden köstlich und immer ein bisschen anders.

      Der Nachtisch war eine tägliche, aufregende Überraschung. Er befand sich in einer bestimmten, fest verschlossenen Schale im Kühlschrank.

      Einmal kalte Pfannkuchen, ein anderes Mal Schokopudding oder Joghurt. Manchmal frisches Obst oder selbst gebackene Kekse. Um den ersten eines Monats war bisweilen eine halbe Tafel Schokolade in der Schale. Aber erst gab es die Suppe. Diesbezüglich war der Bruder unerbittlich verantwortungsbewusst.

      Dieses Mittagsritual gehörte nur Klara und Christopher. Als Klara noch jünger war, hätte sie gerne gegen die Regel mit dem Nachtisch verstoßen. Der Bruder konnte ihr glaubhaft erklären, dass der Papa aus dem Himmel alles sehen konnte und es ihn ganz traurig stimmen würde.

      Nach dem Essen hatte Klara sich beruhigt. Sie durchdachte die Forderung der Jungen und hoffte, eine Lösung zu finden. Jedenfalls durfte sie ihrem Bruder nichts von der Bedrohung erzählen. Womöglich würden die bösen Jungen ihm sonst auch die Kehle durchschneiden. Sie musste versuchen, ihn zu schützen.

      Es fiel ihr schwer, sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren. Immer wieder schweiften die Gedanken ab und kreisten um den kommenden Tag.

      Im Hof lärmten Christopher und ein Nachbarjunge. Sie ging zum Fenster, drückte ihre Nase gegen die Glasscheibe und schaute eine Weile deren Ballspiel zu.

      Meistens hielt ihr Bruder sich in ihrer Nähe auf. Stets war er zur Stelle, wenn sie ihn brauchte. Nur in der Schule und auf dem Hin- und Rückweg war das nicht immer möglich. Demnächst musste er ohnehin die Schule wechseln, seine Grundschulzeit war vorüber. Daran mochte Klara gar nicht denken.

      Am nächsten Tag hatte Christopher zwei Stunden später Schulschluss als sie. Auf dem Schulgelände durfte sie sich nicht aufhalten, um auf ihn zu warten. Ängstlich machte sie sich auf den Heimweg.

      Nach dem Passieren der mannshohen Hecke von Lehrer Köpels Garten wäre sie gerettet, aber noch hatte sie den Weg vor sich. Die Hecke wirkte heute besonders bedrohlich. Lange Schatten fielen auf den Gehweg. In der Biegung, tief in die Hecke gedrückt, lauerten sie meistens. Angst lähmte ihre Schritte. Sie schaute angestrengt, konnte aber niemanden sehen. Endlich war sie am Ende der Hecke auf dem Marktplatz angekommen. Gerade wollte sie erleichtert aufatmen, da sah sie die beiden dort. Ein dritter Junge, kleiner und schmächtiger, stand bei ihnen. Sie hinderten ihn am Weitergehen, stießen ihn zwischen sich hin und her.

      Klara nahm allen Mut zusammen und ging, ohne ihren Schritt zu beschleunigen, an ihnen vorbei. Das Blut pochte in den Schläfen, deutlich hörte sie ihren Herzschlag. Die Jungen schauten gelangweilt zu ihr herüber, zeigten heute aber kein weiteres Interesse.

      In der folgenden Nacht stand sie, wie so häufig, mit ihrem Kissen unter dem Arm vor dem Bett ihres Bruders. Sie hatte schlecht geträumt. Schweigend schlug Christopher die Bettdecke zurück und legte seinen linken Arm so, dass sie sich in die warme, sichere Armbeuge kuscheln konnte.

      Erst Jahre später erfuhr sie, dass ihr Bruder und ein paar Freunde dafür gesorgt hatten, dass die großen Jungen sie endlich in Ruhe ließen. Christopher hatte gespürt, dass sie etwas bedrückte. Er hatte alles herausbekommen, aber geschwiegen. Christoper redete nie viel.

      Es geschah Jahre später, am zwanzigsten August, dem siebzehnten Geburtstag von Christopher. Mutter hatte Mohrenköpfe spendiert. Ihr Bruder durfte zwei Freunde einladen und Klara eine Freundin. Es wurde ein wunderschöner Tag. Sie waren zum Fluss geschlendert, hatten Steine hüpfen lassen. Heute hatten die Jungen die Mädchen nicht spüren lassen, dass sie für sie nur alberne Gänse waren. So jedenfalls drückten sich derzeit die Jungen in Klaras Klasse aus.

      Nach dem Abendbrot und dem Heimgang der Freunde erlaubte Mutter ihren Kindern noch zwei weitere Stunden, um den Tag ausklingen zu lassen.

      Klara und Christopher waren in den kleinen Primelwald gegangen, der sich gleich an ihren Garten anschloss. Klara hatte dem Wäldchen den Namen gegeben, weil sie dort vor Jahren eine himmelblaue Primel entdeckt hatte. Im Jahr darauf war die Blume verschwunden.

      Die glutroten Strahlen der untergehenden Sonne durchdrangen vereinzelt das dichte Blattwerk, um auf dem Waldboden ein farbenprächtiges Lichtermeer zu zeichnen. Christopher nahm Klaras Hand fest in seine, wusste er doch, dass sie sich leicht fürchtete. Gleichzeitig genoss sie es, wenn eine Situation aufregend, gruselig, schön und spannend war, das Herz schneller klopfen ließ und Christian sie beschützend an die Hand nahm.

      Nur das Knacken dünner Äste unter ihren Füßen war zu hören.

      Klaras linker Fuß verfing sich in der Wurzel eines umgestürzten Baumes. Sie stolperte und fiel so unglücklich, dass die Bluse über ihrer Brust zerriss, Zweige hinterließen blutige Striemen. Sekundenlang starrte Chris untätig auf sie herab, bevor er ihr half aufzustehen.

      Seine Hände verbrannten ihre Haut. Sein Blick verriet Ungläubigkeit. Ohnmächtig die Berührung zu lösen, schaute er sie erschrocken an. Da umschlang Klara ganz fest seinen Nacken, so wie sie es schon tausendmal zuvor getan hatte


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