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Delikatessen für die Sinne (Band 2). Jutta DethlefsenЧитать онлайн книгу.

Delikatessen für die Sinne (Band 2) - Jutta Dethlefsen


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keine Antworten gegeben. Die Hände ergeben im Schoß gefaltet schauten seine Augen etwas, das sich ihren Blicken entzog.

      Vater wurde 91 Jahre. Eine Antwort war er ihr bis zu seinem Tod schuldig geblieben. Auch später in der Einrichtung fixierte er schweigend irgendeinen nicht vorhandenen Fleck auf der Tapete, sobald sie Fragen stellte. Er begab sich mental an einen fremden Ort, ohne ihr Zutritt zu gewähren. Dabei hätte allein er den Knoten des Taus lösen können, das ihr die Brust verschnürte und nachts für Albträume sorgte.

      Wie gut, dass sie Enno hatte! Er akzeptierte sie mit ihren Ängsten. Das war bestimmt nicht immer leicht für ihn. Sie hatte jede Therapie verweigert und irgendwann hob er nur noch resigniert die Schultern.

      Sie erinnerte sich gut daran, wie schweigsam der Vater wurde und wie sich seine Mine verfinsterte, sobald sie als Kind und Heranwachsende nach der Mutter fragte.

      Einmal gab es diesen Streit mit ihrem Vater. Wieder war sie mit Fragen zu ihm gekommen. Er hatte sie angebrüllt: »Mira, Mira, verdammt, lass endlich die Vergangenheit ruhen. Zum letzten Mal, ich verbiete es dir, mich jemals wieder zu fragen!« Er hatte den Arm gehoben, als wenn er sie schlagen wollte, ließ ihn aber erschöpft sinken und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Seine Schultern bebten in lautlosem Schluchzen.

      Sie war sehr erschrocken, hatte lange Zeit nicht mehr zu fragen gewagt. So kannte sie ihren Vater nicht. Nie hatte er im Zorn die Hand gegen sie erhoben. Er war ein stiller, nicht besonders zärtlicher Vater, aber hilfsbereit und gerecht. Die Tür zu seinem Herzen hatte sie jedoch nie wirklich öffnen können.

      An diesem Tag war für sie etwas unwiederbringlich verloren gegangen.

      Sie verließ das Haus, ging in das entfernte Berlin und nahm eine Arbeit auf.

      Der Kontakt zum Vater beschränkte sich nach ihrem Auszug auf zwei Besuche von ihm in Berlin, einem Weihnachtsbrief im Jahr und ihren gelegentlichen Anrufen.

      Die Inhalte der Kommunikation waren verkrampft und leer.

      In den Räumen, in die sie nun zurückgekehrt war, verspürte sie keine Vertrautheit, nur Angst. Das Haus barg für sie ein dunkles Geheimnis, das mit ihrer Mutter zusammenhängen musste.

      Für einen Moment schob sie erfolgreich die Erinnerungen beiseite, stieß die Haustür auf und stapfte durch das kniehohe Gras zum Bootshaus hinunter. Dornengestrüpp zerriss ihr das Kleid, hinterließ blutende Striemen auf ihren nackten Beinen. Sie spürte sie nicht. Das Bootshaus war verschlossen. Wo war der Schlüssel hingekommen? Sie rieb mit dem Handrücken über die verdreckte Fensterscheibe, um besser hineinsehen zu können.

      Drinnen behinderten Spinnweben die Sicht, aber einige Einrichtungsgegenstände aus ihrer Kindheit waren zu erkennen.

      Sie setzte sich auf eine Stufe zum Bootshaus und schloss die Augen. Wieder kamen die Erinnerungen. Sie sah ihre Mutter mit ihren braunen, gutmütigen Augen und dem vertrauten Lächeln im Gesicht aus dem Gemüsegarten kommen. Sie, Mira saß auf der Schaukel. Mutter war groß und kräftig. Nun stellte sie die Schüssel mit dem Gemüse ins Gras und gab der Schaukel einen kräftigen Stoß. Mira jauchzte und kreischte. Mutter hob die Schüssel wieder auf und Mira schaute ihr nach, wie sie mit wehenden Röcken in der Küche verschwand.

      Abends, wenn der Vater nach Hause kam, lag Mira schon im Bett. Dann stiegen traurige, melancholische Klavierklänge wie Perlen bis zu ihr hinauf in das Zimmer. Mutter spielte für den Vater. Er liebte ihr Klavierspiel, aber er lobte sie nie. Jedenfalls hatte Mira das niemals vernommen. Manchmal waren auch andere Töne zu hören. Dann stritten sie miteinander. Meistens endete es mit Mutters Schluchzen.

      Mira hatte gelauscht, aber den Inhalt des Streits nie verstanden. Sie zog sich die Bettdecke über den Kopf. Für Stunden konnte sie danach nicht einschlafen.

      Eines Tages, Mira war etwa vier Jahre alt, erzählte der Vater ihr am Frühstückstisch, dass Mutter in der Nacht gestorben wäre und man sie schon abgeholt hätte. Sie sollte auf dem Friedhof in der entfernten Stadt beerdigt werden. Er erklärte ihr rücksichtslos mit wenigen Worten den Vorgang einer Beerdigung und drückte sie kurz an sich. Seine Augen wirkten leblos, wie die eines Blinden.

      Für Mira war es unfassbar zu hören, dass man ihre geliebte Mutter in der Erde verbuddeln würde. Sie war hilflos weinend auf seinen Schoß geklettert, verkrampfte die kleinen Hände in seiner Weste und flehte: »Papa, Papa, sie dürfen keinen Sand auf Mama schütten, das mag sie nicht. Du weißt doch, im Sommer unten am See schimpfte sie ständig über den Sand, der ihr bis in den Badeanzug kroch.« Die Tränen erstickten die weiteren Worte. Endlich stammelte sie: »Wir beide haben sie ausgelacht und sind mit Sand in den Händen hinter ihr hergelaufen.« Erneut überkam sie ein Weinkrampf, dann flüsterte sie nur noch einmal: »Papa, du darfst nicht zulassen, dass sie Sand auf sie schütten! Sie mag es nicht.«

      Es hatte keine Beerdigungsfeier und keinen Friedhofsbesuch gegeben. Später hatte der Vater kurz erwähnt, es hätte auf Mutters Wunsch denn doch eine Seebestattung gegeben. Das war gelogen, das spürte sie.

      Ihre Eltern hatten im Ort keine Freundschaften geschlossen. Über Verwandte wurde nie gesprochen. Gab es keine?

      Der Vater hatte keine Frau wieder in sein Leben gelassen.

      Sie öffnete die Augen, ihr Rücken schmerzte. Wonach suchte sie? Wonach?

      Mira ging ein paar Schritte auf den Bootssteg hinaus. Sanft rollten die Wellen an das Ufer, streichelten den warmen Sand, zogen sich zurück, nur um einen erneuten spielerischen Anlauf zu nehmen. Mira wandte ihren Blick in alle Richtungen. Wo der Garten begann, sah sie ein schlichtes kniehohes Holzkreuz stehen. »Komisch«, sinnierte sie, »das habe ich hier nie gesehen.« Das Kreuz war aus dickem, grob behauenem Holz gefertigt und sah aus, als würde es viele Jahre Wind und Wetter trotzen können. Der Namenszug allerdings war unleserlich geworden. Ein »H« war schwach zu erkennen. Mira konnte den Buchstaben nicht zuordnen.

      Bis auf das Schlagen der Wellen, das Zirpen der Grillen und das Schnattern der Enten, die in Formation vorüberzogen, gab es keine Geräusche. Mira ging zurück zum Wohnhaus.

      Erschrocken blieb sie stehen. An der Rückseite des Hauses, bei der Kellertreppe, lehnte ein Mann mit stark verkrümmtem Rücken an der Mauer. Er trug eine schmutzige, braune Hose, die in Brusthöhe von Hosenträgern gehalten wurde und stachelige Waden preisgab. Die Füße steckten in Holzschuhen unbestimmbarer Farbe. Ein graues, unförmiges Shirt bedeckte den Oberkörper. Er drehte sich zu Mira um. Seine Augen funkelten. Speichel troff unkontrolliert aus seinem Mund.

      Als er verängstigt mit der Hand auf Mira zeigte, versuchte er krampfhaft und stotternd einen Namen zu rufen der wie Henene klang.

      Mira erinnerte sich an ihn. Wusste um seine Behinderung und dass er in Zusammenhang mit dem Krieg von ihrem Vater im Bootshaus versteckt wurde. Es hatte Streit mit der Mutter gegeben. Die Ursache für den Streit war, dass der Vater sich mit dem Verstecken damals in Gefahr begeben hatte. Mira hatte den Zusammenhang nicht verstanden. Wie alt mochte der Behinderte jetzt sein und wollte er ihr etwas sagen? Sie beachtete ihn nicht, ging ins Haus, um nach dem Schlüssel für das Bootshaus zu suchen.

      Schränke und Kartons wurden erfolglos geöffnet. Gerüche schlugen ihr entgegen, riefen Erinnerungen wach. Mutters Kleiderschrank war und blieb seit ihrem Tod verschlossen. Vater behauptete, den Schlüssel im See versenkt zu haben. Später hätte sie sich Mutters Sachen gerne angeschaut, aber sie traute sich nicht, mit ihrem Vater darüber zu sprechen. Alles, was mit Mutter zusammenhing, waren Tabuthemen.

      Es dunkelte. Mira betätigte den Lichtschalter neben Mutters Schrank. Die Glühbirne flackerte und erlosch.

      »So ein Mist, auch das noch. Ich suche mir jetzt einen Gasthof. Hier will ich nicht schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag.« Sie wandte sich zum Gehen.

      Als sie einen letzten Blick auf Mutters Schrank warf, überkam sie eine Unruhe, die es nicht zuließ, zu gehen. Nein, heute noch musste sie diesen Schrank öffnen. Vielleicht verbarg er mehr als Mutters Bekleidung.

      Sie ging in die Küche, holte ein Messer und machte sich an dem Schloss zu schaffen. Erfolglos. Mira fluchte. Nun versuchte sie, den Schrank ein wenig vorzuziehen. Vielleicht ließ


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