Delikatessen für die Sinne (Band 2). Jutta DethlefsenЧитать онлайн книгу.
einem Nagel befestigt war und nun zu Boden fiel.
Mira knipste die Flurlampe an, um den Schein für den Schrank zu nutzen. Sie tastete auf dem Fußboden unter dem Schrank nach dem Gegenstand. Da war er! Ein Schlüssel! Der Schrankschlüssel? Es war bestimmt der Schrankschlüssel!
Miras Herz klopfte zum Zerspringen. Sie nahm aus ihrer Handtasche ein Feuerzeug, beleuchtete die Schranktür und versuchte den Schlüssel im Schloss zu drehen. Er passte, die Schranktür sprang knarrend auf. Modriger Geruch schlug ihr entgegen. Im Schein des Feuerzeugs erkannte sie Kleider und Schuhe. Sie sah an der Innenseite der Tür einen weiteren angebrachten Schlüssel und wusste in dem Moment, in welches Schloss er passte.
Sie lief mit dem Schlüssel durch das taunasse Gras, blieb wieder im Gestrüpp hängen, zerrte an dem Kleid, bis der Stoff nochmals zerriss.
Es hatte aufgefrischt. Sie hörte die Wellen gurgelnd gegen das Ufer schlagen. Inzwischen gab es kein Tageslicht mehr. Es raschelte im Gestrüpp. In der Dunkelheit hatte die Umgebung alles Vertraute verloren.
Der Schlüssel passte zum Bootshaus. Sie stand in der geöffneten Tür, suchte im Schein des Feuerzeugs erfolgreich nach dem Lichtschalter. Ein Tier huschte zu ihren Füßen in Richtung Garten. Über ihrem Kopf verließen Fledermäuse eilig den breiten Dachüberstand.
Mit den Händen zerriss sie dicke Spinnweben. Sie verfingen sich in ihren Haaren.
Ein Gartentisch, Stühle, eine Truhe und ein Gartengrill waren mit toten Fliegen bedeckt. Das kleine Ruderboot aus ihrer Kindheit hatte jegliche Farbe eingebüßt.
Vor der Truhe zögerte sie einen Moment herzklopfend. Der Deckel ließ sich mühelos öffnen.
Sie starrte auf einen verschnürten Stiefelkarton, ahnte, dass der Inhalt ihre Fragen beantworten würde.
Sie nahm den Karton heraus, pustete die Fliegen vom Tisch, bevor sie ihn dort abstellte.
Auf dem Deckel stand in der Handschrift ihres Vaters: Für Mira.
Mit dem Feuerzeug durchtrennte sie das Band. Dann entfernte sie entschlossen den Deckel. Ein Briefkuvert bedeckte den Inhalt.
Adressiert war der Brief an Miras Vater, abgestempelt in Kalifornien.
Mit zitternden Händen entfaltete sie die Bögen und las:
»Lieber Rainer!
Endlich habe ich die Kraft und den Mut, dir zu schreiben. Wie du siehst, bin ich nach Amerika ausgewandert. Ich habe bei einer alten Dame eine Anstellung im Haushalt gefunden. Meine Sprachkenntnisse sind inzwischen recht gut, ich komme zurecht.
Ich möchte dich um Verzeihung bitten für mein heimliches Verschwinden. Geplant war es schon lange vorher. Wie hast du Mira mein Fortgehen erklärt? Immer wieder sehe ich ihr Gesicht und ihren traurigen Blick vor mir. »Lieber Rainer«, die Anrede fällt mir noch heute nicht schwer, ich habe dich sehr geliebt, aber Helenes Schatten stand zwischen uns. Du liebtest nur sie, öffnetest dich für niemanden mehr.
Die Lüge, mit der Mira leben muss, lastet schwer auf meinem Herzen.
Nachts in unserer Umarmung hast du häufig Helenes Namen geflüstert. Weißt du, wie schmerzhaft das war? Du hast dich umgedreht, als wenn du dich dafür schämtest, mit mir geschlafen zu haben. Ich habe die Tränen deiner Enttäuschung gesehen. Wenn du eingeschlafen warst, dann habe ich geweint, und immer wieder gehofft, dass die Zeit etwas ändern würde. Wie habe ich Helene um dich beneidet! War ich doch so sehr in dich verliebt, lange bevor sie deinem Werben nachgab. Sie konnte jeden haben, warum wollte sie dich auch noch in ihrer Sammlung? Rainer, glaube mir, sie liebte dich nicht wirklich, dazu war sie viel zu eitel.
Ich spürte häufig deinen Hass, weil ich nun Helenes Platz eingenommen hatte. Aber eure Mira war doch noch so klein, sie brauchte eine Mutter. Dafür war ich dir recht, für mehr reichte es nicht. Ich glaube, selbst auf Mira warst du zornig, machtest sie verantwortlich für Helenes Tod. Aber Mira trifft keine Schuld.
Irgendwann hatte ich keine Kraft mehr, um deine Liebe zu kämpfen. Nur das Kind ließ mich noch eine Weile zögern. Ich konnte mich auch nicht mehr mit dir auseinandersetzen. So habe ich diesen Weg gewählt in der Erkenntnis: Liebe kann man nicht erzwingen.
Helene war meine Schwester und ich habe sie mit ihren Fehlern geliebt. Aber glaube mir, sie hätte dich ohnehin verlassen. Sie wollte auch keine Kinder, hatte sie mir gestanden. Fürchtete um ihre Figur. Und als sie mit Mira schwanger ging, sagte sie mir einmal, dass ihr das niemals wieder passieren würde.
Ich habe ihren Tod nicht gewollt, er kam mir nicht gelegen, wie du im Streit mit mir einmal behauptet hast.
Ich war sofort für Mira und dich da. Habe den Haushalt aufgelöst, bin mit euch auf das Land in das kleine Haus am See gezogen. Ich habe dich in aller Stille geheiratet und mit dir eine neue Geburtsurkunde für die Kleine angefordert, auf der ich als Mutter eingetragen wurde. Das war in den ersten Nachkriegsjahren nicht schwer. Es waren so viele Papiere verloren gegangen. Aber es war eine Lüge und sie wiegt schwer auf meinem Gewissen.
Mira konnte nicht weiterlesen, starrte auf die Zeilen, ohne etwas zu erkennen. Die Buchstaben sprangen sie an wie Raubtiere.
Da stand es: Die Frau, die sie für ihre Mutter gehalten hatte, war nicht ihre Mutter!
Es dauerte zwei, drei Minuten, bis sie weiterlesen konnte.
»Lieber Rainer, höre endlich auf, dir die Schuld zu geben an Helenes Tod. Du hättest ihn nicht verhindern können. Niemand ist verantwortlich für das Geschehene. Helene wurde doch nie gefunden, und auch kein Abschiedsbrief, der eine Schuldzuweisung beinhaltete, nur ihre Kleider fand man am Ufer.
Lass die Vergangenheit ruhen, du kannst sie nicht mehr gestalten. Und aufklären lässt sich auch nichts mehr. Es ist vorbei.
Für immer Deine Grete.«
Mira ließ den Brief auf ihren Schoß sinken. So aufgewühlt war sie noch nie gewesen.
Ob Vater auf den Brief geantwortet hatte? Sie schüttelte den Kopf, glaubte es nicht.
Die Gedanken wirbelten durcheinander. Hatte sie nicht immer gespürt, dass es etwas zu klären gab? Nun hielt sie den Beweis in den Händen. Und doch blieben viele Fragen für immer unbeantwortet.
Vielleicht war ihre richtige Mutter wirklich eine Egoistin gewesen, aber Vater hatte sie über alles geliebt. Der Gedanke zumindest fühlte sich gut an.
Mira entnahm dem Karton ein weiteres unbeschriebenes Kuvert. Darin befand sich ein Foto, das Porträt einer schönen, jungen Frau. Die Haut wirkte transparent wie edles chinesisches Porzellan. Die kühn geschwungenen Brauen wölbten sich über großen, verträumt blickenden Augen. Unter den vollen Lippen beendete ein kleines, energisches Kinn das ovale Gesicht. Helle Locken vervollständigten den engelhaft unschuldigen Anblick.
Den Hals schmückte eine dünne Kette mit einem Amulett.
Auf der Rückseite des Fotos stand nur »Helene« - ohne Jahreszahl.
Das also war ihre Mutter.
Der Karton barg noch einen Seidenschal. Sie schmiegte ihr Gesicht hinein und nahm einen schwachen, fremden Geruch wahr. Den Geruch ihrer Mutter? Seltsam, nach so vielen Jahren!
In einem Samtkästchen lag eine hellblonde Locke. Mutters Haare, denn Vaters und Miras waren brünett. Sie wickelte die Locke um ihren Zeigefinger, bevor sie das Haar behutsam zurück in das Kästchen legte.
Der Karton beinhaltete noch feine, weiche, hellbraune Lederhandschuhe und ein paar Babysachen, ganz sicher von ihr, Mira.
In Seidenpapier gewickelt fand Mira das Amulett, das ihre leibliche Mutter auf dem Foto trug. Der Verschluss klemmte, bevor er nachgab. Auf der einen Seite ein Babyfoto von Mira, auf der anderen eins von einem lachenden jungen Mann, ihrem Vater.
Auf dem Boden des Kartons lag ein Foto von der Frau, die Mira für ihre Mutter gehalten hatte. Sie trug ein Baby auf dem Arm. Daneben strahlend der Vater. So hatte sie ihn nie erlebt, so glücklich. Und doch nur eine Lüge? Welches Foto war die Lüge?