Drei Dekaden. Hermann RitterЧитать онлайн книгу.
an Freude.
Ich war fast ein Jahrzehnt in diesem Coven. Er hat mir viele Dinge gegeben, die ich gesucht habe – Nähe, Freundschaft, Wärme und Zuneigung. Darüber hinaus erfuhr ich, wie es ist, im Kreis mit anderen Menschen zu arbeiten, wie man gemeinsam Entscheidungen trifft, ohne dass sich nachher jemand ausgegrenzt oder beleidigt fühlt. Ich erfuhr eine Menge darüber, wie es ist, wenn man in Ritualgewänder gehüllt nachts im Wald steht und anfangs nur darauf hofft, dass einen kein Spaziergänger oder gar Polizist erwischt – bis diese Angst durch ein Gefühl des Verzaubertseins vertrieben wird, welches die Unwirklichkeit der Situation in ein Gefühl der Freude verwandelt.
Heute noch gibt es Tage, an denen ich diesem Gefühl nachtrauere. Ich habe meine Lehrerin sehr geschätzt. Gescheitert ist sie am eigenen Anspruch, an sonst nichts. Wer Schüler ausbildet, der muss sich damit abfinden, dass diese Schüler eines Tages fertig ausgebildet sein werden und bei der weiteren Planung der Gruppe mitsprechen wollen. Mit dieser Problematik konnte sie nicht leben.
Sie konnte auch nicht damit leben, dass es mir eigentlich egal war, ob sie die Texte selbst erfunden oder wirklich aus einer jahrhundertealten Tradition übernommen hatte. Wichtig ist nicht die Herkunft einer Inspiration, wichtig ist, ob sie Wirkung zeigt. Und sie hat gewirkt, denn in mir ist ein Feuer geweckt worden, das bis heute nicht erloschen ist. Ich suche Wissen und suche Erfahrungen; ich will mich in meinem Suchen der Gottheit annähern und mein Leben mit dem Gefühl beschließen können, dass ich nach jenem Licht gestrebt habe, welches unser Leben beginnt, begleitet und beendet.
P.S.: Die Zitate an den Kapitelanfängen sind Texte aus den heiligen Texten meines Covens.
ZAUBERN OHNE GOTT?
Vorbemerkung
Das einzige, was der wahre Mensch aber wirklich besitzen kann, ist sein eigenes Ich. Alles andere ist das Nichts, in das wir eines Tages zurückkehren.78
Ein Text wie dieser kann keinen allgemeinen Zuspruch erwarten. Das Fragezeichen im Titel impliziert, dass ich eine Frage stelle, die ich – soweit möglich – beantworte. Das heißt aber nicht, dass jeder Mensch, der sich mit dieser Frage beschäftigt, zu denselben Antworten kommen muss wie ich. Ganz im Gegenteil. Es ist unsere Vielfalt, aus der wir Nutzen ziehen sollten, nicht unsere Gleichförmigkeit.
Ich möchte auch einleitend darauf hinweisen, dass man Gott im Titel und im Text gerne durch Göttin oder Göttliches ersetzen kann – ich finde Gott als Begriff hier lesbarer und für mich nachvollziehbarer. Man möge Nachsicht mit mir üben.
1. Zur Magie
Zwei Verschiebungen von Begrifflichkeiten sind im Rahmen der Industrialisierung erfolgt – die Verschiebung von weltlichen und die Verschiebung von magischen Begrifflichkeiten. Hierbei verstehe ich die Industrialisierung als den Übergang von einer eher naturnahen Gesellschaft hin zu unserer Industriegesellschaft. Der zeitliche Rahmen dieser Veränderung ist die Zeit zwischen 1650 und 1950, der von mir besprochene räumliche Rahmen umfasst Westeuropa sowie Nordamerika.
Diese Verschiebung von Begrifflichkeiten erfolgte in der Weltsicht des Heiden bzw. magisch Tätigen. Und diese Verschiebungen haben Rückwirkungen auf die Arbeit bzw. den Glauben (wobei ich beide Begriffe von den Verflechtungen her für nicht trennbar halte). Daher will ich auf diese beiden Verschiebungen länger eingehen.
a. Verschiebung von weltlichen Begrifflichkeiten
Die Bedeutung von Schrift und Geschriebenem hat sich in den letzten 500 Jahren in unserer Kultur grundlegend verändert. Angefangen bei den für magische Handlungen benutzten Bildern und Piktogrammen über die Silbenschrift und die Runen bis hin zu unserer Schrift hat sich die gesamte damit verbundene Kultur gewandelt.
Früher waren es nur wenige, die in der Lage waren, die geschriebenen Zeichen zu entziffern. Ihnen war auch Macht gegeben, da sie als Geschichtenerzähler, Barden und Priester benötigt wurden. Im Mittelalter war es so, dass die Klöster die Horte der Schreibkultur waren; die wichtigsten (und schönsten) mittelalterlichen Texte sind religiöser Natur.
Auf einer anderen Ebene hat sich auch das Erzählte vom Inhalt her verändert. Statt Sagas und Gedichten, die mündlich überliefert wurden, gab es später die festgefügten Märchen, die in einer bestimmten, unveränderlichen Form in einem Buch festgeschrieben waren.79 Seit der Entwicklung des Fernsehens wird nicht nur die Sprache festgelegt, sondern auch die optische Information (die vorher von der Vorstellungskraft des Zuhörenden ergänzt worden ist) ist festgelegt und damit unveränderbar.
Wenn wir heute Geschichten aus einer Epoche betrachten, in der weite Teile der Bevölkerung Analphabeten waren, dann bedenken wir dieses nicht. In unseren Köpfen ist Analphabetismus die Ausnahme, die Mangelerscheinung. Wir können alle lesen; Bücher und Zeitschriften sind Allgemeingut geworden. Doch wir dürfen nicht den Fehler machen, ähnliche Bilder auf unsere Vorfahren/Vorgänger anzuwenden. Schrift hatte früher einen wesentlich höheren Stellenwert und magische Symbole (wie Siegel etc.) hatten eine wesentlich umfassendere Bedeutung – und sei es nur, weil sie von einer schreibunkundigen Bevölkerung nicht zu reproduzieren waren.
Ein anderer Begriff, der sich – wie der Begriff der Schrift – in den letzten Jahrhunderten in seiner Bedeutung stark verändert hat, ist der des Blutes. Während in mythischen Texten immer noch von Dingen wie Blutsverwandtschaft („Blut ist dicker als Wasser“), Blutschwur80 und Blutsbrüderschaft die Rede ist, so hat heute die Wahlverwandtschaft die Bedeutung der Blutlinie völlig verdrängt. Und statt der matrilinearen Vererbung (über die Mutter) wird heute der Name (und auch die Familie) patrilinear (über den Vater) vererbt.
Seit der Verbreitung von AIDS ist auch unsere Hemmschwelle gegen Blutschwüre höher geworden – es ist nicht nur der ungeschützte Geschlechtsverkehr, der einen infizieren könnte, sondern auch der Austausch von Blut im Rahmen von Ritualen.
Und letztendlich ist es auch die Kommerzialisierung des Blutes und der Blutspende durch die Vermarktung von Blutplasma, das diesen Begriff seiner mythologischen Bedeutung fast entbunden hat. Wer heute ein klassisches Ritual mit Blut oder Blutsbanden liest, wird es sicherlich völlig anders verstehen, als ein Heide/Magier aus dem 13. oder 16. Jahrhundert. Und unsere Hemmschwelle gegen den Einsatz von Blut, immerhin dem Saft des Lebens, in Ritualen ist deutlich angestiegen.
Ein paar andere Begriffe möchte ich nur kurz anreißen. Die Bedeutung des Windes für unsere Kultur hat sich in den letzten Jahrhunderten verändert. Es werden keine Häuser mehr vom Sturm abgedeckt, die wilde Jagd zwischen den Jahren ist nicht mehr zu hören, der Fischfang samt Küstenschifffahrt ist unbedeutend geworden (und damit sinkt auch die Gefahr von im Meer ertrinkenden Familienmitgliedern), wir haben sogar den Wind für die Erzeugung von Strom gezähmt und können Stürme mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen. Schon deutsche Gedichte der Romantik, die von den Naturgewalten sprechen, sind für uns heute in ihrer beschworenen Bedrohlichkeit kaum verständlich oder nachvollziehbar.
Auch unser Verhältnis zu Wasserstraßen und Straßen allgemein hat sich völlig verändert. Wir sind es gewöhnt, beim Reisen auch an den Luftverkehr und die Eisenbahn zu denken; die Autobahn stellt eine völlig andere Art der Vorstellung von Transportwegen dar als die Straßen des Mittelalters. Die heutige Streckenplanung kann sich auf stabile Brücken, Fähren und regelmäßige Ozeanüberquerungen verlassen – alles Dinge, die noch vor 100 Jahren eine Ausnahme waren.
Auch unsere räumliche Vorstellung von der Welt (die Landkarte, die wir in unserem Kopf mit uns herumtragen) hat sich deutlich verändert. Orte entlang ausgebauter Verkehrswege sind wesentlich leichter zu erreichen als Orte in entlegenen Gebieten. Der Mensch im Mittelalter dachte eher in konzentrischen Kreisen um seinen Wohnort herum, da seine Fortbewegungsgeschwindigkeit kaum zu steigern war, wenn er bestimmte Routen anderen vorgezogen hätte.
Deutlich wird diese Verschiebung auch an der Veränderung der mythologischen Bedeutung von Straßen. So ist