Drei Dekaden. Hermann RitterЧитать онлайн книгу.
neben der Veränderung in der Geschwindigkeit auch ein Wandel im gewählten Verkehrsmittel.
Der Schatz als ökonomische Herausforderung hat in den letzten Jahrhunderten seinen mythischen Charakter verloren (man denke nur an den Kessel voller Gold am Ende des Regenbogens). Die wenigen noch mythischen Schätze (Bernsteinzimmer etc.) sind mit eher negativen Erfahrungen verknüpft.
b. Verschiebung von magischen Begrifflichkeiten
Auch bei den magischen Begrifflichkeiten hat sich in den letzten Jahrhunderten einiges am Bedeutungsinhalt verschoben. So hat sich z.B. das Königsheil von Königen/Priestern weg zu öffentlichen Personen (Elvis etc.) hin verschoben. Wo früher noch der König für das Land stand (wie bei den Artus-Sagen), so ist es heute höchstens ein Präsident, der sein Leben für die Unschuld des Landes lassen muss (ich denke hier an Präsident Kennedy, dessen Regierungszentrale nicht umsonst Camelot genannt wurde!).
Auch der Ort der Seele ist im Lauf der Jahrhunderte immer wieder im Körper verlegt worden, ohne dass die Seele irgendwo im Körper wirklich hätte festgelegt werden können. Scheinbar wandert der Ort der Seele – wie der Ort der Utopie – immer hinter den Horizont des gerade Erkennbaren und verbleibt immer genau hinter unserem Horizont.81 Und heute hat sich die Suche nach der Seele hinter den Nahtoderfahrungen etc. versteckt. Die wissenschaftliche Grenze hat sich verschoben, für das Organ Seele bleibt im Körper kein Platz mehr. Aber die Sinnsuche, die sich hinter der Suche nach der Seele verbirgt, braucht weiterhin Raum in unserem Leben.
Auch die Zwerge und Elfen sind nur auf den ersten Blick aus unserer Mythologie verschwunden. Früher stahlen die Hügelvölker oder die Feen Kinder und entführten sie, in ihren Heimen lief die Zeit anders ab als in der realen Welt, und wer für sie arbeitete und ihre Geheimnisse wahrte, der wurde reich belohnt (diese Motive tauchen interessanterweise auch in den Märchen auf, in denen sich jemand für den Teufel verdingt – hier gibt es offensichtlich eine Gleichschaltung Feen/Hügelvolk – Teufel in der christlichen Mythologie). Heute sind es Außerirdische mit schmalen Händen und großen Augen, die unsere Kinder entführen, unsere Frauen schwängern, deren Zeit anders verläuft als unsere und die jene reich belohnen, die mit ihnen zusammenarbeiten. Die Parallelen sind unübersehbar. Aber da wir alle Hügel aufgegraben, alle Wälder abgeholzt haben, musste sich der Mythos halt in kleine Flugscheiben82 zurückziehen, die entweder aus dem Inneren der Erde, von der Rückseite des Mondes oder aus anderen Dimensionen kommen. Eine ähnliche Entwicklung hat nebenbei auch der Hausgeist hinter sich, wobei es einen eigenen Vortrag wert wäre, die Analogien zwischen Schüsseln Milch und Blumen für Hausgeister und Zuwendungen und Eigennamen für Computer herauszuarbeiten …
Eine offensichtliche Veränderung verursachte auch die Entmythologisierung der Drachen nach der Entdeckung der Dinosaurier-Skelette im letzten Jahrhundert. Unsere Drachenmärchen wurden auf einmal als Erinnerungen an eine gemeinsame Koexistenz von Drachen und Menschen gedeutet, viele Darstellungen von Dinosauriern wurden verdrachtusw. Ein schönes Beispiel für diese Entwicklung sind Märchenbucher a la Dinotopia oder Die vergessene Welt von Arthur Conan Doyle – beides Bücher, in denen die genannte Koexistenz beschrieben wird.
Die Veränderungen im Weltbild der Astrologie folgen auch wissenschaftlichen Entdeckungen.
Die letzten drei Planeten [des Sonnensystems, HR] wurden erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt, lange nach der Entwicklung der traditionellen Analogien der ersten sieben Planeten: Uranus 1781, Neptun 1846 und Pluto 1930. Jedes Mal erfanden die Astrologen empirische ‚Deutungen‘, die schließlich als verbindlich akzeptiert wurden.83
Die Festlegung einer Definition für den Einfluss der Planeten bzw. für ihre Rolle in der Astrologie dauerte unterschiedlich lange. Beim Uranus waren es noch 33 Jahre, beim Neptun sogar 44 Jahre und beim Pluto nur noch 2 (!) Jahre.84
Auch das Bild von Äther und Sphären/Sphärenklängen sowie unser Verständnis der Sternbilder hat sich deutlich gewandelt. Wo früher die Sternbilder noch exakt standen und wir in den richtigen Häusern geboren wurden, so hat die Verschiebung der Sternbilder inzwischen dafür gesorgt, dass niemand mehr in seinem Haus geboren wird. Und der – vorher mehrmals physikalisch bewiesene Äther – musste genauso (wie die Sphären der Planeten) Federn lassen und darf jetzt nur noch als esoterische Analogie sein Leben fristen.
c. Verschiebung von weltlich/magischen Begrifflichkeiten
Mythos und Wissenschaft befruchten sich gegenseitig. Eine Weiterentwicklung des einen ist ohne eine Weiterentwicklung des anderen nicht möglich. Unser Suchen nach Erkenntnis wird von unseren Träumen gespeist, und unsere Träume beziehen ihre realistischen Grundlagen aus unseren Erkenntnissen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass mythologische Begriffe, welche die Jahrhunderte überstanden haben, immer wieder von Mythos und (!) Wissenschaft weiterentwickelt werden. Das klassische Beispiel hierfür ist der Atlantis-Mythos mit seinen starken Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte. Man betrachte nur, welche geographischen Veränderungen Atlantis durchgemacht hat. Vom Mittelmeer über den Atlantik hin zu Grönland und England im Norden, Südamerika im Westen und Westafrika im Süden. Und der Kreis schließt sich, wenn die moderne Forschung Atlantis nach Troja oder Santorin und damit zurück ins Mittelmeer verlegen will.
Ähnliches gilt für Mythen, die – im Gegensatz zum Atlantis-Mythos – in den letzten Jahrzehnten untergegangen sind bzw. massiv an Bedeutung verloren haben, aber vorher einen wilden Wechsel von Bedeutung und Inhalt hinter sich gebracht haben. Das Einhorn wäre ein Beispiel85, ebenso der Vampir86. Faszinierend ist auch die Geschichte des roten Planeten Mars und seiner angeblichen Bewohner. Von Kanälen könnte man da sprechen, und von dreibeinigen Todesmaschinen, von Pyramiden und Marsgesichtern …87
d. Probleme, die daraus entstehen
Wir kämpfen mit dem Phänomen, dass ältere Texte und Rituale für uns unverständlich werden, weil uns der kulturelle Hintergrund/ Gefühlszusammenhang zu ihrem Verständnis fehlt. Das Weltbild ändert sich, ohne dass der an ein Weltbild gebundene Kult die Änderungen nachvollzieht.
Oftmals haben wir zwar das Gefühl, den Text eines klassischen Rituals begriffen zu haben, aber das Verstehen geschieht auf einer sprachlichen und nicht auf einer inhaltlichen Ebene (wir verstehen die Worte, nicht den Sinn). Die oben genannten Erklärungen sollten ausreichen, um diese Behauptung zu untermauern.
Ich will jetzt kurz ein paar Beispiele weltlicher und magischer Natur für die Bindung von einzelnen Begriffen an Religionen/Kulte oder magische Handlungen anführen. Und ich will zeigen, dass wir diese Begriffe zwar weiterhin verwenden (können), aber ohne die ursprüngliche Bindung zwischen Begriff und Bedeutung rekonstruieren zu können.
Weltliche Beispiele
Hierzu gehören die Bedeutung des Feuers bei den Parsen (Feuer spielt für uns schon lange nicht mehr die Rolle als Wärmespender und Waffe, die es früher gespielt hat), die magische Rolle von einzelnen Schriftzeichen (man denke nur an die Runen; durch die faktische Beseitigung des Analphabetismus in der Bevölkerung hat die Schrift überhaupt ihren magischen Charakter verloren) und Piktogrammen (ich meine nicht die Notausgang-Zeichen in öffentlichen Gebäuden, sondern steinzeitliche Jagdzauber an Höhlenwänden), der Verlust des faszinierenden Gefühls für fremde Sprachen in Ritualen (die lateinische Messe hat ihre Ausstrahlung verloren, ebenso aber auch Texte in unverständlichen Sprachen oder der Effekt des Zungenredens), die Naturgewalten verlieren an Bedrohlichkeit (die Wind- und Sturmgötter wie die Wilde Jagd verschwinden aus unserem Bewusstsein, weil die Naturgewalten für unsere Häuser nicht mehr bedrohlich sind und daher nicht mehr beschworen und besänftigt werden müssen), bestimmte Arbeiten verschwinden aus unserem Lebenszusammenhang (der Meergott der Fischer verschwindet aus unserem Kulturzusammenhang, da der Nährstand – und damit auch Fischer und Bauern – in unserem Leben nicht mehr direkt vorkommt; Pferdesegen und Schmiedezauber bleiben unverständlich, weil die entsprechenden Berufe aus unserem kulturellen Umfeld verschwunden sind), halbmenschliche/ tierische Götter verlieren an Bedeutung, weil das sie inspirierende Wesen aus unserem Leben verschwunden