Karl May. Jens BöttcherЧитать онлайн книгу.
Mays kann ich im Sinne der Vorwortsache aber doch nicht unterdrücken. Da gibt es also zunächst die offenkundige biografische Seite. Wenn man gängige Lexika bemüht, lässt sich das Ganze etwa so zusammenfassen:
Karl May zählt seit mehr als 100 Jahren zu den meistgelesenen Schriftstellern der Welt. Sein Werk wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Die Weltauflage liegt bei mehr als 200 Millionen Bänden (davon ca. 100 Millionen in Deutschland). Große Popularität haben seine Bücher noch heute vor allem in Tschechien, Ungarn, Bulgarien, den Niederlanden, Mexiko und sogar Indonesien. In Frankreich, Großbritannien und den USA hingegen ist er beinahe unbekannt. Die erste Übersetzung erschien 1881 auf Französisch in LeMonde, und die neuesten stammen aus den letzten Jahren (Vietnam). Darunter sind Sprachen wie Esperanto und Volapük. In den 1960er-Jahren stellte die UNESCO fest, May sei der meistübersetzte deutsche Autor.
Ganze Generationen bezogen ihr Bild von den Indianern oder dem Orient aus seinen Werken. Auch einige Sprachbegriffe aus beiden Kulturkreisen, die May (teilweise nicht ganz korrekt) verwendete, fanden Eingang in die Umgangssprache. Die indianische Gruß- oder Bekräftigungsformel »Howgh«, das »Anhobbeln« der Pferde, die Verwendung von »Manitu« als Gottesname und die Anrede »Mesch’schurs« sind dem wilden Westen zuzuordnen. Die Rangbezeichungen »Efendi«, »Bey«, »Pascha« und »Wesir« sind durch seine Orientromane Allgemeingut geworden.
Kurzum: Karl May ist ganz offensichtlich ein wirklich bedeutender Schriftsteller und ein wichtiger Teil unserer Kultur. Sein ganzes Leben müsste eine klassische Erfolgsstory sein. Aber das ist natürlich nicht die ganze Wahrheit. Ist es ja nie. Da ist ja noch so viel mehr. Und auch dieses »viel mehr« beschreibt Rainer Buck mit bemerkenswerter Klarheit und dankenswerterweise beinahe ganz ohne Wertung in diesem Buch. Es ist die »andere Seite« der Erfolgsgeschichte, die hier so oft faszinierend durchschimmert, jener Teil, den man erspüren kann, wenn man sich auf den Menschen hinter der Legende Karl May einlässt: das Gläubige in ihm, das Suchende, das Zweifelnde, das Widersprüchliche, die Triumphe und die Irrwege – das Leben eines Pilgers auf fremden Pfaden. Und so komme ich nun zum zweiten Teil der Antwort auf die vorhin gestellte Frage: Warum ist nun ausgerechnet May ein so wirkungsvoller Teil unserer Nostalgieschatztruhe? Ich persönlich vermute, es liegt gerade daran, dass er gleichzeitig so widersprüchlich und eben echt war. Natürlich, da waren all diese tollen Geschichten, die großen, ewigen Wahrheiten, die Werte, die Moral, das Edle, sein Riesenerfolg. Und gleichzeitig, eben in der Überhöhung all dessen, auch die gefühlte Plage, die stets spürbare Sehnsucht, der unterschwellige Duft des Suchens und Scheiterns, gar des Übermenschlichen. Die unüberbrückbare Kluft und Klemme, in der auch ein Erfinder steckt, der soeben eine Rakete gebaut hat, die theoretisch zwar bis ans andere Ende des Universums fliegen kann, für die es aber leider niemals ausreichend Benzin geben wird.
Karl May war ein Erfinder und ein Wahrheitsträumer. Ein Reisender, der nie ankommen konnte. So wie wir alle. Möglicherweise ist das ein Hinweis darauf, warum wir uns mit seinen Geschichten und Figuren so sehr identifizieren können.
Es ist wahr, aber es ist unmöglich. Wir alle träumen diesen Traum.
Aber er konnte ihn so wunderbar erzählen.
*
Sie werden in diesem Buch unter anderem lesen, dass May eine Weile gebraucht hat, bis er wirklich erfolgreich wurde. Und dass er zwischendurch allerlei zweifelhafte Wege eingeschlagen hat, die auf den ersten Blick so gar nicht zu jemandem passen, der sich sehr offensiv dazu bekennt, die Menschheit zum Guten und Reinen beeinflussen zu wollen. Auch das ist für mich eben Teil des größeren Bildes. May war offensichtlich Saulus und Paulus. Und zwar nicht unbedingt im klassischen Sinne nacheinander, sondern gleichzeitig. Das ist natürlich erstens verwirrend. Und zweitens überaus menschlich. Die meisten von uns drängen damit aber nicht an die Öffentlichkeit. Wer hat schon Lust, freiwillig mit einem Krokodil zu ringen?
Ich wage deshalb mal die Behauptung, dass man diesen inneren Konflikt, all die Seelenbewegungen des Schriftstellers May als Leser seiner Werke erspüren kann, auch wenn die Faszination des Guten und Reinen in seinem Schaffen natürlich überwiegt. Wenn es nun aber stimmt, dass besonders jene Menschen, die selbst mit der Dunkelheit vertraut sind, die Gabe besitzen, uns nachhaltig vom Licht zu künden, dann ist May ein ganz hervorragendes Beispiel für einen, der von höherer Stelle nie von den beiden Quellen der Inspiration getrennt wurde, weder von der himmlischen noch von der irdischen. Und somit ist und bleibt er, unterschwellig gefühlt, immer einer von uns: ein Sprachrohr der vielen Suchenden, die schon in der Verkündigung spüren, dass das Sprachrohr selbst nicht vom Menschsein »geheilt« ist, nur weil es uns das Ideal so wunderbar zu beschreiben weiß. Der zeitgenössische Schriftsteller Phillip Yancey, der eine Reihe von erfolgreichen Lebenshilfebüchern veröffentlich hat, sagte diesbezüglich einmal über sich selbst, er sei ein »professioneller Schizophrener«. Und meinte damit sinngemäß, dass er anderen Menschen mit seinen Büchern helfen kann, weil er weiß, worüber er schreibt, ohne dabei notwendigerweise zu wissen, wie er seine schönen Erkenntnisse fruchtbringend auf sein eigenes Leben übertragen könnte. Ich schätze, so ein »professioneller Schizophrener« war Karl May auch.
*
Sie werden außerdem in diesem schönen Buch viele interessante Hintergrundgeschichten zu Mays persönlichem Glauben finden. Und zu seinen Irrwegen. Als einem Leser, der sich mit Mays Biografie bislang nur sehr oberflächlich beschäftigt hat, kamen mir einige davon wirklich ziemlich haarsträubend vor, dazu geradezu boulevardesk – heute würde er es damit sicher regelmäßig in die Sendung »RTL-Explosiv« schaffen. Es scheint wirklich erstmal schwer vorstellbar, dass dieser Vorzeigemoralist May offensichtlich kühn genug war, sich selbst immer wieder als Scharlatan und Gesetzesbrecher zu betätigen. Und was für wilde Stories gibt es da bitte schön! Die Episoden aus seinem frühen Leben etwa, in denen er sich auf fantasievollste Weise als Trickbetrüger versuchte, haben mich spontan an den Film »Catch me if you can« erinnert, in dem Leonardo di Caprio einen solchen Hochstapler spielt, dem es ziemlich glanzvoll gelingt, in die absurdesten Lebensrollen zu schlüpfen. Auch der junge Karl May hat diese tragikomischen Münchhausen-Geschichten in seinem eigenen Lebenstheater aufgeführt. Überdies erfand er dauernd irgendwelche neuen, abenteuerlichen Details seiner eigenen Biografie und behauptete lange Zeit öffentlich, er hätte die Abenteuer von Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand auf seinen Reisen selbst erlebt (obwohl er diese Reisen natürlich nie angetreten hatte).
Noch zusätzlich verwirrend dabei eben: Mays christliches Gedankengebäude, immer wieder vermischt mit einer eher selbst geschnitzten Theologie, das schließlich alles zusammen in den großen Suppentopf der eigenen Fantasie geworfen und stets mit dem heiligen Ernst eines Missionars vorgetragen. Es ist wirklich faszinierend, das alles zu lesen. Zum Ende seines Lebens, als die Wahrheit mehr und mehr ans Licht kam, musste der große Schriftsteller eine Menge Schelte dafür einstecken. Aber ist das nun eigentlich wirklich verwerflich? Oder ist eine solche Scharlatanerie im Falle eines solchen Künstlers nicht eher grundsympathisch?
Mir persönlich kommt das alles ungemein spannend vor, eben echt und aufregend, ganz dem literarischen Werk des Künstlers entsprechend. Ich stelle es mir gerade vor: Die Grenzen von Realität und Fantasie verschwimmen, während der Schriftsteller und der Mensch May am Schreibtisch abwechselnd die Feder führen, die Worte formen sich auf Papier zu wunderbaren Geschichten, deren Held im Grunde immer eine fantastische und übertriebene Ausgabe des Verfassers selbst ist. So etwas ist womöglich schlimm, wenn einer Automechaniker ist und Chirurgen ausbildet oder wenn ein Hafenarbeiter sich irgendwann selbst für ein Schiff hält. Wenn man sich vor Augen hält, was für ein gewaltiges Werk bei Karl May daraus entstanden ist, erscheint es doch eher grandios und stimmig. May ist in all seinen schöngeistigen Fantastereien wohl eher lebendige Herausforderung, den Menschen, also in ihm auch uns, als Ganzes und Widersprüchliches zu betrachten. Seine Fantasie gab ihm eine überhöhte Wahrheit ein, die er zwar selbst nicht wirklich leben konnte, mit der er dann aber gleichzeitig unendlich vieles über den Menschen, der er war, und darüber hinaus den Menschen an sich, verriet. Und – das ist ja das Beste daran – mit der er unzählige Menschen glücklich machte. Ein professioneller Schizophrener eben. Und vielleicht gerade deshalb ein so hervorragender Geschichtenerzähler.
*
In all dem war May eben auch dieser feurige Gläubige, der sich selbst mehr und mehr