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Die Fischerkinder. Melissa C. FeurerЧитать онлайн книгу.

Die Fischerkinder - Melissa C. Feurer


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Harmlos lag es da, mit seinen vergoldeten Seitenrändern und dem rissigen Ledereinband. Es schien nichtssagend, so alt und abgenutzt.

      Aber vielleicht war es gerade das. Zerlesen sah es aus, geliebt und vielleicht ein wenig wie etwas, das schon oft hastig unter einem Stapel Notizen oder zwischen den Sesselpolstern versteckt worden war, damit es nicht entdeckt würde.

      Noch in Stoffhosen und der kratzigen Bluse, setzte Mira sich auf ihr Bett und hob das Büchlein auf. Der Titel war nicht mehr zu lesen, nur abblätternde Reste der goldenen Prägung waren davon übrig geblieben.

      Mira beschloss, sich nicht weiter mit dem Äußeren des Buches aufzuhalten. Sie schlug es auf, blätterte die ersten hauchdünnen Seiten um und begann zu lesen.

      Der Strom war längst für die Nacht abgeschaltet worden. Mira las bei Taschenlampenlicht und mit zugezogenen Vorhängen. Der Nachbarn wegen. Die Frage, was sie wohl denken mochten, war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ihr Vater gar nicht leibhaftig neben ihr stehen musste, damit sie seine mahnende Stimme hörte: „Wonach sieht das aus, wenn mitten in der Nacht ein kleiner Lichtkegel durchs Zimmer hüpft? Als täten wir hier drinnen etwas Verbotenes!“

      Mira tat wahrhaftig etwas Verbotenes, das ihre Taschenlampe den Nachbarn hätte verraten können. So viel hatte sie beim Lesen begriffen. Es war nicht erlaubt, dieses Buch zu lesen, und vor allem war es nicht erlaubt, es zu besitzen. Es war nicht wie die anderen Bücher in „Porters Höhle“, verpönt, aber akzeptiert, sondern ein Gegenstand, der Edmund Porter, sollte er je entdeckt werden, ans Messer liefern konnte.

      Vielleicht würde sie eines Abends vergeblich an der Tür zu seinem kleinen Buchladen rütteln, und es wäre abgeschlossen. Der nach süßem Tabak riechende Mann mit dem runden Bauch und dem grau melierten Haar wäre einfach verschwunden.

      Mira hatte Menschen auf diese Art verschwinden sehen. Da waren Nachbarn gewesen, mit deren Töchtern sie schon im staatlichen Erziehungshaus gespielt hatte. Später hatten sie die gleiche Klasse besucht, und manchmal, an Nachmittagen, an denen ihre beste Freundin Vera keine Zeit gehabt hatte, hatte sie mit ihnen im Garten gespielt. Eines Morgens waren sie wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Das Haus verlassen, die Vorhänge zugezogen, das Ringewerfspiel noch im Vorgarten liegend, als warte es nur auf seine sommersprossigen, ungestümen Besitzerinnen. Und keiner wagte zu fragen, wo sie waren. Da hatte Mira begriffen, dass das Bestürzende, Schreckliche als normal hingenommen wurde, weil man nicht der Nächste sein wollte, der ein leeres Haus mit zugezogenen Vorhängen zurückließ.

      Aber so würde sie Edmund Porters Buchladen nicht vorfinden. Zumindest vorerst nicht. Denn das Buch, das sein Verschwinden hätte auslösen können, lag hier, aufgeschlagen auf ihrem Kopfkissen.

      Zuerst war es ihr ausgesprochen langweilig vorgekommen. Die alte, schwerfällige Sprache, die vielen Namen, die winzige Schrift auf den durchscheinend dünnen Seiten. Aber dann war eraufgetreten. Dieser Mann, dieser seltsame Protagonist, der Mira zugleich fasziniert und irritiert hatte. Fast wie den Figuren dieser sonderbaren Geschichte war es ihr ergangen, von denen die einen ihn als Anführer liebten und die anderen ihn so abgrundtief hassten, dass sie ihn töten wollten.

      Sein sanfter und zugleich so bestimmter Charakter brachte sie dazu, gespannt weiterzulesen, so unerhört die Geschehnisse in diesem Buch auch wurden. Mira hätte keinen Staatsbeamten zum Vater haben müssen, um zu wissen, dass sie ein Buch, in dem solch ungeheuerliche Dinge geschahen, umgehend hätte melden müssen. Menschen, die sich ohne Zuhilfenahme technischer Mittel über die Naturgewalten hinwegsetzten, ja sie gar lenkten, Menschen, die, ohne Ärzte zu sein oder Medikamente zu verabreichen, Kranke heilten. Und vor allem: ein Mann, der Nachfolger um sich scharte, obwohl ein anderer König herrschte … Mira wusste, was ihr Vater mit diesem Buch getan hätte.

      Und genau deshalb brachte sie es ihm nicht. Denn wie hätte sie je herausfinden sollen, was mit diesem seltsamen Mann mit den Wunderkräften und seinen Freunden geschah, wenn sie das getan hätte, was richtig gewesen wäre? Vielleicht hätte sie Edmund Porter schützen können, indem sie behauptet hätte, das Buch auf der Straße gefunden zu haben. Aber das Buch und seine verbotene Geschichte wären verloren gewesen.

      Also blieb Mira, wo sie war, und verschlang Seite um Seite. Begierig, herauszufinden, wie der Protagonist seine Feinde am Ende doch noch besiegen würde.

      Die Wanduhr zeigte elf Uhr, als Mira verwirrt innehielt. Der Grund dafür war, dass die Geschichte mit einem Mal endete.

      Eben hatten seine Widersacher den Protagonisten in eine hinterhältige Falle gelockt und alle gegen ihn aufgehetzt, seine Freunde hatten ihn im Stich gelassen, und man hatte ihn grausam hinrichten lassen. Und dann war da nichts mehr. Die folgenden Seiten fehlten. Sorgfältig und gerade waren sie aus dem Buch herausgetrennt worden. Nur ein golden schimmernder Rest zeugte noch davon, dass es sie gegeben hatte. Die letzte Seite Text endete mitten im Satz. Rechts daneben begann eine neue Geschichte.

      „Markus“, stand darüber. Was interessierte Mira Markus? Sie wollte wissen, wie die Geschichte endete. Ob der Mann wirklich tot war, ob seine Feinde tatsächlich triumphierten. Welcher Schriftsteller dachte sich denn so ein grauenhaftes Ende aus?

      Sie blätterte zurück, las die letzten Seiten noch einmal, schürte verzweifelt die Hoffnung, sich getäuscht zu haben. Doch kein Zweifel: Der Protagonist – dieser beunruhigend besondere Mann – war tot.

      Wütend über beides – die Wendung, welche die Handlung genommen hatte, und die fehlenden Seiten –, klappte Mira das Buch zu und zwängte es in ihren Kissenbezug. Sie rieb sich die müde gewordenen Augen und stellte erschrocken fest, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie konnte gar nicht recht sagen, ob wegen des Todes des Protagonisten oder wegen der Anspannung, die sie ergriffen hatte. Da saß sie mit einem verbotenen Buch in ihrem Zimmer und wusste nicht, was sie tun sollte. War ihr der Tag noch am Abend leidig gewöhnlich vorgekommen, so hatte sie jetzt eine schreckliche Vorahnung, ihr Leben würde nach der heutigen Nacht nie wieder das Gleiche sein wie zuvor.

      Sie hatte eine der verbotenen Schriften gelesen, und das Schlimmste war, dass die Geschichte sie ganz und gar gefangen genommen hatte. Mira konnte sich nicht vorstellen, dass das Schicksal dieses Mannes und seiner Freunde sie je loslassen würde, solange sie nicht das Ende lesen konnte.

      „Bei der Verfassung, Miriam!“ Aus dem Munde ihrer Mutter klang dieser Ausruf nicht sonderlich einschüchternd. Sie hatte ihn sich von ihrem Mann abgeschaut, aber ohne schwarzen Anzug, ohne Abzeichen an der Brust und ohne die gestrafften Schultern war es einfach nicht das Gleiche.

      Statt dieser für Gerald Robins typischen Attribute hatte Rose Robins an diesem Morgen eine weiße Bluse, Hausschuhe und roten Lippenstift aufzuweisen. Dieser rote Lippenstift machte ihren mahnenden Ausruf besonders lächerlich, weil Gerald Robins ganz bestimmt noch viel erboster über ihn gewesen wäre als über Miras dreiminütiges Zuspätkommen am Vorabend.

      Nicht nur dass es völlig unnötig war, nein, es war auch im höchsten Maße erniedrigend für eine Frau, ihre Weiblichkeit so unverschämt zu betonen. Männer beschmierten sich die Gesichter nun einmal auch nicht mit Farbe, und keine Frau, die etwas auf sich hielt, stellte ihre weiblichen Reize auf diese altmodische Art zur Schau.

      Keine, außer Rose Robins.

      Mira kannte dieses kleine Geheimnis ihrer Mutter schon seit Kindertagen: Am Wochenende, wenn sie zu Hause war und Miras Vater für gewöhnlich arbeitete, kramte sie das hinter den Handtüchern versteckte Make-up heraus und trug es mit größter Sorgfalt auf.

      Mira hätte es abstoßen müssen, aber der Anblick ihrer Mutter mit leuchtend roten Lippen war ihr so vertraut wie der ihres Vaters in schwarzem Beamtenanzug mit Abzeichen. Genau wie Miras Liebe zu Abenteuerromanen war es nur ein kleines, lieb gewonnenes Schlupfloch aus dem sonst eintönigen Alltag. Nichts, was irgendjemanden verletzte oder aufhetzte.

      „Liegst du etwa noch im Bett?“ Rose Robins stand mit gerunzelter Stirn im Türrahmen.

      Mira befreite sich mühsam von der dünnen Bettdecke und strich sich mit beiden Händen durch das nur wenige Zentimeter lange, braune Haar. Ihre Augen schmerzten, und sie konnte sie kaum offen halten. Das war eine


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