Die Fischerkinder. Melissa C. FeurerЧитать онлайн книгу.
nach dem Kopfkissenbezug, in dem das Buch versteckt war, während ihre Mutter an ihr vorbeischritt und die Vorhänge aufzog. Offene Vorhänge. Sie waren noch da. Sie waren rechtschaffene Bürger, deren Haus ganz gewiss nie – niemals – mit zugezogenen Vorhängen und verlassenen Räumen vorgefunden werden würde. Miras Mutter stand vor Sonnenaufgang gemeinsam mit ihrem Mann auf, wenn dieser zur Arbeit ging, und noch lange bevor auch sie das Haus verließ, öffnete sie alle Vorhänge, damit, wenn die Nachbarn erwachten, auch ja kein Zweifel bestand: Familie Robins war noch da, und daran würde, daran konnte sich auch niemals etwas ändern.
„Hast du etwa die halbe Nacht gelesen?“ Ihre Mutter schürzte die Lippen, und als Mira ihrem Blick folgte, sah sie, dass das kleine ledergebundene Buch sich aus dem Kopfkissenbezug befreit hatte und neben ihr auf der Matratze lag. In ihren Augen sah es, jetzt, da sie den Inhalt kannte, nicht mehr im Geringsten harmlos oder nichtssagend aus.
„Miriam, was soll nur aus dir werden?“, seufzte ihre Mutter. „Was, wenn einer der Nachbarn in der Nacht das Licht gesehen hat?“
„Was, wenn einer der Nachbarn deinen Lippenstift sieht?“ Mira packte mit klopfendem Herzen das Buch und überlegte fieberhaft, was sie damit anstellen sollte. Wenn sie es wieder in den Kissenbezug steckte, würde ihre Mutter stutzig werden. Aber so offen konnte sie ihr gefährliches Diebesgut auch nicht herumliegen lassen.
Das Gesicht ihrer Mutter lief über und über rot an. Nicht vor Zorn wie bei Miras Vater, sondern vor Scham. „Aber das … das ist doch etwas ganz anderes“, wehrte sie ab und fuhr sich durch den ordentlichen Kurzhaarschnitt, zu dem der Lippenstift besonders unpassend wirkte. Die Heldinnen in Miras Büchern mochten langes, im Wind wehendes Haar oder ungestüme Locken haben. Spannend klang das und irgendwie wild. Aber nicht einmal Mira hätte sich mit einer solchen Frisur auf die Straße getraut. Männer wie Frauen ließen sich das Haar kurz schneiden – gleiche Rechte, gleiche Regeln. Langes, offenes Haar bei Frauen war genau wie roter Lippenstift eine unnötige Betonung von Geschlechtsunterschieden. Was für einen Eindruck das vermittelte, war kein Geheimnis: Frauen, die sich verkauften, liefen so herum, aber keine rechtschaffenen Bürger, die Wert auf das legten, was die Nachbarn dachten.
Ohne großes Federlesen zog Miras Mutter ihr die Bettdecke weg. „Ich verlasse das Haus ja nicht“, erklärte sie mit Nachdruck. „Niemand wird es je … Niemand wird mich so sehen.“
Aber vor ihrer Tochter verbarg sie es nicht. Einen winzigen Moment lang überlegte Mira, ob sie ihre Mutter einweihen, ob sie ihr von dieser ungeheuerlichen Geschichte erzählen sollte. Seit vielen Jahren schon teilten sie das Geheimnis des roten Lippenstiftes. Warum nicht auch ein zweites?
„Gleich kommt Iliona zum Putzen“, sagte allerdings ihre Mutter, ehe Mira sich entscheiden konnte. „Wie sieht das denn aus, wenn du noch im Bett liegst!“
Iliona war neben Mira der einzige Mensch, der Rose Robins je in diesem anzüglichen Aufzug, mit rot bemalten Lippen, gesehen hatte. Aber Iliona kam aus den Armenvierteln und zählte deshalb eigentlich gar nicht. Sie würde kein Wort darüber verlieren. Weder gegenüber Gerald Robins noch gegenüber irgendjemand anderem, egal ob Innen- oder Außenstädter. Sie war etwa in Miras Alter, vaterlos und auf die Rationskarten angewiesen, die sie für die Arbeit im Haus von Miras Familie bekam. Nur hohe Staatsbeamte konnten es sich leisten, eine Bedienstete aus den Außenvierteln einzustellen, und die Posten waren begehrt, weil sie ordentlich bezahlt und verhältnismäßig angenehm waren. Angenehmer jedenfalls als die Arbeit in den Fabriken. Über seinen innenstädtischen Arbeitgeber redete man nicht schlecht, wenn man seine Stelle behalten wollte.
„Ich steh schon auf.“ Mira presste das Buch fester an ihren Körper. Sie konnte ihrer Mutter nicht von ihrem Geheimnis erzählen, roter Lippenstift hin oder her. Ihr war klar, dass es einen Unterschied gab zwischen der kleinen Rebellion unschicklicher Farbe auf den Lippen und dem abgrundtiefen Verrat eines verbotenen Buches. Einen gewaltigen Unterschied. Den Unterschied zwischen Leben und Tod.
Vielleicht sah man es ihr an. Mira betrachtete ihr Spiegelbild kritisch. Nicht etwa um die tiefen Schatten unter ihren Augen zu ergründen oder um zu überprüfen, ob ihr Haar die Zehn-Zentimeter-Marke überschritten hatte und damit zu lang war. Nein, sie suchte nach einem verräterischen Anzeichen für das Geheimnis, das sie seit dieser Nacht wahrte.
Sie fand es in ihren Augen. Ein fiebriges Glitzern, vielleicht die Angst vor dem Entdecktwerden, vielleicht die Unruhe, die sie ergriffen hatte, der Drang, herauszufinden, wie die Geschichte endete. Wenn sie an den grausamen Hinrichtungstod des Protagonisten dachte, krampften sich ihre Eingeweide schmerzhaft zusammen. Er war nicht einfach gestorben – er war verspottet, misshandelt und brutal ermordet worden.
Da war so vieles gewesen, das sie nicht verstanden hatte. Aber eines wusste sie mit Gewissheit: Jesus von Nazareth war der außergewöhnlichste Romanheld, von dem sie je gelesen hatte, seine Geschichte die verwirrendste und wunderbarste, die ihr je untergekommen war, und ihr Ende das grässlichste, das sie sich hätte ausmalen können.
Obwohl die letzten Seiten fehlten, bestand kein Zweifel: Er war gestorben. Für ihn war es zu spät. Doch was mit seinen Freunden geschah – diese Frage konnte sie nicht abschütteln. Sie waren geflohen, sie hatten ihn verraten, verleugnet, im Stich gelassen. Was würden sie jetzt tun, da er tot war?
Die Tür wurde von außen aufgestoßen, und Mira machte vor Schreck einen Satz rückwärts. „Hast du mich …“, setzte sie an, verstummte aber, als sie nicht in das mit rotem Lippenstift bemalte Gesicht ihrer Mutter sah, sondern in das von Iliona.
„Entschuldigung … ich wollte das Badezimmer putzen … ich dachte … ich … bitte entschuldigen Sie“, stammelte das Mädchen verschreckt. Sie war zurückgewichen und machte bereits Anstalten, die Tür zu schließen.
„Ich hab dir doch gesagt, dass du mich nicht zu siezen brauchst“, sagte Mira, und als sie sich bewusst wurde, wie harsch ihre Worte klangen, fügte sie freundlicher hinzu: „Ich bin hier fertig.“ Sie trat zur Seite, aber offenbar wagte Iliona es nicht, einzutreten. In ihrer längst nicht mehr weißen Bluse und der viel zu großen Schürze sah sie schmächtig und verloren aus. Wenn Mira nicht gewusst hätte, dass Iliona beinahe so alt war wie sie, hätte sie das Mädchen für höchstens dreizehn gehalten.
„Ich wollte Sie nicht stören“, sagte Iliona. „Ich …“
„Du musst mich nicht siezen. Ich bin Mira. So nennen mich …“
„ … meine Freunde“, hatte sie sagen wollen, aber sie kam nicht dazu, weil ihre Mutter in diesem Moment die Treppe hinaufkam.
„Hast du noch immer nicht angefangen?“ Sie schnalzte ungeduldig mit der Zunge, und Iliona schien, sofern das überhaupt möglich war, noch kleiner zu werden. „Für zwei Brotrationen die Woche erwarte ich, dass du deine Arbeit zügig und ordentlich erledigst. Das wirst du verstehen, nicht wahr?“ Das hätte nachsichtig klingen können, wenn sie nicht so missbilligend auf Iliona herabgeblickt hätte.
„Ja, Frau Robins“, erwiderte das Mädchen, ohne etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen.
Mira überlegte, ob es an ihr wäre, ihrer Mutter die Situation zu erklären, doch sie tat es nicht. Sie hatte gestern Abend schon den Ärger ihrer Eltern auf sich gezogen, indem sie zu spät nach Hause gekommen war. Und wenn sie bedachte, welch gefährliches Diebesgut unter ihrer Bluse steckte, hielt sie es für klüger, sich möglichst unauffällig zu verhalten.
Mira warf einen letzten Blick auf ihr müdes Gesicht im Spiegel. Dank des kurzen Haarschnitts sahen eigentlich alle Mädchen in ihrer Klasse mehr oder weniger gleich aus. Abgesehen vielleicht von Daphné Baron, deren honigblonder Schopf dafür sorgte, dass sie alle anderen überstrahlte. Miras Haar war dunkelbraun – nichts Besonderes, auch wenn ihr der warme Farbton nicht unlieb war. Weiche, fast noch ein bisschen kindliche Züge und große Augen. Grün waren sie immerhin. Die Farbe der Hoffnung – das gefiel Mira.
Sie fuhr sich durch das Haar und wandte sich vom Spiegel ab. Unter ihrer Bluse rieb das kleine Buch mit seinem rauen Ledereinband bei jeder Bewegung über ihre nackte Haut. Sie spürte es deutlich, als sie sich an Iliona vorbeischob und in den Flur zu ihrer Mutter