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Tod eines Clowns. Petra GabrielЧитать онлайн книгу.

Tod eines Clowns - Petra Gabriel


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Keller unter der Halle waren weitläufig. Bis zum Notausgang würde er es nicht mehr schaffen. Seine Augen suchten hektisch die Gewölbe ab.

      Das große Fass stand ganz hinten, es war wohl für ein halbes Fuder ausgelegt. Problemlos kletterte er hinein. Starker Weingeruch umnebelte ihn. Er versuchte, seine Gedanken klar zu halten. Hauptsache, die Polizei brachte keine Hunde mit. Aber die würden durch die Weinausdünstungen wahrscheinlich ohnehin irritiert sein. Sobald die Polizisten wieder weg waren, wollte er den Notausgang Richtung Bugenhagenstraße nehmen. Vom Fass bis dahin waren es nur etwa zehn Schritte.

KAPITEL ZWEI

      HOLGER GERICKE hatte sich für die Elektrische entschieden. Linie 95. Die galt als eine der sichersten für Republikflüchtlinge. Die Straßenbahnen wurden ohnehin weniger kontrolliert als die U- und die Stadtbahnen. Sie würden zunächst bis Endhaltestelle Ost fahren. Die lag vor dem Übergang. Nach einem kurzen Fußmarsch ging es dann mit der 95 West weiter.

      Die Elektrische quietschte und ruckelte über die Mittelpromenade der Sonnenallee. Die Gleise wurden nur noch notdürftig instand gehalten.

      Noch gab es sie, diese Straßenbahnlinien, die von Ost-Berlin in Richtung West-Berlin führten. Doch jeder wusste: Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie verschwinden würden. Auch die Strecke über die Sonnenallee war wahrscheinlich ein Auslaufmodell. Der Berliner Senat hatte bereits die Umstellung auf Busse beschlossen.

      Die Stimmung zwischen Ost und West spitzte sich erneut zu. Als zweite Berlin-Krise wurde dieses Machtgerangel bezeichnet. Gericke verstand nicht viel von Politik. Er wollte einfach nur leben dürfen und seine Familie ernähren, genug zu essen und zu trinken haben. Vor allem wollte er seine Würde bewahren und nicht schikaniert werden wegen der Mutter seiner Frau. Die war aus politischen Gründen in den Westen gegangen. Sie hatte sich als alte Sozialdemokratin einfach nicht mit der Zwangsvereinigung von SPD und SED abfinden können. Die inzwischen fast Achtzigjährige war kurzerhand in ein Altersheim in Berlin-West gezogen. Sie hatte Krebs, würde nicht mehr lange leben und wurde deshalb von ihrer Tochter so oft wie möglich besucht.

      Das Gespräch im vergangenen Jahr, oder besser den Monolog von Wolfgang Müller, seines Zeichens Pressechef beim VEB Zentral-Zirkus, für den Holger Gericke arbeitete, würde er für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen. «Gericke, reden Sie mit Ihrer Frau! Muss sie denn wirklich so oft in den Westen? Besuche dort sind nun mal nicht gern gesehen. Das ist ein sensibles Thema, seitdem sich Harry Barlay und sein Kompagnon Brumbach vor zehn Jahren mit ihrem halben Zirkus in den Westen davongemacht haben. Das wissen Sie so gut wie ich, mein lieber Gericke.»

      Und ob Gericke das wusste! Barlay hatte nach der Teilung Deutschlands schwer zu kämpfen gehabt. Zuerst, um überhaupt aus dem Westen für Gastspiele in die Zone kommen zu können. Er hatte sich die Rettung seines kränkelnden Zirkusunternehmens erhofft. Als es dann einigermaßen lief, spekulierte er auf einen eigenen Zirkusbau an der Friedrichstraße.

      Den Zirkusbau an der Friedrichstraße bekam Barlay 1948. Doch seine Pläne gingen nicht auf. Der Circus Busch musste sogar mit Dressuren aushelfen und schickte ihm nicht nur Epi Vidane mit seinen vier Elefanten, sondern auch Hermann Ullmann und Hildegard Noris mit der Hohen Schule der Pferdedressur. Und dann tauchten die Hinweise in den westlichen Blättern auf, die ihm ordentlich zu denken gaben. In der Neuen Zeitung stand, dass in Kürze die drei Unternehmen Aeros, Richard Busch in Bitterfeld und Barlay verstaatlicht würden. Harry Barlay wollte das wohl nicht miterleben, klamm und heimlich wanderte er mit den meisten Tieren und viel wertvollem Material in den Westen ab, der Zirkus Barlay an der Friedrichstraße blieb weiter bestehen. Die Bildung des DDR-Staatszirkus hatte dann doch noch rund zehn Jahre gedauert. Seit Januar 1960 waren die einst privaten Zirkusse Busch und Barlay nun unter dem sozialistischen Dach des VEB Zentral-Zirkus vereint. Aeros würde folgen. Barlay sollte dann offiziell Olympia heißen, doch für die Menschen blieb er Barlay. Der ehemalige Direktor des Zirkus Barlay hatte vom Westen aus nur noch zuschauen können, er war bankrott. Nein, die Republikflucht hatte ihm kein Glück gebracht, ebenso wenig wie seinem Kompagnon Brumbach. Gericke konnte nur hoffen, dass es ihm und seiner Familie besser erging und sie sich im Westen ein gutes Leben aufbauen konnten.

      Bei dem Gedanken an Barlays Zirkustreck gen Westen musste Holger Gericke schmunzeln. Seine Frau sah es und lächelte ihm zu. Sie nahm wohl an, dass er weit weniger Befürchtungen hatte als sie selbst, was ihren Neuanfang anbelangte. Doch er war kein mutiger Mann, auch wenn er so tat, um seine Familie nicht zu verunsichern – und weil Feigheit einfach nicht in das Bild passte, das man sich gewöhnlich von einem Raubtierdompteur machte. Raubtiere flößten ihm weniger Angst ein als das Leben und dieser Wechsel in eine neue Welt voller Unwägbarkeiten. Er brauchte die Sicherheit alltäglicher Routinen, das Wissen, dass bestimmte Dinge am nächsten Tag noch genauso sein würden wie am Tag zuvor. Sein Bett, die Wohnung, das Lächeln seiner Frau. Sogar die Mucken der Kinder. Die seines Sohnes Thomas, der sich langsam anschickte, seine eigenen Wege zu gehen, und die seiner Tochter Monika, die sich bald in der schwierigen Phase der Pubertät befinden würde.

      Er hatte Harry Barlay immer für dessen selbstsicheres Auftreten bewundert. Der schien keine Ängste zu kennen, auch nicht in Zeiten, in denen es drunter und drüber ging. Für den heimlichen Treck in den Westen hatte er sich eine wunderbare Legende verschafft: Er musste sich angeblich wegen einer Augenbehandlung in eine Klinik in Braunschweig begeben. Durch ein zuvor ausgekundschaftetes Tor einer Bahnunterführung im Norden Berlins war ein Großteil der Tiere in den französischen Sektor gebracht worden. Die berühmten Elefanten des Zirkus Barlay hatten nicht geschmuggelt werden müssen, die waren ohnehin auf Tournee in Westdeutschland gewesen.

      Die Organisation des Wagentrecks in den Westen hatte Barlays Kompagnon Gustav Brumbach übernommen. Und das auf eine ziemlich trickreiche Weise, das musste der Neid ihm lassen. Er hatte im Vorfeld schon einmal heimlich mit den Westalliierten gesprochen, ganz unverbindlich. Als die dann diskret durchblicken ließen, dass sie auch mal wegschauen könnten, ließ er sofort die Wagen umstreichen, so dass man den Namen Barlay nicht mehr lesen konnte, und schmuggelte sie auf verschiedenen Wegen über die innerstädtische Grenze. Zwei dieser Wagen wurden zum Beispiel hinter einen Traktor gespannt. An der Sektorengrenze erfuhren die überaus aufmerksamen Volkspolizisten zu ihrer Beruhigung, dass es sich um Wagen von West-Berliner Schaustellern handle, die man zurückbringen wolle. Damals konnten Schausteller aus dem Westen noch in allen vier Sektoren gastieren. Ein anderes Mal argumentierte Brumbach auf seine übliche joviale Weise und daher besonders einleuchtend, dass man nur deshalb West-Berlin durchqueren wolle, um schneller wieder am anderen Ende Berlins, in der Heimat der Werktätigen, zu sein. Auf Westgebiet wurde dann einer der beiden Wagen ausgehängt – und Brumbach fuhr mit nur einer Karre zurück in die Friedrichstraße, dann natürlich über einen anderen Sektorenübergang.

      Von West-Berlin aus gelangten Tiere und Material, ebenfalls mit diskreter Unterstützung der Westalliierten, nach Helmstedt: 90 Wagen, 35 Pferde sowie Tiger, Bären und andere Tiere. Anschließend ging die Reise in die kleine Industriestadt Eschweiler weiter, östlich von Aachen. In Eschweiler, auf dem dortigen Kasernengelände, war das Winterquartier der Republikflüchtlinge eingerichtet worden. Dort ging Harry Barlay letztendlich das Geld aus.

      Holger Gericke arbeitete damals schon bei Barlay und wusste, was vor sich ging. Er selbst wollte aber in Ost-Berlin bleiben. Er glaubte an eine Zukunft des Zirkus Barlay, war sich sicher, dass es wieder aufwärts gehe, dass der «Restzirkus» an der Friedrichstraße eine gute Überlebenschance habe. Heute fragte er sich, wie er so naiv hatte sein können.

      Im Osten zurückgeblieben war nämlich ein ausgebluteter Zirkus, der zwar über einen Bau an der Friedrichstraße verfügte, ansonsten aber nur noch über wenige, meist kranke Tiere und schrottreifes Material – ein Schatten seiner einstigen Größe. Der Zirkus kam einfach nicht wieder auf die Beine, trotz wechselnder Direktoren und West-Artisten machte er ständig Verluste. Das neue Chapiteau – in Grün, der Farbe der Hoffnung –, die neuen Stallzelte, die zunehmende Zahl der neugestrichenen Wagen, all das half nichts: Barlay schrieb weiter rote Zahlen. Gericke selbst versuchte sich an einer neuen Dressur, einer kleineren, mit Tieren, die ihre


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