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Mit Kindern wachsen. Jon Kabat-ZinnЧитать онлайн книгу.

Mit Kindern wachsen - Jon Kabat-Zinn


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und Sir Gawain eine glückliche Ehe wünschten. Und die arme Lady Ragnell schaute auf die gebeugten Köpfe all der Damen, die vortraten, um ihre Fingerspitze so kurz wie nur eben möglich zu berühren, denn sie konnten es nicht ertragen, sie anzuschauen oder sie auf die Wange zu küssen. Nur Cabal, der Hund, kam und leckte ihre Hand mit seiner warmen, feuchten Zunge, und er schaute sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen, die ihre Scheußlichkeit gar nicht wahrnahmen, lange an, denn die Augen eines Hundes sehen anders als die Augen eines Menschen.

      Das Gespräch bei Tisch war zäh und angestrengt, ein vergeblicher Versuch, Freude zu heucheln, während Sir Gawain und seine Braut starr neben dem König und der Königin an der Tafel saßen. Als die Tische abgeräumt worden waren und die Zeit zum Tanzen gekommen war, dachten viele, dass Sir Gawain nun wohl die Chance ergreifen und sich zu seinen Freunden gesellen würde. Doch er sagte: „Braut und Bräutigam müssen den ersten Tanz gemeinsam tanzen“ und bot Lady Ragnell seine Hand. Sie nahm sie mit einer scheußlichen Grimasse, die wohl ein Lächeln andeuten sollte, und machte dann einen ungelenken Satz nach vorn, um mit Sir Gawain den Tanz zu eröffnen. Unter den wachsamen Augen des Königs und Sir Gawains wagte es während des ganzen Festes keiner der Gäste, den Eindruck aufkommen zu lassen, es sei irgendetwas nicht in bester Ordnung.

      Schließlich endete das etwas gezwungene Fest, und die Neuvermählten zogen sich in das Hochzeitsgemach zurück. Dort warf Gawain sich vor dem Kamin in einen Sessel mit vielen Kissen und starrte in die Flammen, ohne seine Braut zu beachten. Da wehte ein plötzlicher Luftzug die Kerzenflammen zur Seite, so dass es schien, als würden die Wesen auf den bestickten Wandteppichen zum Leben erwachen. Irgendwo in sehr weiter Ferne glaubte Gawain das schwache Echo eines Jagdhorns zu hören, als käme es aus dem Herzen des verwunschenen Waldes.

      Vom Fußende des Bettes her vernahm er eine leichte Bewegung und das Rascheln eines Nachtgewandes. Dann ertönte eine leise, sanfte Stimme und sagte: „Gawain, mein Liebster, weißt du denn nichts zu mir zu sagen? Kannst du es nicht einmal ertragen, mir einen Blick zu schenken?“

      Gawain zwang sich, ihr seinen Kopf zuzuwenden. Dann sprang er auf, denn er konnte nicht fassen, was er sah: Zwischen den Kerzenleuchtern stand die schönste Frau, die er je in seinem Leben gesehen hatte.

      „Lady“, sagte er atemlos und nicht sicher, ob er wach war oder träumte, „Wer seid Ihr? Wo ist meine Frau, Lady Ragnell?“

      „Ich bin deine Frau, Lady Ragnell“, antwortete sie, „die Frau, die du im Walde gefunden und die du heute abend geheiratet hast, um die Schuld deines Königs zu begleichen – und vielleicht auch ein wenig aus Güte.“ „Aber – aber ich verstehe das nicht“, stammelte Gawain. „Ihr habt Euch so verändert.“

      „Ja“, sagte die junge Frau. „Ich habe mich verändert, nicht wahr? Ich befand mich unter einem Zauber, und ich bin auch noch nicht völlig frei davon. Doch kann ich nun eine kleine Weile in meiner wahren Gestalt mit dir zusammen sein. Ist mein Herr zufrieden mit seiner Braut?“

      Sie kam ein wenig auf ihn zu, und er streckte seine Arme nach ihr aus und umfasste sie. „Zufrieden? Meine Geliebte, ich bin der glücklichste Mann auf der ganzen Welt; denn ich glaubte, die Ehre meines Onkels, des Königs zu retten, und tatsächlich ist mein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen. Und doch habe ich schon im ersten Augenblick unserer Begegnung gespürt, dass irgendetwas in dir mich berührte und irgendetwas in mir auf diesen Impuls antwortete.“

      Nach einer Weile legte die Lady ihre Hände auf seine Brust und drückte ihn sanft von sich weg. „Hör zu“, sagte sie, „du musst nun eine schwierige Entscheidung treffen. Ich habe dir schon gesagt, dass ich bis jetzt nur teilweise von dem Zauber befreit bin, der auf mir lastet. Weil du mich zur Frau genommen hast, ist er zur Hälfte gelöst; aber eben nur zur Hälfte.“

      Lady Ragnell erklärte, dass sie nun jeweils die Hälfte eines Tages in ihrer natürlichen Gestalt erscheinen könne, und Gawain müsse entscheiden, ob er sie am Tage schön und in der Nacht hässlich oder in der Nacht schön und am Tage hässlich sehen wolle.

      „Das ist wahrlich eine schwere Entscheidung“, sagte Gawain.

      „Denke nach“, erwiderte Lady Ragnell.

      Doch Sir Gawain sagte ohne zu zögern: „Meine Liebe, sei hässlich am Tag und schön für mich allein!“

      „Wohlan“, antwortete Lady Ragnell, „ist das deine Entscheidung? Muss ich hässlich und entstellt sein unter den Damen der Königin und ihre Verachtung und ihr Mitleid ertragen, obgleich ich in Wahrheit so schön bin wie sie alle? Sir Gawain, ist dies Eure Liebe?“

      Sir Gawain beugte nun sein Haupt. „Ich habe nur an mich selbst gedacht. Wenn es Euch glücklicher macht, so seid schön am Tage und nehmt bei Hof den Platz ein, der Euch gebührt. In der Nacht werde ich Eure sanfte Stimme in der Dunkelheit hören und mich daran erfreuen.“

      „Das ist fürwahr die Antwort eines Geliebten“, sagte Lady Ragnell. „Aber ich möchte schön für dich sein; nicht nur für den Hof und für die Welt am Tage, die mir weitaus weniger bedeuten als du.“

      Und Gawain sagte: „Wie es auch sei, du bist es, die am meisten leidet; und da du eine Frau bist, glaube ich, dass du in diesen Dingen über mehr Weisheit verfügst als ich. Entscheide selbst, meine Liebe, und wie du auch entscheiden magst, ich werde damit zufrieden sein.“

      Daraufhin schmiegte Lady Ragnell sich an ihn und weinte und lachte zugleich. „Oh, Gawain, mein Liebster, indem du erkannt hast, dass ich die Entscheidung treffen muss, indem du mir meinen eigenen Willen gelassen hast, indem du mir eben jene Selbstbestimmung gewährt hast, die die Antwort auf die Rätselfrage war, hast du den Zauber völlig gebrochen, und ich bin nun frei von ihm und kann bei Tag und bei Nacht meine wahre Gestalt zeigen.“

      Sieben Jahre lebten Sir Gawain und Lady Ragnell überglücklich zusammen, und während dieser ganzen Zeit war Gawain sanfter, gütiger und unerschütterlicher, als er je zuvor gewesen war. Nach sieben Jahren jedoch ging Lady Ragnell davon – niemand wusste wohin –, und etwas von Gawain entschwand mit ihr.

      Teil Drei

      Grundlagen der

      Achtsamkeit in der Familie

      Selbstbestimmung

      Schauen wir uns nun das geheimnisvolle Juwel im Herzen von Gawains Geschichte an: Selbstbestimmung, die Antwort auf die Rätselfrage: „Was begehren Frauen am meisten?“

      Das Wissen von der Selbstbestimmung errettete König Arthur vor dem sicheren Tod. Doch erst das tiefe Gefühl für den Wert der Selbstbestimmung, das aus Sir Gawains Empathie gegenüber Lady Ragnell erwuchs, löste ein Dilemma, das allein mit Hilfe des Denkens nie hätte gelöst werden können: Indem er ihr die Entscheidung überließ, gestand er ihr Selbstbestimmung zu, und dadurch wurde die Transformation möglich.

      Dies ist auch der Schlüssel, wenn wir Achtsamkeit in der Familie kultivieren wollen. Indem wir unseren Kindern Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit zugestehen, ermöglichen wir ihnen zum einen, sich so zu zeigen, wie sie wirklich sind, und zum anderen, ihren eigenen Weg zu finden. Beides benötigen sie, um wirklich erwachsen werden zu können.

      Wie oft sind unsere Kinder wie in einem Zauber gefangen, wie oft werden sie von mächtigen Energien mitgerissen, so dass sie plötzlich zu Dämonen, Hexen, Trollen, Ungeheuern und Kobolden werden? Sind wir als Eltern in solchen Augenblicken so wie Gawain in der Lage, die äußere Erscheinung zu durchschauen, über die wir vielleicht erschrecken, und ihre wahre Natur hinter dem Zauber zu erkennen? Können wir Raum in uns schaffen, so dass wir sie so lieben können, wie sie sind, ohne dass sie sich verändern müssen, um uns zu gefallen? Und wie oft stehen wir Eltern selbst unter einem Zauberbann? Wie oft zeigen wir unseren Kindern unsere grausame Seite, den Menschenfresser oder die Hexe in uns? Wie sehr sehnen wir uns insgeheim danach, von anderen so gesehen und akzeptiert zu werden, wie wir sind, und unseren eigenen Weg in unserem Leben zu finden?

      Mary Pipher weist in ihrem Buch Reviving Ophelia darauf hin, dass die Antwort auf Sigmund Freuds gönnerhafte Frage: „Was wollen Frauen?“ in Therapiesitzungen mit Frauen immer wieder zutage tritt und dass, obwohl sie alle „etwas anderes und Spezielles


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