Mit Kindern wachsen. Jon Kabat-ZinnЧитать онлайн книгу.
Situationen, in denen wir mit unseren Kindern zusammen sind, zu entwickeln. Das ist eine echte Übungsmethode, eine innere Disziplin, eine Form der Meditation, die sowohl Kindern als auch Eltern großen Nutzen bringen kann.
Wenn wir von unseren Kinder lernen wollen, ist es notwendig, dass wir im Umgang mit ihnen aufmerksam sind und innerlich still werden. Diese innere Stille ermöglicht es uns, den ständigen inneren Aufruhr, die Unklarheit und die automatischen Reaktionen unseres Geistes zu durchschauen und so ein größeres Maß an Klarheit, Ruhe und Verständnis zu entwickeln – Eigenschaften, die sich unmittelbar auf unseren Umgang mit unseren Kindern auswirken.
Wie alle Menschen haben auch Eltern ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte, und ebenso wie ihre Kinder haben auch sie ihr eigenes Leben. Das Problem ist, dass die Bedürfnisse der Eltern und ihrer Kinder sehr oft unterschiedlicher Natur sind. Sie sind gleichermaßen berechtigt und wichtig, aber sie sind ganz einfach unterschiedlich und stehen manchmal im Widerspruch zueinander. Durch dieses Aufeinanderprallen unterschiedlicher Bedürfnisse kann sich ein Kampf entwickeln, in dem es darum geht, wer von beiden Seiten „seinen Willen durchsetzt“. Diese Gefahr besteht besonders dann, wenn wir uns als Eltern gestresst, überlastet und erschöpft fühlen.
Statt unsere Bedürfnisse gegen die unserer Kinder auszuspielen, können wir in solchen Augenblicken versuchen, uns der Interdependenz unserer Bedürfnisse bewusst zu werden. Unser Leben ist zutiefst mit dem Leben unserer Kinder verbunden. Wenn es ihnen nicht gut geht, leiden auch wir, und wenn es uns nicht gut geht, leiden sie.
Das bedeutet, dass es allen Beteiligten hilft, wenn wir uns der Bedürfnisse unserer Kinder und unserer eigenen Bedürfnisse bewusst sind, der emotionalen wie der physischen – und wenn wir dem Alter der Kinder angemessene Wege suchen, wie jeder bekommen kann, was er oder sie am meisten braucht. Schon allein diese Sensibilität im Umgang mit uns selbst und unseren Kindern verstärkt unsere Verbindung zueinander. Durch die Qualität unserer Präsenz spüren sie selbst in schwierigen Situationen, dass sie uns wichtig sind und wir für sie sorgen. Treten dann Konflikte zwischen unseren Bedürfnissen und den Bedürfnissen unserer Kinder auf, so sind wir in der Lage, Entscheidungen zu treffen, die aus dieser Herzensbeziehung hervorgehen und so in stärkerem Maße von Güte und Weisheit getragen sind.
Wir betrachten die Aufgabe, die Eltern übernehmen, als eine heilige Verantwortung. Eltern sind für ihre Kinder Beschützer, Ernährer, Tröster, Lehrer, Gefährten, Vorbilder und Quellen bedingungsloser Liebe und Geborgenheit. Wenn wir in diesem Bewusstsein leben und handeln und wenn wir uns bemühen, in dem Prozess, der sich Augenblick für Augenblick entfaltet, ein gewisses Maß an Achtsamkeit zu entwickeln, dann besteht eine größere Chance, dass die Entscheidungen, die wir als Eltern treffen müssen, aus dem Gewahrsein dessen erwachsen, was der Augenblick erfordert und was dieses Kind in dieser Phase seines Lebens durch sein Wesen und sein Verhalten von uns erbittet. Wenn wir uns dieser Herausforderung stellen, erhöht sich dadurch nicht nur die Chance, dass wir für unsere Kinder das Bestmögliche tun, sondern wir erkennen vielleicht auch zum ersten Mal die tiefsten und besten Kräfte in uns selbst.
Achtsamkeit im Umgang mit Kindern erfordert, dass wir die Herausforderungen erkennen, mit denen wir als Eltern tagtäglich konfrontiert werden, und dass wir versuchen, unsere Aufgaben mit Gewahrsein zu erfüllen. Dieses Gewahrsein kann alle Aspekte der Realität einschließen: unsere Frustration, unsere Unsicherheit und Unzulänglichkeit, unsere Grenzen und sogar unsere dunkelsten und destruktivsten Gefühle sowie die Situationen, in denen wir uns überfordert oder innerlich völlig zerrissen fühlen. Auch und gerade mit diesen problematischen Aspekten unseres Seins sind wir aufgefordert, bewusst und systematisch zu „arbeiten“.
Dies zu verwirklichen ist eine gewaltige Aufgabe. Wir alle sind in vielerlei Hinsicht von den Ereignissen und Umständen unserer eigenen Kindheit geprägt, und wir können sogar in mehr oder weniger starkem Maße Gefangene dieser Geschehnisse sein. Und unsere eigene Kindheit hat nicht nur entscheidenden Einfluss darauf, wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen – unsere Lebensgeschichte wirkt sich zwangsläufig auch darauf aus, wie wir unsere Kinder wahrnehmen, darauf, was wir glauben, „was sie verdienen“, wie für sie gesorgt und wie sie erzogen und „sozialisiert“ werden sollten. Wir alle halten als Eltern sehr strikt und oft unbewusst an bestimmten Ansichten fest, was immer sie beinhalten mögen, als befänden wir uns unter dem Einfluss eines mächtigen Zaubers. Nur wenn wir uns dieser prägenden Einflüsse bewusst werden, können wir die Elemente unserer eigenen Erziehung nutzen, die sich für uns selbst als hilfreich, positiv und förderlich erwiesen haben, und erst dann wird es uns gelingen, über die destruktiven und blockierenden Aspekte hinauszuwachsen.
Für diejenigen unter uns, die sich in ihrer Kindheit verschließen mussten, um ihre Gefühle zu unterdrücken oder um sie „nicht zu sehen“, weil sie nur so das Geschehen ertragen konnten, kann es besonders schmerzhaft und schwierig sein, ein größeres Maß an Achtsamkeit zu entwickeln. In Augenblicken, in denen die alten Dämonen wieder lebendig werden, wenn schädliche Überzeugungen, destruktive Muster und Alpträume aus unserer Kindheit wieder zutage treten und wir von dunklen Gefühlen und von Schwarzweißdenken geplagt werden, ist es besonders schwierig für uns, innezuhalten und einen frischen Blick auf die Dinge zu werfen.
Wir wollen hier keineswegs den Eindruck erwecken, dass es irgendeinen festen oder gar objektiven Maßstab für elterliche Achtsamkeit gibt, an dem Eltern sich orientieren oder messen sollten. Achtsamkeit erfordert immer die kontinuierliche Vertiefung und Verfeinerung des Gewahrseins und der Fähigkeit, in der Gegenwart präsent zu sein und angemessen zu handeln. Es geht also keineswegs darum, dass wir ein festes Ziel oder Ergebnis erreichen, so wertvoll uns ein solches auch erscheinen mag. Ein wichtiger Teil des Prozesses ist, dass wir uns selbst mit einem gewissen Maß an Güte und Mitgefühl sehen. Dazu gehört, dass wir uns unserer Schwierigkeiten, unserer Blindheit, unserer menschlichen Schwäche und Fehlbarkeit bewusst sind und dass wir so achtsam wie möglich an ihnen arbeiten. Auch in Augenblicken der Dunkelheit und Verzweiflung, die uns zeigen, dass wir im Grunde nichts wissen, können wir immer wieder frisch und unbelastet anfangen. Jeder Augenblick ist ein Neuanfang, eine Gelegenheit zur Einstimmung auf das, was ist, und vielleicht sogar eine Chance, uns selbst und unsere Kinder auf eine neuartige und tiefere Weise zu sehen, zu fühlen und zu erkennen.
Denn die Liebe zu unseren Kindern kommt in der Qualität unserer Beziehung zu ihnen in jedem neuen Augenblick zum Ausdruck, und sie vertieft sich in alltäglichen Momenten, sofern wir uns dieser Momente bewusst und wir in ihnen voll und ganz präsent sind. Liebe kommt nicht nur in großen Gesten zum Ausdruck, beispielsweise darin, dass wir unseren Kindern eine Reise in einen Erlebnispark schenken, sondern sie zeigt sich unter anderem in der Art, wie wir ihnen das Brot reichen oder wie wir ihnen „Guten Morgen“ sagen. Sie äußert sich in alltäglicher Güte, in dem Verständnis, das wir ihnen entgegenbringen, und in einer generell akzeptierenden Haltung. Wir bringen Liebe zum Ausdruck, indem wir liebevoll handeln. Ob es uns in einem bestimmten Augenblick gut oder schlecht gehen mag, der wichtigste Maßstab für unsere Fürsorge und beharrliche Liebe zu unseren Kindern ist die Qualität unserer Aufmerksamkeit.
Dieses Buch wendet sich an Menschen, denen die Qualität des Familienlebens und das Wohl ihrer Kinder wichtig ist – der schon geborenen und der noch ungeborenen, der jungen wie der älteren. Wir hoffen, dass es Eltern in ihrem Bemühen unterstützt, ihre Liebe durch ihr Sein und Handeln im Alltag zum Ausdruck zu bringen. Das ist uns nur möglich, wenn es uns gelingt, in unserem eigenen Leben authentisch zu sein und wenn wir mit dem ganzen Spektrum unserer Gefühle in Kontakt sind – kurz gesagt: wenn wir wach sind.
In der Art, wie wir unsere Aufgabe als Eltern erfüllen, kommen unsere besten und übelsten Seiten zum Vorschein, und wir erleben in dieser Rolle sowohl die befriedigendsten als auch die erschreckendsten Momente unseres Lebens. Einfühlsam über das Leben von Eltern zu schreiben ist eine ungeheuer anspruchsvolle Aufgabe. Zeitweise haben wir das Gefühl, dass in unserer Familie alles zum Besten steht. Unsere Kinder wirken in solchen Momenten glücklich, stark und ausgeglichen. Am nächsten Tag jedoch – oder schon im nächsten Augenblick! – kann die Hölle losbrechen.