GEWAHR SEIN. Daniel SiegelЧитать онлайн книгу.
der vierte Aspekt des Geistes definiert den Geist als einen zum Teil regulatorischen Prozess. Den Geist zu stärken bedeutet, diese beiden Regulationsschritte durchzuführen.
1. Stabilisieren Sie das Beobachten, sodass Sie auf tiefere, klarere und detailliertere Art und Weise wahrnehmen können.
2. Modifizieren Sie in Richtung Integration, sodass Sie durch Differenzierung und Verknüpfung formen können.
Aus dieser Perspektive erklären sich die drei grundlegenden Elemente, um einen starken Geist zu trainieren.
Drei Säulen des Geistestrainings
Forschungsberichte zeigen, dass die drei Faktoren – fokussierte Aufmerksamkeit, offenes Gewahrsein und die Ausbildung von Mitgefühl oder das, was wir freundliche Absicht nennen – drei der Kernbestandteile dafür sind, um Wohlbefinden und Glück in unserem Leben zu entwickeln. Es kann gut sein, dass künftig noch weitere Elemente hinzukommen.
Die wissenschaftlich belegten Elemente des Geistestrainings beziehen diese drei Aspekte mit ein:
1. Fokussierte Aufmerksamkeit: die Fähigkeit, die eigene Konzentration aufrechtzuerhalten, Ablenkungen zu ignorieren oder sie loszulassen, wenn sie auftauchen, und die Aufmerksamkeit erneut auf das gewählte Objekt der Aufmerksamkeit zu richten.
2. Offenes Gewahrsein: die Erfahrung der Geistesgegenwart, bei der ein Zustand des Empfänglich-Seins für Objekte innerhalb des Gewahrseins aufrechterhalten wird, ohne sich an sie zu binden oder sich in ihnen zu verlieren.
3. Freundliche Absicht: die Fähigkeit, über einen Geisteszustand mit positiver Aufmerksamkeit, Mitgefühl sowie nach innen gerichteter Liebe (was manchmal als »Selbstmitgefühl« bezeichnet wird und was wir »inneres Mitgefühl« nennen) und nach außen gerichteter Liebe (was manchmal als »außengeleitetes« Mitgefühl bezeichnet wird und was wir interpersonelles Mitgefühl nennen) zu verfügen.
Die Forschung weist darauf hin, dass diese drei Aspekte sich gegenseitig ergänzen und wachsendes Wohlbefinden in Körper und Geist, unsere Beziehung zu uns selbst und zu anderen und unser mentales Leben, unsere Aufmerksamkeit, unsere Gefühle, unsere Gedanken und unser Gedächtnis unterstützen.
Insgesamt betrachtet, zeigt sich auch hier der Mechanismus, den wir bereits beschrieben haben – dort, wohin die Aufmerksamkeit geht, findet neuronales Feuern statt und es bilden sich neuronale Verbindungen.
Eine Möglichkeit, um mehr Präsenz in unserem Leben zu entwickeln, um achtsamer in unserem Alltagsleben zu werden, sodass wir dessen gewahr sind, was gerade geschieht, und um innerhalb dieses offenen Gewahrseins freundliche Aufmerksamkeit zu kultivieren, besteht darin, eine regelmäßige Praxis durchzuführen, die den Geist auf diese drei miteinander verbundenen Arten und Weisen trainiert. Dieses Geistestraining wird manchmal Meditation genannt. Wenn wir lernen, die fokussierte Aufmerksamkeit zu stärken, machen wir uns im Wesentlichen die Kraft unserer Speiche zunutze, um die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Punkte entlang unseres Rands auszurichten. Wir lernen, unsere Aufmerksamkeit auszurichten, sie aufrechtzuerhalten und Abweichungen in unserem Fokus zu erkennen und dann die Aufmerksamkeit umzuleiten. Offenes Gewahrsein hilft uns, unseren Zugang zur Nabe zu stärken, indem wir das Wissen des Gewahrseins vom Gewussten auf dem Rand unterscheiden. Mithilfe dieser Beobachtung können wir emotionales Gleichgewicht erlangen, indem wir wissen, wann wir in den Rand hineingezogen werden, und unsere Fähigkeit, zur Gelassenheit der Nabe zurückzukehren, nutzen. Und mithilfe der freundlichen Absicht entwickeln wir die Grundlagen von Empathie und Mitgefühl, die Fürsorge für andere und uns selbst.
Der Begriff Achtsamkeit, der häufig zusammen mit dem Begriff Achtsamkeitsmeditation gebraucht wird, besitzt tatsächlich keine singuläre, fixe Definition, die von allen Übenden und Forschern geteilt wird. Das Wesentliche dieses Begriffs kann so zusammengefasst werden: sich dessen gewahr zu sein, was passiert, während es passiert, ohne von vorherbestimmten mentalen Aktivitäten wie Urteilen oder Ideen, Erinnerungen oder Emotionen hineingezogen zu werden. In unserem Forschungszentrum an der UCLA bieten wir Übungen in achtsamem Gewahrsein an (auf englisch: »MAPs« = »mindful awareness practices«, A.d.Ü.), die, wie die Wissenschaft gezeigt hat, das Wohlbefinden im Körper, im Geist und in den Beziehungen fördern. MAPs schließen Sitzmeditation, Gehmeditation, Yoga, Tai-Chi, Qigong und Gebete ein. Dies alles sind Wege, auf denen wir den Geist stärken und Gesundheit in unser Leben bringen können.
Für mich können diese MAPs als etwas betrachtet werden, das sich durch folgende gemeinsame Merkmale auszeichnet. Natürlich geht es um Gewahrsein. Doch darüber hinaus berücksichtigen sie, dass man seiner Absicht Aufmerksamkeit schenkt und der Erfahrung des Gewahrseins selbst gewahr wird. In vielen, aber nicht in allen Übungen geht es um eine freundliche Aufmerksamkeit, ein Gefühl der Fürsorge und des Mitgefühls sich selbst und anderen gegenüber, was meine psychologischen Kollegen Trudy Goodman Kornfield und Jack Kornfield, zusammen mit Ram Dass, liebevolles Gewahrsein genannt haben und was Shauna Shapiro und ihre Kollegen als freundliche Aufmerksamkeit bezeichnet. Shelly Herrell gebraucht den Begriff »soulfulness«, um Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund erreichen zu können, die eher etwas mit der Vorstellung, seelenvoll oder gefühlvoll als achtsam zu sein, anfangen können. Andere Psychologen, wie etwa Paul Gilbert, haben sich mehr auf das Mitgefühl fokussiert, während wiederum andere, wie Kristin Neff und Christopher Germer, diese Mitgefühlskomponente von der Achtsamkeit selbst unterschieden haben und insbesondere das Selbstmitgefühl thematisiert und studiert haben.
Präsenz wird manchmal für die Vorstellung des Gewahr- und Empfänglich-Seins für das, was gerade geschieht, gebraucht. Präsenz umfasst die Sensibilität, dass wir unseren Geisteszustand variieren können, und zwar selbst dann, wenn unser physischer Körper gerade mit einer Erfahrung beschäftigt ist. Wir können über ein empfängliches Gewahrsein dessen verfügen, während es gerade geschieht, und dann von »achtsam sein« sprechen. Oder wir könnten abgelenkt werden, während unser Geist zu anderen Belangen abschweift, ganz gleich, auf was wir uns zu fokussieren versuchten oder in welche Aktivität wir physisch involviert sind. Wenn unser Geist unabsichtlich abschweift, dann sind wir nicht präsent, nicht auf eine empfängliche Art und Weise gewahr, nicht achtsam, und wir hemmen, wie Studien belegen, das Glücklich-Sein – sogar dann, wenn wir von aufregenden Dingen tagträumen. Mentale Präsenz ist ein Seinszustand des Hellwach- und Empfänglich-Seins für das, was geschieht, während es gerade geschieht, in uns selbst und zwischen der Welt und uns. Präsenz kultiviert Glück.
Ich habe das Akronym COAL entwickelt, um mich selbst an den Zustand der Präsenz zu erinnern, der, so glaube ich, im Zentrum jedes empfänglichen Gewahrseins steht, das man als achtsam bezeichnen könnte oder was andere als herzlich, gefühlvoll oder freundlich bezeichnen: Neugier, Offenheit, Akzeptanz und Liebe2. In diesem Geisteszustand sind wir für das Leben präsent.
Obgleich die populäre Bezeichnung achtsam eine Vielzahl an Bedeutung in sich schließt, die von vielen Klinikern und Forschern benutzt wird, explodierte das öffentliche Interesse an der Achtsamkeit in den letzten Jahren, der Unkenntnis seiner genauen Bedeutung zum Trotz. Der aufregende Teil dieser expandierenden Neugier besteht für mich darin, dass Menschen daran interessiert zu sein scheinen, zu erkunden, wie sie mehr Präsenz in ihrem Leben entwickeln könnten, sodass sie gesünder, glücklicher und freundlicher sich selbst und anderen gegenüber sein können. Alles davon kann als ein Weg angesehen werden, den Geist selbst wahrzunehmen, ein Prozess mit verschiedenen Namen, den ich Mindsight nenne. Mindsight befähigt uns zu Einsicht, Empathie und Integration.
Erstaunlicherweise entwickeln wir diese wichtigen Fertigkeiten des Geistes mithilfe des Aufmerksamkeitsfokus. Vielleicht haben Sie in unserer ersten Übung zum Gewahrsein des Atems bemerkt, dass Ihr Geist regelmäßig von seinem beabsichtigten Fokus abschweift. Lassen Sie uns erkunden, was diese unterschiedlichen Merkmale der Aufmerksamkeit im Zentrum einer so einfachen Übung, wie sich auf die Wahrnehmung des Atems zu fokussieren, sein könnten.
Fokale und nicht-fokale Aufmerksamkeit
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