Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen. Daniel SiegelЧитать онлайн книгу.
blühen auf, wenn sie einen absichtsvollen Austausch mit ihren Eltern erleben. In ihrer emotionalen Bindung zu uns entwickeln Kinder dabei ein tieferes Verständnis ihrer selbst sowie die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen.
Lebenslanges Lernen
Ihre Kinder bieten Ihnen die Möglichkeit, sich zu entwickeln, und fordern Sie dazu heraus, sich mit unerledigten Angelegenheiten Ihrer eigenen Kindheit zu befassen. Wenn Sie diese Herausforderung als Last empfinden, kann das Leben mit Kindern zu einer lästigen Pflicht werden. Wenn Sie hingegen versuchen, diese Momente als Chance zu begreifen, dann können Sie wachsen und sich weiterentwickeln. Mit der Bereitschaft, ein ganzes Leben lang dazuzulernen, können Sie sich dieser „Entdeckungsreise Erziehung“ mit großer Offenheit nähern.
Der Geist entwickelt sich ein Leben lang weiter. Er wird durch die Aktivität des Gehirns hervorgebracht, so dass die Erkenntnisse der Hirnforschung dazu beitragen können, dass wir uns selbst besser verstehen. Neuere Ergebnisse in den Neurowissenschaften lassen den Schluss zu, dass das Gehirn ein Leben lang sowohl neue Verbindungen und möglicherweise sogar neue Nervenzellen, Neurone, bildet. Die Verbindungen zwischen den Neuronen bestimmen, wie geistige Prozesse hervorgebracht werden. Erfahrungen führen zu neuralen Verbindungen im Gehirn. Daher formen Erfahrungen das Gehirn. Zwischenmenschliche Beziehungen und das Nachdenken über uns Selbst fördern die stetige Entwicklung des Geistes: Als Eltern haben wir die Chance, unaufhörlich zu lernen, indem wir unsere Erfahrungen aus immer wieder neuen Blickwinkeln betrachten. Und wir können bei unseren Kindern eine offene Geisteshaltung unterstützen, indem wir ihre Neugier wach halten und sie bei ihrer immer weiter führenden Erkundung der Welt begleiten. Die komplexen und oft herausfordernden Interaktionen im Leben mit Kindern schaffen uns immer wieder die Gelegenheit, dass unsere Kinder und wir selbst wachsen und uns entwickeln.
Flexibles Verhalten
Sich flexibel verhalten zu können ist eine der größten Herausforderungen für Eltern. Flexibles Verhalten ist die geistige Fähigkeit, eine Vielzahl mentaler Prozesse, beispielsweise Impulse, Ideen und Gefühle, zu sichten und wohlüberlegt zu handeln. Anstatt einfach automatisch auf eine Situation zu reagieren, kann jeder Einzelne abwägen und eine angemessene Handlungsweise bewusst auswählen. Flexible Handlungen sind das Gegenteil einer reflexartigen Handlung. Dazu gehört, dass man Bedürfnisse zurückstellen und impulsives Verhalten zügeln kann. Diese Fähigkeit ist ein Grundstein für emotionale Reife und mitfühlende Beziehungen.
Unter bestimmten Umständen kann unsere Flexibilität gestört sein. Wenn wir müde, hungrig, frustriert, enttäuscht oder wütend sind, können wir vielleicht nicht mehr nachdenken und sind in der freien Wahl unseres Verhaltens eingeschränkt. Wir können ganz von unseren Gefühlen mitgerissen werden und die Übersicht verlieren. In solchen Momenten können wir nicht mehr klar denken und laufen sehr stark Gefahr, überzogen zu reagieren und unseren Kindern Leid zu verursachen.
Kinder fordern uns dazu heraus, flexibel und emotional ausgeglichen zu bleiben. Es ist bisweilen schwierig, Flexibilität und die Bedeutung von Strukturen im Leben eines Kindes richtig auszubalancieren. Eltern können lernen, dieses Gleichgewicht herzustellen und Flexibilität bei ihren Kindern fördern, indem sie selbst im Umgang mit anderen beweglich bleiben. Wenn wir flexibel sind, haben wir die Wahl, wie wir uns verhalten und welchen erzieherischen Ansatz und welche Wertvorstellungen wir unterstützen. Wir können agieren anstatt nur zu reagieren. Mit dieser Flexibilität können wir etliche Emotionen im Zaum halten und, nachdem wir den Standpunkt unseres Gegenübers in Betracht gezogen haben, überlegen, wie wir darauf antworten. Wenn Eltern flexibel auf ihre Kinder eingehen können, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass auch ihre Kinder Flexibilität entwickeln.
Die Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes
Die Fähigkeit, unsere eigenen geistigen Prozesse und die anderer wahrzunehmen, bezeichnen wir als mindsight, als „Sicht des Geistes“ oder „Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes“. Unser Geist erschafft Abbildungen, so genannte Repräsentationen, von Objekten und Ideen. So können wir zum Beispiel das Bild einer Blume oder eines Hundes in unserem Geist visualisieren, obwohl in unserem Kopf nicht wirklich eine Pflanze oder ein Hund existiert, nur ein neural konstruiertes Symbol, das Informationen über das jeweilige Objekt enthält. Die Geistsicht stützt sich auf dessen Fähigkeit, mentale Bilder seiner selbst zu erschaffen. Diese Fähigkeit erlaubt es uns, unser Augenmerk auf unsere eigenen Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, Empfindungen, Erinnerungen, Überzeugungen, Einstellungen und Absichten und auf die anderer zu richten. Dies sind die Grundelemente des Geistes, die wir wahrnehmen und verwenden können, um unsere Kinder und uns selbst zu verstehen.
Eltern reagieren auf das Verhalten ihrer Kinder oft, indem sie sich auf den oberflächlichen Eindruck der Erfahrung konzentrieren, und nicht auf die tiefere Ebene des Geistes. Manchmal schauen wir wohl nur auf das Verhalten anderer und nehmen nur die Art und Weise wahr, wie Menschen handeln, ohne die inneren Abläufe zu sehen, die diese Handlungen herbeiführen. Es gibt jedoch eine tiefere Ebene hinter dem Verhalten, die Wurzel unserer Motive und Handlungen. Diese tiefere Ebene ist der Geist. Die Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes erlaubt es uns, unser Augenmerk auf mehr als nur die Oberfläche unserer Erfahrungen zu richten. Eltern, die sich im Umgang mit ihren Kindern auf die geistige Ebene konzentrieren, fördern die Entwicklung von emotionalem Verständnis und Mitgefühl. Mit Kindern über ihre Gedanken, Erinnerungen und Gefühle zu sprechen gibt ihnen wichtige zwischenmenschliche Erfahrungen, die sie benötigen, um sich selbst zu verstehen und ihre sozialen Fähigkeiten zu entwickeln.
Mit der Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes können Eltern durch die wahrgenommenen Hauptsignale hindurch den Geist ihrer Kinder „sehen“. Verbale Informationen, die Worte, die Menschen verwenden, sind nur ein Teil davon, wie wir zum Verständnis anderer gelangen. Nonverbale Mitteilungen wie Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Tonfall, Gestik und Körperhaltung sowie die zeitliche Abstimmung und die Intensität einer Erwiderung sind ebenso außerordentlich wichtige Elemente der Kommunikation. Diese nonverbalen Signale können direkter ausdrücken, was in uns vorgeht, als unsere Worte es vermögen. Offenheit gegenüber nonverbaler Kommunikation hilft uns dabei, unsere Kinder besser zu verstehen, und erlaubt es uns, ihre Sichtweise in Betracht zu ziehen und mitfühlend auf sie einzugehen.
Freudvolles Leben
Freude an Ihrem Kind zu haben und Anteilnahme an dem Abenteuer zu entdecken, was es heißt lebendig zu sein, ein Mensch in einer wunderbaren Welt zu sein, ist für die Entwicklung eines positiven kindlichen Selbstverständnisses von grundlegender Bedeutung. Wenn wir uns selbst und unseren Kindern respektvoll und mitfühlend begegnen, gewinnen wir oft eine neue Perspektive, die unsere Freude am gemeinsamen Leben bereichern kann. Sich an die Erfahrungen des täglichen Lebens zu erinnern und darüber nachzudenken, bewirkt ein tiefes Gefühl von Verbundenheit und Verständnis.
Eltern können der Aufforderung ihrer Kinder, die Schönheiten und die freudigen Beziehungen des Lebens jeden Tag aufs Neue zu schätzen, folgen und sozusagen freudig einen Gang herunterschalten. Wenn Eltern sich in ihrem geschäftigen Leben unter Druck gesetzt fühlen, mag es ihnen oft anstrengend erscheinen, bei der Verwaltung von Familienterminen alle Einzelheiten im Auge zu behalten. Aber man muss Kinder genießen und schätzen, nicht verwalten. Wir konzentrieren uns häufig auf die Probleme des Lebens anstatt auf die Gelegenheiten, uns zu freuen und etwas zu lernen. Wenn wir zu sehr damit beschäftigt sind, etwas für unsere Kinder zu tun, vergessen wir darüber, wie wichtig es ist, einfach mit ihnen zusammen zu sein. Wir können uns einfach daran erfreuen, mit unseren Kindern die wundervolle Erfahrung zu teilen, zusammen zu wachsen. Im Mittelpunkt einer bereichernden Eltern-Kind-Beziehung steht das Lernen, wie man an der Freude des Lebens teilnimmt.
Wenn wir Eltern werden, sehen wir uns oft als Lehrer unserer Kinder, aber wir entdecken bald, dass unsere Kinder genauso unsere Lehrer sind. Durch diese innige Beziehung gewinnen unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine neue Bedeutung, indem wir Erfahrungen miteinander teilen und Erinnerungen schaffen, die unser gemeinsames Leben sehr bereichern. Wir hoffen, dass Ihnen dieses Buch dabei nützt, als Person und als Mutter oder Vater zu wachsen und sich zu entwickeln, so dass Sie die fortdauernde Beziehung zu Ihren Kindern Ihr Leben lang vertiefen können.
Kapitel 1
Wie wir uns erinnern