Lieber Tod, wir müssen reden. Muriel MarondelЧитать онлайн книгу.
Erdgeschoss nachts zu mir in den vierten Stock hallen. Ich lasse das Fenster dann immer offen, und die Hintergrundgeräusche bringen mich zum Einschlafen. Ich werde ruhig, wenn ich Menschen leben höre.
Ich glaube, das ist ein Relikt aus meiner oft zutiefst langweiligen Dorfkindheit. Ich hatte das Gefühl, der Öde des Dorfes nie ganz entfliehen zu können. Und nachts, nachts, da war es oft viel zu still. Du warst zu selten da, als dass ich dir es hätte erzählen wollen. Und ich zu selten, als dass ich es dir hätte erzählen können. Wir waren beide wohl immer zu schnell unterwegs.
Wie an jenem Tag vor zwei Jahren bin ich jetzt auf dem Weg zu dir. Damals tatsächlich, heute nur sinnbildlich. Seitdem ist so vieles geschehen. Ich bin umgezogen, und du warst zum ersten Mal nicht dabei. Stell dir vor, ich habe mir sogar ein eigenes Bett gebaut! Vieles habe ich gelernt, was ich vorher nicht wusste. Weil ich es nicht wissen musste. Manches ist auch gleich geblieben: Den Tisch, den du mir aus dem alten Überseekoffer aus Südamerika gemacht hast, den habe ich immer noch. Ich glaube ja, du hast deine Liebe in Dinge hineingebaut. In diesen Stücken steckt, was du vielleicht nicht in Worte fassen konntest. So vieles hättest du noch sagen können, mit deinen großen, rissigen Händen. Oft denke ich an das bunte Holzhaus mit den Blumenkästen, das du für uns Mädchen in den Garten im öden Dorf gebaut hast. Lange war mir solch Nostalgie fremd.
Letztens, da sah ich einen Film von Almodóvar. Es war ein seltsamer Film, so wie alle seine Filme seltsam sind. Aber, weil ich weiß, dass du Almodóvar mochtest, habe ich ihn mir bis zum Schluss angesehen. Es ging um Tod, und es ging um Trauer, um Scham und um Vergebung. Es ging um sprachlose Eltern und um sprachlose Kinder, und alles war sehr melodramatisch. Das kennen wir ja selbst. Ich suche dich also auch in der Kunst, die dich begeisterte. Und denke an dich, wenn ich Kunst entdecke, die mich begeistert.
Musik. Immer. Heute Morgen höre ich Benjamin Clementine – und das passt so fürchterlich gut zu dir. Ein bisschen, aber nicht genau wie Nick Cave: entrückt, tief, voller Melancholie und Textkunst. Wunderschön und anstrengend zugleich. Getrieben singt er, manchmal sehr traurig. Wie jemand, der lange nicht genug geliebt wurde. Und deshalb die Musik machen kann, die er eben macht.
Manchmal, wenn ich in Berlin über die Kantstraße laufe, stelle ich mir vor, dich zu sehen. So, wie du einmal warst, als du hier lebtest, ich dich aber nicht kennenlernen konnte, weil es vor meiner Zeit lag. Ich stelle mir vor, wie die Straßen in den späten 70er-Jahren hier ausgesehen haben und wie du wohl so warst – jünger, als ich es jetzt bin. Ein hübscher, verlorener Junge. Ein Wehrdienstverweigerer, vielleicht auch einfach nur ein Verweigerer. Was hast du so getragen? Eine Jeans-Schlaghose? Eine Flasche Merlot unter dem Arm? Einen Moustache, der dich etwas älter aussehen ließ, als du tatsächlich warst?
Vielleicht wären wir uns begegnet und hätten uns angelächelt. Manchmal begegne ich Fremden so, ich lache sie einfach an. Spitzbübisch wäre dein Lächeln gewesen. Du hättest deine Mausezähne gezeigt, und wahrscheinlich hätten sich viele kleine Fältchen um die dunkelbraunen Augen gebildet. Vielleicht hättest du dir im Vorbeilaufen eine Strähne deiner langen Haare aus dem Gesicht gepustet. Und dann, dann wärst du schnellen Schrittes weitergezogen. Zu einem Freund, einer Vorlesung oder auf ein Konzert ins SO36. Und beim Vorbeigehen hätte ich kurz einen Windhauch deines Geruchs in der Nase gehabt. Ich hätte ihn mir zu merken versucht und wäre im gleichen schnellen Schritt wie du in die nächste Straße gebogen. Ich mag den Gedanken, dass du Teil dieser Stadt warst, dass du hier irgendwann einmal Spuren hinterlassen hast. Selbst wenn ich heute die einzig sichtbare bin.
Ich denke an die Erzählungen über deine erste Wohnung. Die mit Außenklo, auf der Sonnenallee, in der Nähe des Grenzübergangs. Und an die Geschichte von deinen Fahrten in den Ostteil der Stadt, bei denen du einen Freund besuchtest und ihm Dinge brachtest, die es dort nicht gab. Meistens waren es Schallplatten oder Bücher. Es war eine besondere Freundschaft, sagtest du. Geschichten erzähltest du gern, und ich hörte nie aufmerksam genug zu. Deshalb erinnere ich mich nicht an die Details dieser Erzählungen. Jene Details, die ich heute bis ins Kleinste aus dir herausquetschen würde – hätte ich gewusst, dass es so kommt, wie es gekommen ist. An was ich mich aber erinnere, ist, dass dein Freund starb und du ahntest, dass er nicht mehr lebte, noch bevor du es erfuhrst. Es war so seltsam und irgendwie mystisch, sagtest du mir.
»Am ersten Mai komme ich wieder«, rief ich dir noch zu. »Ja«, hast du geantwortet. Ich weiß noch, wie du am Rande deines Krankenbettes saßt und versonnen aus dem Fenster blicktest. »Erster Mai«, schobst du hinterher. Es klang, als würdest du etwas sehr Wichtiges betonen. Es war so seltsam und ja, es war irgendwie mystisch.
Am Morgen dieses ersten Tages im Mai, da küsste ich noch einmal deine Stirn und hielt deine große, rissige Hand. Und dann ging ich – vielleicht schnell, vielleicht langsam. Ich ging mit dem Wissen, dass alles, was mir von dir bleibt, die Erinnerungen sind. Und deine Geschichten, die ich zu meinen machen kann. Und der Pullover in meinem Arm, der noch nach dir roch, aber nicht für immer.
Kein Geplätscher
Papa und ich sitzen gerade bei einem späten Frühstück zusammen. Wir sehen uns gemeinsam eine Dokumentation über einen Schweizer Schriftsteller an, dessen originelle und wohlbedachte Worte uns beide erheitern. Als der alte Mann eine Anekdote aus seinem Leben erzählt, wendet sich Papa mir zu und sagt: »Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann würde ich sagen, dass ich die intensivste Zeit zwischen meinem 15. und 30. Lebensjahr erlebt hatte. Wohl auch, weil man in dieser Zeit die meisten neuen Erfahrungen macht.« Später, als vierfacher Vater und Ehemann, habe er überwiegend für seine Arbeit gelebt, fürs Geldverdienen. Er dachte immer, »… dass sich das später ausbezahlt.« Und irgendwie sei dieser Arbeitsalltag – immerhin die letzten 25 Jahre –, im Nachhinein betrachtet, oft kaum mehr als ein »Geplätscher« gewesen. Er wolle, dass ich mein Leben anders lebe, betont er dann, und sein Blick geht ins Leere.
Er sieht mich an. Dann sagt er: »Du solltest dir immer neue und intensive Erfahrungen suchen oder selbst erschaffen. Und du solltest sie auskosten. Lass dich nicht vom Hamsterrad dieser Gesellschaft gefangen nehmen. Mach nicht immer nur das Gleiche. Aber lass die Dinge auch manchmal langweilig sein, und genieße es, wenn etwas langsam vorangeht. Wenn du etwas Intensives erlebst, wenn es etwas mit dir macht, dich berührt, dann halte es irgendwie (für dich) fest, schreib es auf.«
Ich sehe ihn an. Und bleibe still. Die Worte meines Vaters machen etwas mit mir. Sie tun verdammt weh. Aber ich spüre auch ein Gefühl der Verbundenheit mit ihm, eine tiefe Dankbarkeit, dass ich ihn noch bei mir habe. Dass er mir das, was er mir sagen möchte, noch sagen kann.
Am nächsten Tag nehmen wir den gleichen Zug. Ich zum Flughafen, um wieder in meinen Alltag nach Berlin zu fliegen. Er wird zur Untersuchung in die Klinik fahren.
Papa wird sterben.
1. Mai 2015
»Jetzt hat er es endlich geschafft.«
Die Worte des Palliativpflegers, der gerade den Raum betreten hat, klingen fern, und ihre unpassende Beschaffenheit schießt durch mich hindurch, ohne dass ich den Hauch eines Widerstandes spüre. Er ist ein Geist, so, wie ich gerade zum Geist geworden bin.
Neben mir liegt die Leiche meines Vaters. Wenige Momente zuvor hat er seine letzten Atemzüge genommen. Schrecklich anmutende Atemzüge. Ein lautes, tiefes, inbrünstiges Schnappen nach Luft. Verzerrt ist sein Gesicht und gezeichnet von der Qual, die er die letzten Monate ertragen musste. Er trägt nichts, außer einem Krankenhaushemd und einer Windel. Seine dünnen Beinchen sind gespreizt, der Oberkörper aufgerichtet, der Kopf abgelegt auf dem Gitter seines Bettes.
Er sieht trotz seiner stattlichen Körpergröße von einem Meter neunzig zart und zerbrechlich aus. Dieser Anblick hat wenig mit dem Mann zu tun, der mich großgezogen hat. Dennoch ist es für mich ein Anblick voller Würde. Denn ich weiß um den Kampf der vergangenen Stunden, ich war ja dabei. Ich weiß auch um die Schläuche, die er sich am Tag zuvor aus dem Mund reißen wollte.
»Nun frisst mich der Krebs ganz auf oder eben nicht«, sagte er der Schwester mit der Bitte, alle Maßnahmen einzustellen.
So lange hatte er gehofft,