Das Gehirn eines Buddha. Rick HansonЧитать онлайн книгу.
dupliziert, so dass es in jeder Hemisphäre eine gibt; nichtsdestoweniger ist es üblich, von einer Struktur im Singular zu sprechen (z. B. der Hippocampus).
Drei Überlebensstrategien
Über Hunderte von Millionen von Jahren der Evolution hinweg entwickelten unsere Vorfahren drei grundlegende Überlebensstrategien:
• das Schaffen von Trennungen – um Grenzen zwischen sich selbst und der Welt sowie zwischen unterschiedlichen Geisteszuständen zu bilden
• das Bewahren von Stabilität – um körperliche und geistige Systeme in einem gesunden Gleichgewicht zu halten
• das Sichnähern an Chancen und das Meiden von Bedrohungen – um Dinge zu bekommen, die Nachwuchs begünstigen, und solchen, die es nicht tun, zu entkommen oder standzuhalten
Diese Strategien sind für das Überleben schon immer außerordentlich effektiv gewesen. Aber Mutter Natur ist es gleich, wie sie sich anfühlen. Um Tiere (einschließlich Menschen) dazu zu motivieren, diese Strategien zu befolgen und ihre Gene weiterzugeben, entwickelten sich neuronale Netzwerke, die unter bestimmten Bedingungen Schmerz und Leid schaffen: wenn Trennungen sich auflösen, die Stabilität ins Wanken gerät, Chancen enttäuschen und Bedrohungen auftauchen. Unglücklicherweise kommt es ständig zu diesen Bedingungen, weil:
• alles miteinander verbunden ist
• alles sich unaufhörlich verändert
• Chancen regelmäßig unerfüllt bleiben oder ihren Glanz verlieren und viele Bedrohungen unausweichlich sind (z. B. Altern und Tod)
Sehen wir uns an, wie all dies Sie zum Leiden bringt.
Nicht so separat
Die Parietallappen (Scheitellappen) des Gehirns liegen im oberen hinteren Teil des Kopfes (ein „Lappen“ ist eine rundliche Wölbung des Kortex). Bei den meisten Menschen stellt der linke Lappen die Wahrnehmung her, dass der Körper von der Welt getrennt ist, und gibt der rechte Lappen an, wo sich der Körper im Vergleich zu Bestandteilen seiner Umgebung befindet. Das Ergebnis ist eine automatische Grundannahme dieser Art: Ich bin ein separates und unabhängiges Wesen. Ist dies auch in mancherlei Hinsicht wahr, ist es doch in vielerlei wichtiger Hinsicht nicht wahr.
Nicht so abgegrenzt
Um zu leben, muss ein Organismus metabolisieren: Er muss Stoffe und Energie mit seiner Umgebung austauschen. Folglich werden im Laufe eines Jahres viele der Atome in Ihrem Körper durch neue ersetzt. Die Energie, die Sie aufwenden, um einen Schluck Wasser zu trinken, stammt von Sonnenschein, der sich durch die Nahrungskette zu Ihnen hocharbeitet – in gewissem Sinne hebt Licht die Tasse an Ihre Lippen. Die scheinbare Mauer zwischen Ihrem Körper und der Welt ähnelt eher einem Lattenzaun.
Und die zwischen Ihrem Geist und der Welt ist wie eine auf den Bürgersteig gemalte Linie. Vom Augenblick der Geburt an gelangen Sprache und Kultur in Ihren Geist und gestalten ihn (Han und Northoff 2008). Empathie und Liebe sorgen von Natur aus dafür, dass Sie sich auf andere Menschen einstimmen, so dass Ihr Geist mit dem ihrigen mitschwingt (Siegel 2007). Diese Ströme geistiger Aktivität fließen in beide Richtungen, da Sie auch andere beeinflussen.
In Ihrem Geist gibt es fast überhaupt keine Grenzen. Seine ganzen Inhalte strömen ineinander; Empfindungen werden zu Gedanken, Gefühlen, Begierden, Handlungen und noch mehr Empfindungen. Dieser Bewusstseinsstrom korreliert mit einer Kaskade an flüchtigen neuronalen Verbindungen, wobei jede Verbindung innerhalb von häufig weniger als einer Sekunde in der nächsten verschwindet (Dehaene, Sergent und Changeux 2003; Thompson und Varela 2001).
Nicht so unabhängig
Ich bin auf der Welt, weil ein serbischer Nationalist Erzherzog Ferdinand ermordet und damit den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat – was wiederum zu der zufälligen Begegnung meiner Eltern auf einem Tanzabend der Armee im Jahr 1944 führte. Natürlich gibt es zehntausend Gründe dafür, warum irgendjemand heute auf der Welt ist. Wie weit wollen wir zurückgehen? Mein Sohn – der mit seiner Nabelschnur um den Hals geboren wurde – ist wegen medizinischer Techniken, die über Hunderte von Jahren entwickelt wurden, auf der Welt.
Oder wir könnten ganz weit zurückgehen: Die meisten Atome in Ihrem Körper – einschließlich des Sauerstoffs in Ihren Lungen und des Eisens in Ihrem Blut – wurden im Inneren eines Sterns geboren. Im frühen Universum war Wasserstoff so ziemlich das einzige Element. Sterne sind riesige Fusionsreaktoren, die Wasserstoffatome miteinander verschmelzen lassen, schwerere Elemente erzeugen und dabei viel Energie freisetzen. Diejenigen, die zu Novä wurden, spien ihre Inhalte weit und breit umher. Bis zu der Zeit, als unser Sonnensystem sich zu bilden begann – ungefähr neun Milliarden Jahre nach dem Beginn des Universums –, existierten genügend viele große Atome, um unseren Planeten zu bilden, um die Hände zu bilden, die dieses Buch halten, und das Gehirn, das diese Worte versteht. Wirklich – Sie sind hier, weil viele Sterne explodiert sind. Ihr Körper besteht aus Sternenstaub.
Auch Ihr Geist ist von zahllosen vorausgegangenen Dingen abhängig. Denken Sie an die Lebensereignisse und an die Menschen, die Ihre Ansichten, Ihre Persönlichkeit und Ihre Emotionen geprägt haben. Stellen Sie sich vor, Sie wären bei der Geburt ausgetauscht und von armen Ladenbesitzern in Kenia oder einer reichen Ölfamilie in Texas großgezogen worden; wie anders würde Ihr Geist heute sein?
Das Leiden der Trennung
Da ein jeder von uns mit der Welt verbunden ist und in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zu ihr steht, werden unsere Versuche, separate und unabhängige Wesen zu sein, regelmäßig zum Scheitern gebracht, was schmerzhafte Signale der Störung und Bedrohung verursacht. Darüber hinaus führen unsere Anstrengungen selbst dann, wenn sie vorübergehend erfolgreich sind, zum Leiden. Wenn Sie die Welt als „überhaupt nicht ich“ sehen, ist sie potentiell unsicher, was Sie dazu veranlasst, sich vor ihr zu fürchten und sich ihrer zu erwehren. Sobald Sie sagen: „Ich bin dieser Körper, getrennt von der Welt“, werden die Schwächen Ihres Körpers zu Ihren eigenen. Wenn Sie meinen, dass er zu viel wiegt oder nicht richtig aussieht, leiden Sie. Wenn er durch Krankheit, Altern und Tod bedroht ist – wie es alle Körper sind –, leiden Sie.
Nicht so beständig
Ihr Körper, Ihr Gehirn und Ihr Geist enthalten eine Vielzahl an Systemen, die ein gesundes Gleichgewicht aufrechterhalten müssen. Das Problem aber ist, dass sich verändernde Bedingungen diese Systeme ständig durcheinanderbringen, was zu Signalen der Bedrohung, des Schmerzes und des Leids führt – mit einem Wort zum Leiden.
Wir sind sich dynamisch verändernde Systeme
Betrachten wir einmal ein einzelnes Neuron, eines, das den Neurotransmitter Serotonin freisetzt (siehe Abbildungen 3 und 4). Dieses winzige Neuron ist gleichzeitig Teil des Nervensystems und selber ein komplexes System, das zahlreiche Subsysteme benötigt, die es in Gang halten. Wenn es feuert, schleudern Verzweigungen am Ende seines Axons eine Salve aus Molekülen in die Synapsen – die Verbindungen – hinein, die es mit anderen Neuronen bildet. Jede Verzweigung enthält etwa zweihundert Vesikel genannte kleine Bläschen, die mit dem Neurotransmitter Serotonin gefüllt sind (Robinson 2007). Jedes Mal, wenn das Neuron feuert, öffnen sich fünf bis zehn Vesikel. Da ein typisches Neuron rund zehnmal in der Sekunde feuert, werden die Serotoninvesikel einer jeden Verzweigung alle paar Sekunden geleert.
Folglich müssen geschäftige kleine molekulare Maschinen entweder neues Serotonin produzieren oder frei um das Neuron herumtreibendes Serotonin recyceln. Dann müssen sie Vesikel herstellen, sie mit Serotonin füllen und nahe an den Ort des Geschehens bringen, also an die Spitze einer jeden Verzweigung. Das sind viele Prozesse, die da im Gleichgewicht gehalten werden müssen, und vieles könnte dabei schiefgehen – und der Serotoninstoffwechsel ist nur eines der Tausende