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Stark oder schwach?. Brunhild HofmannЧитать онлайн книгу.

Stark oder schwach? - Brunhild Hofmann


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soll. In drei Stunden werde ich meinen Sohn verabschieden, der für fünf Monate nach Island geht. »Werde ich ihn noch einmal gesund sehen?«, denke ich. Dann treffe ich meinen 84-jährigen Vater. Ihn will ich auch nicht mit Ungewissheit und Angst belasten.

      Also spiele ich an diesem Tag die unbeschwerte Frau in der Begegnung mit meinen Lieben. Es fällt mir schwer. Erst abends erzähle ich meinem Partner, was ich an diesem Tag erlebt habe. Ich fange an zu weinen.

      Später ruft mich eine vertraute Freundin an. Sie ist der zweite Mensch, dem ich alles erzähle. Sie hört sich das Ganze ruhig an und sagt am Schluss: »Also weißt du, ich mache mir gar keine Sorgen um dich. Ich habe ein gutes Gefühl.«

      Das stärkt mich. Ich kann schlafen.

       30. Dezember 2011

      Wir fahren früh los. Wie in Trance habe ich gestern die Koffer gepackt, das Essen eingekauft. Ich bin froh, endlich im Auto zu sitzen und nichts tun zu müssen. Alles strengt mich an. Meine Tochter und ihre Freundin plappern voller Vorfreude. Es fällt nicht auf, dass ich still bin.

      Je weiter wir uns von zu Hause entfernen, desto ruhiger werde ich innerlich. Es ist richtig, dass ich heute in den Skiurlaub fahre. Bei der Abfahrt habe ich noch gedacht: »Oder soll ich jetzt doch lieber ins Krankenhaus?« Ich habe beschlossen, nur mit meinem Partner über die Diagnose »Eierstocktumor« zu reden und sie weder den Kindern noch den Freunden, mit denen wir uns die Hütte teilen, preiszugeben.

      Mein Partner legt mir während der Fahrt die Hand auf den Oberschenkel: »Du bist gesund.« Er lächelt.

      »Danke!« Ich entspanne mich.

      Während der Fahrt sinniere ich über meine Frauenärztin. Ich beginne, ihre Aussagen von meinem Gefühl zu trennen. Langsam schleicht sich der Gedanke ein, dass sie nicht nur aus ärztlicher Professionalität gehandelt hat, sondern in irgendeiner Weise persönlich betroffen ist. »Ob sie selbst einen bösartigen Eierstocktumor hatte – oder eine andere Patientin? Und dadurch ist sie befangen?«

      Als wir die deutsch-schweizerische Grenze überqueren, fühle ich mich leichter. Ich lade meine Familie zu Kaffee und Birchermüsli ein. In zwei Stunden kommen wir an der Seilbahn an. Vorher fahren wir noch ungefähr 15 Minuten in einem Zug durch den Tunnel. Dort ist es stockdunkel. Und plötzlich habe ich die Idee: Ich kann mich ja mal selbst testen. Schauen, was mein Unterbewusstsein, meine Körperweisheit zu alldem meint. Traue ich mich?

      Ja, ich traue mich.

      Ich denke: »Ich habe Krebs.« Es folgt eine schwache Muskelreaktion, das bedeutet: Nein.

      »Ich habe eine Zyste.« Das Ergebnis ist eine starke Reaktion, das heißt: Ja.

      »Ich habe eine große Zyste am rechten Eierstock.« – Ja.

      »Mein linker Eierstock ist gesund.« – Ja.

      »Meine Gebärmutter ist gesund.« – Ja.

      »Meine Lymphknoten sind gesund.« – Ja.

      Fünfzehn Minuten im Dunkeln, die mir pure Erleichterung bringen. Als wir ins helle Licht tauchen, kann ich heute zum ersten Mal lächeln.

      Wir treffen die Freunde an der Gondel, ich freue mich. Wir fahren auf den Berg, kämpfen uns durch viel Schnee zur Hütte und machen Feuer. Ich glaube, alles wird gut.

       31. Dezember 2011

      Heute ist Silvester. In den letzten Tagen hat es so viel geschneit, dass ich fürchte, das Dach kann die Schneelast nicht tragen. Auf manchen Dächern um uns herum schippen Menschen Schnee. Wir schippen auch. Es macht Spaß. Ich fühle mich zwar schlapp und ausgelaugt von der inneren Anspannung der letzten Tage, aber ich genieße es, im Schnee auf dem Dach zu sein. Durch die Bewegung spüre ich meinen Körper; er fühlt sich gut und kräftig an.

      Kurz vor Mitternacht beschließen wir, das neue Jahr auf dem Dach zu begrüßen. Wir müssen nur einen Schritt machen, um von der Schneemauer, die das Haus umgibt, aufs Dach zu steigen. Wir tragen Sekt, Gläser und Wunderkerzen hoch. Um Punkt 24 Uhr stoßen wir an und wünschen uns ein gutes neues Jahr. Ich denke: »Wie wird es wohl für mich werden? Was wird in vier Wochen sein?« Leicht und unbefangen fühlt sich anders an.

      Um uns explodieren die Lichter grell gegen den weißen Berg. Auch brennende Kerzen steigen auf. Ich habe einen sprühenden, die Farben wechselnden Vulkan mitgebracht, noch gekauft, bevor ich den Arzttermin hatte. Er steht auf dem Dachfirst und wir hören »Plopp, plopp, plopp«, wenn eine Salve von Funken sprüht. Die Mädels lachen.

       1. Januar 2012

      Ich wache auf im neuen Jahr. Heute lädt alles zum Skifahren ein. Als die Hütte leer ist, bitte ich meinen Partner, den Muskeltest bei mir durchzuführen. Als Erstes sage ich: »Es ist im höchsten und besten Interesse, jetzt verschiedene Aussagen abzutesten.« Damit habe ich mein höheres Selbst einbezogen. Das mache ich immer, wenn mir etwas sehr wichtig ist. Die Muskelreaktion war stark, das ist ein »Ja«.

      Dann spreche ich erneut den Satz aus: »Ich habe Krebs.« Die Reaktion ist schwach, also: Nein.

      »Ich habe eine Zyste.« Die Reaktion ist stark, also: Ja.

      »Ich habe eine große Zyste.« Wieder eine starke Reaktion.

      »Es ist in meinem höchsten und besten Interesse, die Zyste operativ entfernen zu lassen.« Die Antwort ist ebenfalls ein »Ja«.

      Ich seufze. »Ich will nicht ins Krankenhaus, und ich will auch keinen Teil meines Körpers hergeben.«

      »Dann probier doch erst mal mit anderen Methoden, mental, mit Überzeugungen – das ist doch deine Arbeit«, sagt mein Partner.

      Ja, er hat recht. Ich balanciere die Überzeugung: »Die Zyste schmilzt dahin.« Beim Skifahren auf der Piste bewege ich mich im Rhythmus des Satzes: »Die Zyste – schmilzt dahin – die Zyste – schmilzt dahin …«, Bogen für Bogen. Ich werde in den nächsten Tagen immer wieder den Durchmesser der Zyste mit dem Selbsttest prüfen. Bei der ersten Messung hatte sie 7 mal 8 Zentimeter. Nach dem Skiurlaub werden es bei der Ultraschall-Messung 5 mal 6 Zentimeter sein.

      Und trotz all dieser Unterstützung: Das Feld der Angst vor Krebs, an das ich durch die Reaktion meiner Frauenärztin angebunden wurde, ist stark. Ich sitze im Sessellift, und plötzlich bemerke ich einen Zug, der von meinem Hals in den Brustmuskel geht. Ich taste meine Lymphknoten unter dem Kiefer ab. Sind sie angeschwollen? Ich spüre eigentlich nichts, aber ich habe auch keine Erfahrung …

      Abends werde ich die Lymphknoten unter meiner Achsel untersuchen und meine Brust abtasten lassen, obwohl das meine Frauenärztin schon getan und nichts gefunden hat. Nach ein paar Tagen werde ich feststellen, dass dieser Schmerz vom Hals in den Brustmuskel nachlässt. Und ich werde mich daran erinnern, dass es jedes Jahr so ist, dass während der ersten Tage des Skiurlaubs alles schmerzt: die Schulter, die Armmuskeln vom ungewohnten Stockeinsatz, die Oberschenkel und natürlich die Knie. Und nach ein paar Tagen ist mein Körper angepasst, es ist vorbei.

      Aus heutiger Sicht war mein ständiges Achten auf Symptome eine Überreaktion. Aber leider ist es so – ich stehe unter dem Einfluss der Angst vor Krebs. Diese Angst kreiert ein massives energetisches Feld. Es ist nicht so leicht, sich dem zu entziehen. Ich bin froh, dass ich jeden Tag ein wenig mehr Distanz schaffen kann. Nach jedem – manchmal zwanghaften – Selbst-Muskeltest atme ich auf und entspanne mich.

      Am Abend spielen wir »Activity« und ich lasse mich darauf ein; ich vergesse meinen »potenziellen« Krebs.

       2. Januar 2012

      Ich stelle mich auf die Skier und fahre allein ab ins Tal. Ich genieße es, aus dem Trubel herauszukommen. Es ist auf Dauer anstrengend, mit Freunden beim Frühstück zu sitzen und nicht darüber sprechen zu können, was mich tief im Inneren bewegt. Und ich weiß, dass meine Entscheidung richtig ist. Ich will den Wirbel nicht, den ich verursachen würde. Ich will mir – mit ein paar für mich wichtigen Menschen – über meine nächsten Schritte klar werden.


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