Stark oder schwach?. Brunhild HofmannЧитать онлайн книгу.
lese ich die aktuellen Nachrichten. Dann blättere ich weiter. Unter der Überschrift »Wissen« entdecke ich einen ganzseitigen Artikel über die Bedeutung von Tumormarkern bei Eierstockkrebs. Ich blicke wie gelähmt und gleichzeitig schockiert auf das Blatt. Ich denke: »Was soll das? Ist das die Botschaft, dass ich Krebs habe?«
Ich lege die Zeitung zuerst einmal weg. Später nehme ich sie wieder zur Hand und lese den Artikel aufmerksam. Eine Zeile fällt mir in den Blick: »Bei herkömmlichen Therapien besteht bei Eierstockkrebs die Chance, noch drei bis fünf Jahre zu leben.« Ich atme auf: Noch drei bis fünf Jahre! Das ist immerhin noch viel Zeit! Bis dahin kann ich alles regeln, was nötig ist.
Ich lese weiter. Die Hauptaussage des Artikels lautet: Mit den heutigen Methoden ist die Identifikation von Tumormarkern noch zu unspezifisch, um in sehr frühem Stadium Eierstockkrebs zu erkennen und sicher zu diagnostizieren. Bestimmte Proteine, die als Tumormarker gesehen werden, werden auch von gesunden Zellen produziert. Erst die Menge macht den Unterschied. Ich denke: »Zum Glück habe ich mir kein Blut abnehmen lassen, sonst müsste ich mitten im Urlaub bei der Ärztin anrufen, um das Ergebnis zu erfragen. Erstens ist es unklar, was es bedeutet, zweitens kann ich das ruhig und mit mehr Unterstützung zu Hause durchführen lassen.«
Ich lasse von meinem Partner mit dem Armtest klären: »Ich habe Krebs.« Die Antwort lautet: Nein. »Ich bin gesund.« – Ja.
Ich überlege mir genau, mit wem ich spreche, wenn ich wieder daheim bin. Meine älteste Tochter ist Ärztin. Sie werde ich als Erstes anrufen. Ich habe sie vor unserem Urlaub nicht angerufen, da ich wie gelähmt war. Außerdem wusste ich, dass sie ebenfalls in den Urlaub fährt, und habe ihr eine glückliche und entspannte Zeit gewünscht.
Dann schicke ich einer hellsichtigen Freundin eine SMS und bitte sie um ein Telefongespräch in den kommenden Tagen.
4. Januar 2012
Heute rufe ich meine Freundin an. Ich bin aufgeregt, als ich ihr erzähle, worum es geht. Sie sagt sogleich: »Ich denke, du wirst das operieren lassen, aber damit ist dann alles erledigt.«
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich vertraue ihr. Wir reden noch ein bisschen über Zysten, und sie meint: »Dieses Thema hat sehr viel mit verletzter Weiblichkeit zu tun. Jede dritte Frau in Deutschland hat eine Zyste. Schau mal, was du mit diesem Thema anfangen kannst.«
Ein wunderbarer Tipp, ich kann einiges damit anfangen.
In den nächsten Tagen schneit es. Die wichtigste Beschäftigung ist, das Dach vom Schnee zu befreien. Ich nutze die Zeit für mich und bringe verschiedene Aspekte meiner Weiblichkeit in Balance: von Verletzungen, die meine Mutter erlitten hat und die ich als Mädchen miterlebte, bis zu eigenen Verletzungen in Beziehungen zu Männern. Mein Selbst-Muskeltest ist mir dabei eine große Hilfe, ich kann mir keine bessere Möglichkeit vorstellen.
7. Januar
So beschäftige ich mich während unseres Urlaubs mit Themen rund um meine Weiblichkeit und kann die Tage mehr und mehr genießen. Obwohl heute das Tal wegen Lawinengefahr gesperrt ist und es unklar ist, ob wir morgen nach Hause fahren können, bleibe ich ganz entspannt. Am 9. Januar stehen zwar drei Arzttermine an: ein zweiter Frauenarzttermin, bei dem es mir um eine Zweitmeinung geht; der Termin mit dem Chirurgen; das Gespräch mit meiner Allgemeinärztin. Aber ich denke: »Wenn es nicht übermorgen ist, dann halt ein bisschen später.«
8. Januar
Wir fahren heimwärts. Am Abend rufe ich meine Tochter an und erzähle ihr von meinen Erlebnissen mit meiner Frauenärztin. Sie meint: »Das alles ist kein Grund zur Beunruhigung. Es gibt keine aussagekräftige Diagnose und keinen Hinweis darauf, dass du Krebs hast.« Davon bin ich mittlerweile auch fest überzeugt.
9. Januar
Trotzdem bin ich vor dem Termin mit dem zweiten Frauenarzt aufgeregt. Er untersucht mich genau und meint am Ende: »Das sieht eher wie ein Sturm im Wasserglas aus. Die Zyste ist nicht durchblutet und sehr gut beweglich.«
Ich atme auf.
Dann rät er: »Lassen Sie sich auf jeden Fall auch den zweiten Eierstock entfernen.«
Auf meine Nachfrage, warum das nötig sei, unkt er: »Die Eierstöcke haben bei Ihnen keine Funktion mehr. In zwei Jahren sind Sie wieder mit einer Zyste hier. Es dauert nur zwei Minuten länger.«
Jetzt höre ich auf, ihm zu vertrauen.
Das Argument von den nutzlosen Eierstöcken, wenn eine Frau keine Kinder mehr bekommen kann, legt mir zwei Stunden später auch der klinische Frauenarzt dar. Zum Glück bin ich darauf vorbereitet. Ich muss lange mit ihm debattieren, bis er zustimmt, dass ich meinen zweiten Eierstock behalten kann, wenn er gesund ist. Daraufhin mache ich einen Operationstermin aus.
An diesem Abend teste ich verschiedene Aussagen ab:
»Mein linker Eierstock ist gesund.« – Die Antwort: Ja.
»Es ist in meinem höchsten und besten Interesse, meinen rechten Eierstock operativ entfernen zu lassen.« – Ja.
»Es ist in meinem höchsten und besten Interesse, den linken Eierstock zu behalten.« – Ja.
»Die Klinik in XY ist der beste Ort, um mich operieren zu lassen.« – Ja.
»Es gibt noch andere Methoden, um die Zyste zu integrieren.« – Ja.
»Sie sind für mich besser als die Operation.« – Nein.
Nach nochmaligen Gesprächen mit meinem Partner und meiner Tochter entschließe ich mich endgültig für die Operation und für das Krankenhaus.
In den nächsten Tagen bin ich noch ab und zu mit der Operation beschäftigt, aber mehr in organisatorischer Hinsicht. Ich habe ein gutes Gefühl, den richtigen Weg zu begehen. Ich habe geklärt, unter welchen Bedingungen die Operation stattfinden wird. Ich fühle mich nicht ausgeliefert, sondern als diejenige, die die Entscheidungen bewusst getroffen hat. Dabei hat mir der Muskeltest – vor allem der Selbsttest – sehr geholfen.
Aus heutiger Sicht, nachdem alles vorbei und genau so gelaufen ist, wie ich es mir vorgestellt und gewünscht habe, sage ich: Durch die Diagnose meiner Frauenärztin fühlte ich mich überwältigt, hilflos und ausgeliefert. Davon konnte ich mich immer weiter distanzieren, indem ich die Beziehung zu meinem Körperwissen aufgebaut und intensiviert habe. Am Anfang noch unsicher, aber mit der Zeit immer klarer, hörte ich die Botschaft: »Ich bin gesund.« Natürlich wurde ich durch meine Mitmenschen unterstützt. Aber entscheidend sind die Zeiten, in denen ich mit mir alleine war; in denen ich mit meiner Angst gerungen habe, im Lift, beim Spazierengehen im Schnee, wenn ich nachts wach lag. Und da war der Selbst-Muskeltest, dem ich vertraute und der immer gleich ausfiel – das Beste, was ich mir vorstellen kann.
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