Unter Ultras. James MontagueЧитать онлайн книгу.
zurück. Nein, im Mittelpunkt standen allein die Show und die Botschaft. Die 1950 gegründete Torcida ist die älteste Fanorganisation Europas. Ihr Einfluss ist immens. Indessen die Spieler noch darauf warteten, dass der künstliche Nebel sich verzog, reckten die Mitglieder der Torcida auf der Nordtribüne und die Fans auf der Osttribüne einander den rechten Arm zum wechselweisen Gruß entgegen, begleitet von Gesängen zur Melodie des Triumphmarsches aus Verdis Oper Aida. Ganz vorn standen die Capos mit dem Gesicht zur Nordtribüne und dem Rücken zum Spielfeld, das Megafon in Händen, und dirigierten die Tausende Stimmen, die überwiegend wüste Schmähparolen auf die Rivalen aus der Hauptstadt schmetterten.
»Tötet, tötet, tötet die Purgera«, beleidigten die Torcidas die Gäste mit dem dalmatinischen Slang-Begriff für die Zagreber.
Dinamo, und Zagreb allgemein, wurde für die Torcida aus einer ganzen Reihe komplizierter historischer Gründe zum Erzrivalen. Zur Zeit des ehemaligen Jugoslawiens hatte die Rivalität einen weit verbreiteten, doch mehr oder weniger harmlosen Grund, nämlich den Neid und das Gefühl der Benachteiligung der Menschen fern der Hauptstadt ihrer Teilrepublik. Doch nach dem 1995 zu Ende gegangenen kroatischen Unabhängigkeitskrieg und der Auflösung Jugoslawiens avancierten Dinamo und Hajduk zu den beiden größten Mannschaften der neugegründeten unabhängigen Liga. Partien gegen die alten Belgrader Feinde – Roter Stern und Partizan – standen nicht länger auf dem Spielplan. Also gingen die beiden Lager aufeinander los.
Der kleine, nur wenige Hundert Mann starke schwarze Block der Dinamo-Ultras von den Bad Blue Boys war in einen abgelegenen Teil des Poljud-Stadions weit oben auf der Westtribüne verbannt worden, durch leere Sitzreihen weiträumig vom Rest der Arena isoliert. Die Show gehörte der Torcida. Fahnen wurden von den oberen Sitzreihen nach unten durchgereicht, und auf den Sitzen lagen kleine Plastikbögen in Rot oder Blau bereit für eine weit im Voraus geplante Zettel-Choreo. Niemand wusste, was sie zeigen würde, doch allein durch seine Anwesenheit erklärte man sich stillschweigend mit jeder Botschaft einverstanden. Ein riesiges Banner aus Kunststoff wurde von unten nach oben entrollt, und binnen weniger Augenblicke wurde es darunter heiß und stickig. Jedem Einzelnen war in diesem kollektiven Theaterstück eine Rolle zugedacht. Doch erst nach dem Spiel sah ich auf einer Fotografie, was die Choreografie eigentlich zeigte: das überlebensgroße Bild eines Fans mit nach vorn gereckten Armen, in den Händen einen Schal in Rot und Blauviolett, den Farben der Torcida. Darunter zog sich über die gesamte Breite der Nordtribüne ein einziges Wort in riesigen weißen Buchstaben: »ULTRAS«.
Was sehen Sie, wenn Sie ein Fußballspiel sehen? Sehen Sie ein Mannschaftsschauspiel vor sich ablaufen? Sehen Sie einzelne Spieler, die ihr einzigartiges Können vorführen? Sehen Sie ein Schachspiel, beherrscht von Zahlen, Taktiken und Mustern? Es gibt keine richtige oder falsche Antwort, und Millionen Menschen rund um den Globus werden das Spiel auf eine ganz andere Weise als Sie sehen. Unmittelbar hinter den Begrenzungen des Spielfelds jedoch, auf den Rängen hinter den Toren, herrscht noch einmal ein vollkommen anderes Verständnis vom Fußball für das eine Subkultur steht, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts das Antlitz und die Atmosphäre des Fußballs wesentlich prägt: die Ultras.
Dennoch wissen wir so gut wie nichts über diese Fangruppierungen, deren Rauchschwaden die Stadien einhüllen. Als eigenständige Kultur haben sie ihre eigenen Regeln und Normen entwickelt. Sie führen ein Leben außerhalb des Gesetzes oder geraten zumindest ständig in Konflikt damit. Sie kommunizieren mittels spektakulärer Inszenierungen: riesiger Banner, farbenfroher Choreografien, politischer Parolen, Rauchschwaden, Ehrenbezeugungen, Schmähungen, Gewaltausbrüchen und Gedenkbotschaften. Sie sind gegen die Autoritäten und hegen ein unversöhnliches Misstrauen gegen Polizei und Medien. Sie kämpfen gegen die Kommerzialisierung des Sports und die Kriminalisierung ihrer Brüder. Und sie verfügen über ein internationales Netz der Freundschaften und Feindschaften, einen eigenen Ehrencode und eine ausgeprägte Solidarität.
Der Fußball und das Fußballbusiness sind allgegenwärtig. Ein Milliardenpublikum verfolgt das Geschehen auf und neben dem Rasen und saugt noch die winzigsten Meldungen auf, die auch nur entfernt den Sport betreffen. Noch über das kleinste Detail auf dem Platz wird genauestens berichtet, genauso wie über das Leben der Spieler, die zu Stars eines globalen Entertainmentprodukts aufgebaut werden. Jede Regung von Klubbesitzern, Trainern, Managern und Verantwortlichen wird wie unter dem Mikroskop analysiert. Doch die Fans? Die Ultras? In einem Sport, in dem wir über jeden alles wissen, sind sie weitgehend ein Geheimnis geblieben. Gegeißelt als bedrohliche Fremde, verteidigen sie ihre hart errungene Anonymität und ihren Außenseiterstatus. Es gibt sie auf allen Kontinenten, auch wenn ihre Ansichten und Weltanschauungen unterschiedlich sind. Gibt es überhaupt die Definition, was oder wer »die Ultras« sind? So sichtbar sie sein mögen, sind die Ultras stets ein Rätsel geblieben.
Split ist eine alte Stadt an Kroatiens karstiger Küste, 400 Kilometer und rund fünf Stunden Fahrt von Zagreb entfernt. Im Lauf der Jahrhunderte sind viele Mächte durch die Stadt oder an ihr vorbei gezogen: Römer, Griechen, Byzantiner, Osmanen, Venezianer, Italiener, Faschisten und Kommunisten. Split pflegt seine dalmatinische und kroatische Identität und hat einen entschiedenen Widerstand gegen alle Auswärtigen entwickelt. Es gibt in der Stadt sogar einen eigenen Begriff dafür, dišpet, eine Haltung des Trotzes ungeachtet aller Konsequenzen. »Dišpet heißt, gegen alles und jeden zu sein«, erklärte mir ein Mitglied der Torcida. Split besitzt dišpet. Dalmatien besitzt dišpet. Und auch die Torcida und die Ultras besitzen dišpet. Als Hajduk 1911 gegründet wurde, bezogen sich die Gründer des Vereins mit dem Namen auf die Heiducken, christliche Aufständische in der Art Robin Hoods, die sich ab dem 16. Jahrhundert gegen die osmanische Herrschaft in Europa auflehnten.1 Im Zweiten Weltkrieg wurde das Königreich Jugoslawien 1941 besetzt, und Split geriet unter italienisches Kommando. Hajduk jedoch widersetzte sich lukrativen Angeboten zur Teilnahme an der Serie A, die 1926 vom faschistischen Regime des Diktators Benito Mussolini als nationale Liga etabliert worden war. Nachdem die Italiener Split an die Partisanen verloren hatten, besetzte kurz darauf die deutsche Wehrmacht die Stadt. Unter der Herrschaft der mit den Nationalsozialisten verbündeten Ustascha-Bewegung wurde der Unabhängige Staat Kroatien als deutscher Vasallenstaat gegründet und eine kroatische Fußballliga ins Leben gerufen. Doch Hajduk verweigerte abermals die Teilnahme. Stattdessen gingen die Mitglieder des Vereins geschlossen zu den kommunistischen Partisanen, die unter Josip Broz Titos Führung gegen die Faschisten kämpften. Die Mannschaft wurde zu einer Art Balkan-Propagandaversion der Harlem Globetrotters und trat in Kroatien, Italien und dem Mittleren Osten zu Freundschaftsspielen gegen Gegner aus Reihen der Alliierten an, um auf die Misere des Landes aufmerksam zu machen. Tito war beeindruckt und bot dem Verein an, als offizielle jugoslawische Armeemannschaft nach Belgrad umzuziehen. Doch auch Tito kassierte eine Abfuhr.2
Nach dem Krieg gründete Tito in Belgrad mit Partizan kurzerhand seine eigene Armeemannschaft. Hajduk wurde wieder in Split sesshaft und entwickelte sich zu einem bedeutenden Symbol der kroatischen Identität. Allerdings war der Begriff der nationalen Identität höchst umstritten. Als Tito Jugoslawien als sozialistischen Bundesstaat von sechs Teilrepubliken wiederauferstehen ließ, wollte er die regionalen Unterschiede in einem sozialistischen Ganzen aufgehen lassen. Dass ausgerechnet Fußballfans den schlafenden und gefährlichen Nationalismus wecken könnten, ahnten wohl nur wenige der Machthaber, als die Hajduk-Anhänger sich nach der WM 1950 in Brasilien, an der Jugoslawien teilgenommen hatte, anschickten, mit einer neuartigen Fanorganisation den Gesängen und der Leidenschaft der brasilianischen torcida-Fangruppierungen nachzueifern. Laut einer Gründungslegende erzählten Seeleute von der Insel Korčula nach ihrer Rückkehr von der WM nach Split unvorstellbar klingende Geschichten von den brasilianischen Fans, die mit Musikinstrumenten, Leuchtfeuern und Cleverness ihrer Mannschaft einen Vorteil verschafft hätten. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass die jugoslawischen Spieler selbst von ihren Eindrücken berichtet haben.
Der jugoslawischen Mannschaft, die zuvor, 1948, bei den Olympischen Spielen die Silbermedaille gewonnen hatte, gehörten fünf Hajduk-Spieler an, darunter der junge Torhüter Vladimir Beara. Als Lew Jaschin 1963 den Ballon d’Or erhielt, erklärte er in seiner Dankrede, er sei überhaupt nicht der beste Spieler der Welt. Er sei noch nicht einmal der beste Torwart der Welt. Diese Ehre gebühre Beara.3 Auch wenn die enttäuschten Jugoslawen bei der WM 1950 von Brasilien aus dem Turnier geworfen wurden, waren sie