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Diagnose: Mingle. Martina Leibovici-MühlbergerЧитать онлайн книгу.

Diagnose: Mingle - Martina Leibovici-Mühlberger


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      Langsam schien Laura, die während ihres Auftritts durch das Glühen der Kohlen des hinter ihr stehenden Saunaofens und ihr wildes Gestikulieren wie eine Rachegöttin vor mir gestanden war, wieder zur Ruhe zu kommen. Ich fühlte mich sehr betroffen, durch das, was ich mit meiner Nachfrage bei ihr bewirkt hatte. Ihre Reaktion hatte mich vollkommen überrascht. Sie setzte sich wieder auf die mir gegenüber liegende Saunabank und schien in sich zusammenzusinken.

      »Laura, entschuldige«, setzte ich an, »ich wollte dir nicht zu nahe treten …«

      Sie hob das Gesicht, und im rötlichen Halbdunkel sah ich die Tränen, die über ihre Wangen hinunterliefen.

      »In manchen Momenten fühle ich mich so total einsam«, brachte sie mit leiser Stimme langsam hervor, »ich hätte so gern jemanden, der ganz zu mir steht, auf den ich mich wirklich verlassen kann, einen Mann, mit dem ich mich sicher und geborgen fühle und dem ich das auch geben kann, die ganze kindische romantische Geschichte. Aber es klappt irgendwie nicht, das gibt es nicht mehr, es funktioniert einfach nicht, überall ist ein Haken. Alle sind vorsichtig, taktierend, können sich nicht mehr rückhaltlos einlassen, das ganze Fühlen wird durch Ängste und Überlegungen wie in Watte gepackt.« Eine gedankenschwere Pause, die nur vom wiederanspringenden Heizelement der Sauna unterbrochen wurde, füllte für einige Zeit den Raum zwischen uns. »Und ich«, setzte sie nun sehr leise und mit resignierter Stimme fort, »ich bin genauso … sag mir, warum es in unserer Gesellschaft so zugeht, du bist doch der Shrink!«

      Ich erinnere mich an mein Gefühl von Hilflosigkeit, an das in mir aufsteigende Bild, auf einem Wrackteil eines Schiffs gekauert zu sein und mit diesem untauglichen Floß auf einem dunklen Ozean unterwegs sein zu müssen. Die Antwort auf Lauras Frage wusste ich damals nicht zu geben, aber ich fühlte eine immer stärker werdende Beunruhigung und zunehmende Verpflichtung, noch genauer hinsehen zu müssen. Und dann gab es da noch ein Brathuhn, das mir klar machte, dass ich mich diesem Thema der sterbenden Liebesfähigkeit nicht entziehen würde können. Ich musste ihm einfach auf den Grund gehen.

      Ein Brathuhn zum Verlieben

      Schon während der Teenagerjahre meiner ersten Tochter habe ich die Erfahrung gemacht, dass mein Grundberuf als Frauenärztin gemeinsam mit dem mir aufgeklebten Etikett »Psycho« dazu führt, dass die pubertierenden Freundinnen meiner Töchter informelle Sprechstunden in familiärer Atmosphäre suchen. Und zwar, um jenen neu zu erobernden Lebensbereich rund um Periode, Verhütung, die zulässige Vielgestaltigkeit möglicher vaginaler Ausflüsse in Abgrenzung zu den Besorgnis erregenden, Sex, Herz und Männer diskutieren oder auch gemeinsam reflektieren zu können. Gemeinsames Herumlungern auf dem großen Mädchenbett ist dafür ein gutes Ausgangsszenario. Oder auch ein Abendessen, zu dem man noch schnell ein oder zwei Teller dazustellt, weil das eine oder andere der Girls, das zum Aufgabenmachen oder »Chillen« rübergekommen ist, entschieden hat, noch ein wenig länger bleiben zu wollen. Diesmal war es ein Zitronenbrathuhn mit Reis, das in einer leicht suppenähnlichen Sauce friedlich vor sich hin schmorte, das zum Abendessen auf dem Programm stand. Gott sei Dank waren es eigentlich zwei davon, denn drei Freundinnen meiner mittleren Tochter, allesamt in der Hochblüte pubertätsbezogener Lebensthemen, hatten sich kurzfristig angesagt. Ich mag Kerzenlicht, es verleiht dem gemeinsamen Tisch mehr Wärme und eine Qualität von Langsamkeit, die Gespräche gut in Gang zu bringen vermag. So fanden wir uns allesamt über Brathuhnkeulen und -brüste hinweg rasch in einer angeregten Diskussion zum Thema Nummer eins. Dabei gilt es natürlich die vorgeschützte Erfahrenheit und den souveränen Wissensstand zu respektieren und nur sanft zu korrigieren, dass es zum Beispiel doch weniger vordringlich der Sex während der Menstruationsperiode ist, der zu Schwangerschaft führen kann, als jener in der restlichen Zykluszeit. Das Gespräch hatte dem üblichen Ritual zu Folge von allgemeinen Fragestellungen wie AIDS und Hausmittel für gesunde Scheidenflora bereits seinen Bogen zu den mehr persönlichen individuellen Fragestellungen genommen. Nun konnte es in jene Endstrecke höchsten Interesses und aufgeregter Brisanz einzumünden, in der ich dann auch meine »Psycho-Kompetenz« einbringen sollte: Jungs, Mädchen und Sex. Wie weit geht man als Mädchen mit einem Jungen? Und wie lange soll man warten, bis man es tut? Was darf man nicht tun, wenn man an einem Jungen ernsthaft interessiert ist? Sind Jungs einfach weniger treu als Mädchen? Soll man beim Sex alles tun, was der Junge will? Kann man einem Jungen sagen, wie er es tun soll? Wie geht man vor, wenn man sich in denselben Jungen verguckt wie die beste Freundin? Diese und ähnliche Fragestellungen jener Stromschnellenphase des Eintritts ins Beziehungsleben hatten wir bereits vor etwas mehr als sieben Jahren mit meiner ältesten Tochter und ihren Freundinnen ausgiebig diskutiert. Nun waren meine mittlere Tochter und ihre Freundinnen meiner Einschätzung nach ebenfalls an diesem Konjugationspunkt der Planetenbahnen von Mann und Frau angelangt. Sie befanden sich gerade in der Geburtsstunde der eigenen Beziehungs- und Sexualphilosophie ihrer Generation. Und dann sagte Gina, deren wogender, lasziver Gang in den letzten Monaten gerade seine letzte Unbewusstheit verloren hatte, jenen Satz, der mich seither schlichtweg nicht mehr losließ: »Get sex and stay detached!«, strahlte sie mir mit jener vollkommenen Treuherzigkeit entgegen, die nur wirkliche Überzeugung zu Wege bringt. Dabei warf sie ihre blonde Mähne mit einer eleganten Bewegung zurück. Die letzten Bissen meines Huhns würden an diesem Abend auf meinem Teller bleiben. Das wurde mir schlagartig bewusst, während ich mich in der Runde der Freundinnen umsah. Niemand machte Anstalten, einen Einwand formulieren zu wollen. Meine eigene Tochter schien mich, nach der allgemeinen, kurz aufgeflammten Heiterkeit, die kraftvolle Ansagen unter Jugendlichen zumeist nach sich ziehen, mit ihrem Blick zu fixieren und meine Reaktion abzuwarten. Die anderen Mädchen begannen bereits, die Vorteile dieses Zugangs zum Thema heftig zu diskutieren.

      »Wie meinst du das, Gina?«, versuchte ich nachzuhaken. »Was soll das heißen? Get sex and stay detached!«, wiederholte ich.

      »Genau das!« Ihr Tonfall war jetzt von großer Ernsthaftigkeit. »Sex ist einfach fun, fühlt sich super an und macht Spaß, aber wenn du dich dann an einen Typen hängst, wird alles immer total schwierig, und am Ende tut es weh. Es ist einfach viel besser, das gar nicht zu machen«, erklärte sie mir sehr sachlich.

      »Okay, du meinst, wenn du irgendwie an einen Jungen gerätst und dann merkst, dass es nicht der richtige ist, dann ziehst du dich rasch von ihm zurück«, versuchte ich ihre Aussage ins für mich richtige Fahrwasser zu bringen. Doch Gina machte mir deutlich, dass es sich hier nicht um eine Notfallstrategie nach einer Fehleinschätzung in der Wahl eines Jungen, sondern um ein Grundkonzept handelte. »Ich mach das mit jedem so«, beharrte sie.

      Ihre Freundinnen nickten. Ich bekam das Gefühl mit einer neuen Kulturnorm konfrontiert zu sein. »Aber entschuldige«, widersprach ich, »wie ist das mit dem Sich-Verlieben? Kommt das nicht vorher oder zumindest dann, wenn man miteinander geht?«

      »Nein«, bekräftigte sie ihren Ansatz, »das lass ich gar nicht aufkommen.«

      Ich schob meinen Teller endgültig von mir weg, zündete mir eine Zigarette an und dachte kurz nach. Gina kannte ich seit dem Kindergarten. Auch Anna und Zora, die jetzt ihrerseits dieses Konzept zu verteidigen begannen. Sex und Liebe hat schlichtweg nichts miteinander zu tun. Sex ist fun, Sex konsumiert man, das war die Aussage. Sie verabredeten sich bisweilen auch dazu, ganz cool und nüchtern, nachmittags nach der Schule. Natürlich wussten das die Eltern nicht, die kein Zitronenbrathuhn servierten. Zur Bekräftigung der Theorie erzählte Anna von einem »süßen Typen«, der einfach echt super aussah und den sie deswegen haben wollte. Sie hatte sich mit ihm ein Date abgemacht, das schon in seiner Planung ganz offen die Zielsetzung, miteinander zu schlafen enthielt. Genau genommen war sie nach der Schule zu ihm gekommen, sie hatten sich ausgezogen und es gemacht, und dann war sie wieder gegangen. Peng, das wars. Erledigt. Annas Beschreibung ihres Nachmittags und vor allem des Zugangsmodus schien hier am Tisch niemanden wirklich vom Sessel zu hauen. Ich sah mir die Mädchen so an, wie sie vor mir saßen. Ich kannte auch ihre Eltern, lauter »normale Familien«, wirtschaftlich zumeist etwas besser aufgestellt, engagierte Eltern, die für ihre Kinder immer das Beste wollten. Natürlich die üblichen Schwierigkeiten von einer geschiedenen Ehe hier oder dort, beide Eltern berufstätig, allesamt gefügte Persönlichkeiten und in ihrem Erziehungsverhalten diskussionsbereit und reflektierend. Sie hatten versucht, von klein auf der Persönlichkeit ihrer Kinder Entwicklungsspielraum zu geben.


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