Aufrichten in Würde. Gabriele Frick-BaerЧитать онлайн книгу.
Triggern, also meist kleinen (im Sinne von: unauffällig daherkommenden) sinnlichen Eindrücken (ein Geruch, ein Geräusch, ein Blick …), an die traumatische Situation erinnert werden und mit Angst oder Starre, Zorn oder Fluchttendenzen, Zittern oder hoher Erregung, mit dem Erleben, „neben sich zu stehen“ usw. reagieren. Sehr oft vollziehen sich solche Reaktionen unbewusst und bleiben für die Menschen selbst unerklärlich. Die einzige Erklärung, die sie haben, lautet dann: „Ich werde (oder bin) verrückt.“
Ein weiteres häufig angeführtes Phänomen im Vorfeld des traumatherapeutischen Prozesses ist die Schwierigkeit m Umgang mit „Nähe und Distanz“. Gemeint sind zumeist die Schwierigkeiten in sozialen Kontakten und Beziehungen. Das reicht von den Problemen in (Ehe-)Partnerschaften, die sich oft als Lebensarrangements zweier Unerreichbarer darstellen, bis zu den Problemen, sich „überhaupt an andere heranzutrauen“. Manche Menschen sind vereinsamt, andere haben viele Kontakte, ohne dass ihnen die ersehnte Liebesbindung gelingt. „Im Nebel zu sein“, „eine Wand zwischen sich und anderen Menschen zu spüren“, „abgeschnitten zu sein“, eine „Glasglocke um sich herum zu haben“: So oder so ähnlich sind die Bilder, die diesem Erleben Ausdruck verleihen. Auch für dieses Phänomen liegt die Verbindung zum Traumaerleben nahe: Sexuelle Gewalt ist ein Beziehungsakt, eine Beziehungstat. Dieser kann bzw. muss Folgen für das künftige Beziehungserleben haben, unabhängig davon, wie sich die Folgen im Beziehungserleben der Einzelnen äußern. Da die meisten Taten sexueller Gewalt innerhalb der Familie oder von anderen sehr nahe stehenden Personen begangen werden, ist der Bruch des Vertrauens besonders groß – ebenso die Schwierigkeit, wieder Beziehungsvertrauen aufzubauen.
Sich dennoch darum zu bemühen und trotz der Angst, verrückt zu sein, und der oft existenziellen Verunsicherung des Selbstwertgefühls darum zu kämpfen, den Alltag mit Arbeit und manchmal Familie bewältigen zu können, ist anstrengend und macht Druck, großen Druck. Von diesem Druck berichten die Klient/innen häufig in der ersten therapeutischen Begegnung. Sie fühlen sich schwer und angespannt (s. Kap. 3.5) und haben oft jedes Maß für das, was sie leisten, verloren. Was sie leisten, ist nie genug. Sie können sich nie oder nur für kurze Zeit nach Geleistetem oder Erledigtem entspannen, es muss gleich weiter gehen. Sie erleben sich v.a. in Phasen der Tatenlosigkeit als Versager/innen, die zum einen wieder mal nicht alles geschafft haben, was sie hätten schaffen müssen, und zum anderen nicht einmal fähig sind, zu entspannen. Ein erlebter Teufelskreis. Er ist bei Klient/innen mit traumatischen Erfahrungen ein Hinweis darauf, welche Lasten sie oft seit Jahren mitschleppen.
Genauer können sie diese Lasten und ihren Ursprung zumeist nicht benennen. Falls sie den Zusammenhang mit ihrem Trauma überhaupt kennen, so hindert sie doch oft die Scham daran, davon zu erzählen. Auch das Schweigegebot bzw. Redeverbot, mit dem es vielen Täter/innen gelang, die sexuelle Gewalt im Verborgenen zu halten, und die damit verbundenen Drohungen wirken oft nach und lassen verstummen. Auch die Erfahrungen vieler Opfer sexueller Gewalt, dass sie mit dem, was sie erlebt und erlitten hatten, danach oft allein gelassen wurden, sind wirksam und nachhaltig und lassen verstummen. Also bedarf es bei vielen Klient/innen erst des Aufbaus einer vertrauensvollen Beziehung, bis sie von ihren traumatischen Erfahrungen erzählen können.
Das Verstummen führt in den ersten therapeutischen Begegnungen oft zu solchen Äußerungen wie: „Wie es mir geht? Das weiß ich nicht.“ Oder: „Ich weiß nicht genau, was ich hier will.“ Oder: „Ich weiß nicht, was heute Thema ist.“ Wenn ich dann z. B. bitte, das „Ich weiß nicht“ einmal musikalisch mit einem Instrument auszudrücken, und wenn die Klientin oder der Klient nach verwundertem Zögern dies versucht, dann werden oft Spuren dessen hörbar und deutlich, was in der traumatischen Situation dissoziiert wurde. Im traumatischen Erleben sind die Betroffenen oft Unaushaltbarem ausgesetzt. Sie wehren sich dagegen, halten aus, indem sie Teile des Erlebens dissoziieren, aus ihrem bewussten Erleben abspalten (s. Kap. 3.9). Das Unaushaltbare wurde gleichsam begraben – doch die Erde bebt. Sonst wären sie nicht in der Therapie.
Was dieses Beben besagt und was es hervorruft, dafür haben sie keine Worte. Das „Ich weiß nicht“ ist Ausdruck der Dissoziationen und des Zwiespalts zwischen dem Dissoziieren und dem Spüren, „dass da was ist“.
2.2 Traumatische Situationen und Phasen des Traumaerlebens
Das Wort Trauma stammt aus dem Alt-Griechischen und bedeutet „Wunde“. Die Bezeichnung „Trauma“ wird in der Medizin für bestimmte körperliche Wunden benutzt, in Psychologie und Psychotherapie für bestimmte seelische Verletzungen. „In einer ersten Arbeitsdefinition können wir psychisches Trauma als seelische Verletzung verstehen (von dem griechischen Wort Trauma = Verletzung). Wie die verschiedenen somatischen Systeme des Menschen in ihrer Widerstandskraft überfordert werden können, so kann auch das seelische System durch punktuelle oder dauerhafte Belastungen in seinen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert und schließlich traumatisiert/verletzt werden.“ (Fischer, Riedesser 1999, S.19)
Neben sexueller Gewalt werden Erfahrungen wie Kriegsereignisse, Tod von Angehörigen, Naturkatastrophen, Unfälle, andere Gewalttaten usw. als traumatische Ereignisse bezeichnet. Jede traumatische Erfahrung wird individuell unterschiedlich erlebt, was allgemeingültige Definitionen nicht einfach macht. Die Forscher des Instituts für Psychotraumatologie definieren ein psychisches Trauma als ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ (Fischer, Riedesser 1999, S.79)
Begrifflich hat es sich für uns als sinnvoll herausgestellt, verschiedene Aspekte zu unterscheiden, die in der Sammelbezeichnung „Trauma“ enthalten sein können:
das Traumaereignis oder die Traumasituation, also in diesem Kontext die Handlungen sexueller Gewalt,
das Traumaerleben, also die Art und Weise, wie ein Mensch sich und seine Welt vor, während und unmittelbar nach dem Traumaereignis erlebt,
die Traumabewältigung, also die Art und Weise, wie der Mensch langfristig sein Traumaerleben bewältigt,
die Traumafolgen, also die Folgen des Traumaerlebens und der Traumabewältigung.
Trauma ist eine subjektive Kategorie und beinhaltet das subjektive Erleben einer Situation. Wesentliche Merkmale des traumatischen Erlebens sind:
Die Situation wird als existenziell bedrohlich erlebt. Was unter „existenziell“ verstanden wird, ist individuell unterschiedlich. „Existenziell bedrohlich“ sind nicht nur Situationen, in denen das Leben bedroht ist (die es allerdings auch sehr häufig gibt), grundlegend bedroht werden kann auch die seelische und soziale Existenz.
Fischer und Riedesser betonen in ihrer Definition die Diskrepanz zwischen der Bedrohung und der eigenen Hilflosigkeit. Das Ohnmachtserleben, das Grundgefühl, einer Gewalt ausgeliefert zu sein, die Erfahrung, in allem, was man tut, unwirksam zu sein, gehört folglich ebenso zum Traumaerleben.
Die Beschädigung des Selbstwertgefühls habe ich in der Beschreibung der Phänomene betont.
Ebenso haben wir dort aufgezeigt, dass die Schutzgrenzen, die die Intimität und Persönlichkeit bewahren, gewalttätig durchbrochen wurden. Jede sexuelle Gewalt ist ein Erleben existenzieller Beschämung.
Das Erfahren sexueller Gewalt ist immer auch eine Beziehungserfahrung. Nähe wird als gewalttätig und grenzverletzend erlebt, Vertrauen wird gebrochen.
Erleben sich Opfer sexueller Gewalt in der traumatischen Situation einsam und allein, so setzt sich das Gefühl, alleingelassen zu sein bzw. zu werden, für viele in der „Zeit danach“ noch fort.
Alle diese Merkmale traumatischen Erlebens müssen nicht für alle Opfer sexueller Gewalt zutreffend sein, für die meisten sind sie es – nach meinen Beobachtungen und Erfahrungen und nach wissenschaftlichen Studien. In letzteren ist der