Aufrichten in Würde. Gabriele Frick-BaerЧитать онлайн книгу.
Aussagen sich in dem Zitat „Das Schlimmste ist das Alleinsein danach“ stellvertretend wiederfinden, habe ich mir die Forschungsaufgabe gestellt, diese Phase genauer zu untersuchen. Über die Ergebnisse Rechenschaft abzugeben, wird einer späteren Veröffentlichung vorbehalten sein. (Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Damit verharmlose oder relativiere ich keinesfalls die Taten der Täter/innen. Ohne die Taten gäbe es keine „Zeit danach“.) Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die „Zeit danach“ für viele Opfer darüber entscheidet, ob das Traumaerleben bewältigt werden kann oder zu einem nachhaltig bestimmenden Teil der Biografie wird, und dass sie oft über die Nachhaltigkeit des Schreckens und der anderen Folgen entscheidet.
Das Traumaerleben sollte deshalb in drei Phasen unterteilt werden: das Erleben der akuten traumatischen Situation/en der Erfahrung sexueller Gewalt, die „Zeit danach“, in der die Betroffenen getröstet und parteilich aufgefangen werden – oder auch nicht, und die Phase der Traumabewältigung, in der die Betroffenen auf unterschiedliche Weise mittel- und langfristig die Folgen des Traumaerlebens in ihre Lebensmuster integrieren.
2.3 Biologisch-neuronale Prozesse und Folgen für das Erleben und Erinnern traumatischer Erfahrungen
Eine traumatische Erfahrung ist ein Erleben existenzieller Bedrohung. Um solchen Bedrohungen zu begegnen, greifen besondere Mechanismen im Körper, insbesondere im Gehirn. Diese zu verstehen, ist wesentlich, um zu begreifen, auf welche besondere Art das Erleben sexueller Gewalt und anderer Traumata im Gehirn bearbeitet und gespeichert wird. Aus diesen Prozessen ergeben sich wichtige Schlussfolgerungen für das Wiedererinnern und die therapeutische Arbeit. Hier sollen v.a. zwei wesentliche Besonderheiten des Traumagedächtnisses vorgestellt werden (Damasio 2001, Hüther 2001, Roth 2003, 2007, Singer 2002, Spitzer 2002, 2006 u.a):
Die erste Besonderheit besteht darin, dass alle sinnlichen Eindrücke des Menschen auf ihre existenzielle Gefährlichkeit geprüft werden. Dieses jahrtausende alte Prüfprogramm ist entwicklungsgeschichtlich sinnvoll für das Überleben der einzelnen Menschen wie der Gattung Mensch.
Wenn ein Mensch etwas Ungefährliches wie eine Blume sieht, reagiert er anders, als wenn er einem Säbelzahntiger begegnet und es um sein Überleben geht. Alles, was an einen Säbelzahntiger erinnert, mobilisiert die höchste Alarmstufe. Was früher die Geräusche, Gerüche und Spuren der Säbelzahntiger waren, sind heute die Trauma-Trigger.
Neurobiologisch beginnt der Prozess beim Thalamus. Diese Region des Gehirns ist zuständig für die Roherfassung der sinnlichen Eindrücke. Zur genaueren Bewertung und Einordnung leitet der Thalamus sie immer auch an die Amygdala weiter. Die Amygdala ist die existenzielle Wächterin des Gehirns. Sie prüft, ob ein Notfall, eine existenzielle Bedrohung vorliegt. Trifft dies zu, aktiviert sie ein Notfallprogramm.
Das traumatische Erleben ist ein Notfall. Wenn sinnliche Eindrücke über den Thalamus an die Amygdala gelangen, setzt diese Sofortreaktionen in Gang. Wer über die Straße geht und plötzlich ein herannahendes Auto hört, versucht wahrscheinlich, zur Seite zu springen. Dies geschieht, bevor er das Signal eingeordnet hat. „Flight“ oder „Fight“ werden die spontanen, durch die Amygdala hervorgerufenen Reaktionen genannt.
Wie kann die Amygdala solch ultraschnelle Reaktionen bewirken? Sie umgeht den Hippocampus, worin die zweite Besonderheit besteht. Der Hippocampus integriert üblicherweise die vom Thalamus neu eintreffenden Erfahrungen zeitlich, räumlich und emotional mit den Erinnerungen der Neocortex (dem neuronalen Speichersystem, der „Festplatte“) und schafft ein inneres Bild, aufgrund dessen ein Mensch handeln kann und das er abspeichern kann. Normalerweise hilft steigende emotionale Erregung, den Hippocampus zu stimulieren. An den ersten Kuss werden sich noch viele Menschen erinnern. Doch wird in der extremen Notfallsituation die Erregung außergewöhnlich hoch, wird der Hippocampus ausgeschaltet und umgangen. Wenn ein Mensch vom Säbelzahntiger bedroht wird, werden viele organische Funktionen, die nicht unmittelbar zum Überleben notwendig sind, abgeschaltet oder reduziert. Die genauen Umstände des Angriffs des Säbelzahntigers sind ebenso unwichtig wie sein Alter oder die Zahl seiner Barthaare.
Diese Kurzschlussreaktion führt dazu, dass die Amygdala autonom das vegetative System aktiviert und damit das gesamte Stressprogramm mobilisert, von der Adrenalinausschüttung bis zum Herzrasen. Gleichzeitig stellt die Amygdala unmittelbar Verbindungen zur Neocortex her. Die Folge ist, dass in solchen Situationen oft gar kein zusammenhängendes Bild hergestellt wird, an das sich der betroffene Mensch später erinnern kann. Um eine solche Erinnerung zu schaffen, hätte der Hippocampus aktiv sein müssen. Es bleiben in der Erinnerung der Amygdala und teilweise des Neocortex nur Fetzen, Fragmente, Bruchteile der Erinnerung, ein Geruch, die Erregung, Aktionen des vegetativen Nervensystems usw. Die fehlenden bzw. nur in Bruchstücken vorhandenen Erinnerungen, über die traumatisierte Menschen oft klagen, sind Ergebnis dieses Prozesses.
Nun kann nach einer Notfallsituation oft der Hippocampus reaktiviert werden und aus den Bruchstücken ein erinnerungsfähiges Bild zusammensetzen. Doch ist die Situation der meisten Opfer sexueller Gewalt oder anderer traumatischer Ereignisse von besonderer Hilflosigkeit und Überforderung gekennzeichnet (s. auch Kap. 3.9). Sie können weder kämpfen noch fliehen – also geraten sie in die Falle traumatischer Überforderung. Die Reaktion darauf ist „Freeze“ und „Fragment“. Das Traumaerleben wird „eingefroren“ in der Dauererregung und den anderen Symptomen des Posttraumischen Stresssyndroms (PTSD), das Erleben und die Erinnerung daran bleiben fragmentiert. Die Nacharbeit des Hippocampus gelingt jedoch bei einigen Opfern nicht, bei denen, die unter den Folgen des PTSD leiden. Vor allem nicht bei Menschen, die Multitraumata erlebt haben.
Die Opfer sexueller Gewalt und anderer Traumata, die kein erinnerungsfähiges Bild konstruieren können, können jedoch über körperlich-sinnliche Erinnerungen angesprochen werden: „Ist die Erinnerung an die traumatische Situation verloren oder fragmentiert, so repräsentieren traumatische Reaktionen bzw. Prozesse diese Erfahrung als implizite Erinnerung, auf der Ebene des Körpergedächtnisses.“ (Fischer/Riedesser 2003, S.119) In bildgebenden Verfahren wird bei experimentell herbeigeführten Flashbacks deutlich, dass das Broca-Areal als motorisches Sprachzentrum in seiner Aktivität unterdrückt wird, während der Bereich, dessen Schwerpunkt im bildhaften Speichern von Emotionen und Sinneseindrücken liegt, „besonders aktiv (ist). Dieser Befund erklärt, warum viele Traumatisierte das Geschehen oft nur bildhaft wiedererleben, nicht in Worte fassen können und von einem Zustand wortlosen Entsetzens (speechless terror) berichten.“ (a.a.O., S.123) Diese spezifische Art neurobiologischer Traumaverarbeitung macht die erste große Schlussfolgerung aus diesen Erkenntnissen zwingend: Traumatherapie muss Körper- und Sinnesgedächtnis ernst nehmen und ansprechen und auf der Ebene der Bilder, der Klänge und der Körpererfahrungen arbeiten.
Die verschiedenen Fragmente des Traumaerlebens, die gespeichert sind, können als Trigger das traumatische Erleben reaktivieren. Sie müssen neu integriert und umgewandelt werden, um diese Kraft zu verlieren bzw. zu verringern. Um dem Traumaerleben heilend zu begegnen, in welcher Phase der Therapie auch immer, wird es oft notwendig sein, sich den Erinnerungen mit all dem damit verbundenen Schrecken zu stellen. Solche Erinnerungen sind nicht gegeben, sondern werden in dem Prozess des Erinnerns neu geschaffen (Schauer, Nenner, Elbert 2003). Erinnern ist immer auch Neu-Erinnern. Die neuronalen Vernetzungen des erinnerten Geschehens werden neu aktiviert. Das ist der Schrecken, der Schmerz der traumatischen Erinnerung. In dieser Neuaktivierung werden sie jedoch nicht in dem Gehirn von damals geschaffen, sondern in dem Gehirn des heutigen Zeitpunkts, mit Boden und Beziehung, mit größerem Selbstbewusstsein und helfender Unterstützung. Diese neuen Bedingungen, diese veränderte Umgebung des Erinnerns kann die Erinnerung verändern, was wir in der Traumabewältigung aktiv angehen. Nicht die erlebte „alte“ Erinnerung wird anschließend wieder gespeichert, sondern die neue, die veränderte Erinnerung. Forscher sprechen deshalb von der „Transformation der traumatischen Erinnerung“ in der Traumatherapie (Peichl 2001, S. 151).
Auch dann, wenn Opfer zusammenhängende Geschichten des Traumaereignisses erzählen können, sind immer auch Dissoziationen und Fragmentierungen des Erlebens vorhanden, ist das Traumaerleben nicht vollständig integriert, was natürlich nur dann ein Problem ist, wenn