COACHING-PERSPEKTIVEN. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
Rolle des Coachee in der Organisation im Blick zu haben heißt freilich nicht, den Rest des Individuums auszublenden, schließlich sitzen sich nicht nur zwei »Professionelle« gegenüber, sondern auch zwei Menschen. Das individuelle, persönliche, emotionale und spirituelle So-Sein des Coachee beeinflusst die Art und Weise, wie er seine professionelle Rolle ausfüllt (oder auch nicht) und ist damit Teil des Hintergrunds. Üblicherweise werden diese Aspekte jedoch nicht im Organisations-Kontext an- oder ausgesprochen. Genauso wenig ist es dort üblich oder geübt, Themen oder Fragen dialogisch zu adressieren. Orientiert man sich also am dialogischen als Ideal von Beziehung als Norm, fällt das Fazit für »Dialog im Coaching« eher enttäuschend aus. Was nicht heißt, dass der Coach diese Beziehung nicht anstreben kann. Martina Gremmler-Fuhr fasst dieses Streben in ihrem Konzept vom »intentionalen Dialog«71 und bezeichnet damit eine Haltung, die sich zunächst in einem Kommunikationsverhalten ausdrückt:
Auf der Ebene der Kommunikation umfasst und bestätigt der Coach das, was der Coachee beschreibt und erlebt. Er ist präsent im Hier und Jetzt und stellt kontextbezogen und selektiv authentisch seine Eindrücke und sein Wissen zur Verfügung. Er hält den Prozess, öffnet sich für das »Dazwischen« und variiert situationsbezogen das Maß der Steuerung und der Kontrolle über diesen Prozess. Getragen ist sein Verhalten von einer »Grundhaltung, die eine Verständigung beabsichtigt und gleichzeitig akzeptieren und wertschätzen kann, was ist.«72 Für den gestalttherapeutisch geschulten Coach kann das bedeuten, dass er die zahlreichen Ich-Es-Momente im Coaching als erwartbar und nutzbringend wahrnehmen kann, statt sie als defizitären Kontakt oder platte Interaktionen abzuwerten.
»Zu leicht übersehen wir in unserem Engagement für das Dialogische, dass der Klient zwar eine diffuse Sehnsucht nach Begegnung spüren, diese aber gleichzeitig für ihn sehr beängstigend sein kann.73
Intentionaler Dialog heißt auch, die jetzt bestehenden Grenzen der Verständigung oder Begegnung zu akzeptieren und gleichzeitig um ihre Erweiterung im gegebenen Rahmen bemüht zu sein. Dazu gehört auch anzuerkennen, dass ein Dialog derzeit nicht möglich ist.
Verantwortung im Coaching
Ob und wie sich die Grenzen der Verständigung und damit die Beziehungsqualität verändern, ist dabei nicht allein vom Coach und seinem Wollen und Können abhängig. Coaching ist, wie die meisten anderen Beratungsformate auch, immer eine Ko-Kreation, 74 salopp gesagt: it takes two to tango. Das ist für viele Coachees zunächst befremdlich, denn schließlich zahlt die Organisation dafür, dass jemand sie coacht. »Jetzt bin ich mal gespannt, was Sie mit mir machen«, ist ein oft geäußerter Satz am Beginn eines Coaching-Prozesses. Die einfache Formel zur Verteilung der Verantwortung im Coaching lautet: Der Coach ist verantwortlich für den Prozess, der Coachee für den Inhalt. Ohne Anliegen, Fragen und Themen des Coachee fehlt es dem Coaching an Inhalt. Ohne die Steuerungskompetenz des Coaches wird es keine runde Sache.
Aber auch auf der Prozessebene ist der Coachee gefragt, Verantwortung zu übernehmen. Ohne sein Engagement, seine Veränderungsenergie, Neugierde und Motivation zu lernen fehlt es den einzelnen Sitzungen an Energie und Fokus. Ohne seine Bereitschaft zu einer dialogischen Arbeitsbeziehung kann das Coaching eine Aneinanderreihung platter Interaktionen und damit bedeutungslos sein. Diese Mitverantwortung auf der Prozess- und Beziehungsebene macht Coaching auch für den Coachee zu einem anspruchsvollen Beratungsformat. Für den Coach kann es wiederum nützlich sein, sich an den »Ersten Hauptsatz der Verantwortungsdynamik« zu erinnern, der besagt:
»Das Maß der Verantwortung in einem Interaktionssystem bleibt konstant. Die Verantwortungsabgabe des einen ist die Verantwortungsübernahme des anderen. Wo nichts ist, kann auch nichts abgegeben werden.«75
Neben diesem praktischen Aspekt schwingt bei der Mitverantwortung des Coachees zugleich der Verweis auf dessen existenzielle Verantwortung bezogen auf sein Leben mit, also die konstante Anforderung, »Ja« und »Nein« zu sagen und zu entscheiden, wie die Antwort auf eine Situation lautet, die jetzt der inneren Wahrheit entspricht.
Auch hier gilt, dass im Rahmen von Coaching weniger die Antwort auf die große Frage nach dem »Wer bin ich?« gesucht wird. Gleichzeitig scheint sie durch die »kleinen« Antworten auf die jeweiligen Situationen in der Organisation durch und kann damit in Resonanz gehen. Ein schwieriger Vorgesetzter kann der Anlass sein, die Autorschaft der eigenen Geschichte zu erfahren. Ein Konflikt am Arbeitsplatz kann die Tür zu tief greifender Selbsterkenntnis und Veränderung sein.
Die paradoxe Theorie der Veränderung
»In meiner Kindheit habe ich gelernt, ich solle ›etwas aus mir machen‹ und mir meinen Platz in der Welt schaffen. Es galt als eine Sache des Willens und der Anstrengung, die notwendigen Veränderungen zu vollziehen, um etwas zu ›werden‹ und einen Platz zu finden. Ich lernte, dass dieses Ziel erreichbar sei, wenn ich nur bereit wäre zu arbeiten, zu planen, mich anzustrengen und zu kämpfen.«76
Arnold Beisser schrieb dies in seinem Lebensbericht als gelähmter Therapeut im Jahre 1989. In seinem Text Die paradoxe Theorie der Veränderung aus dem Jahr 1970 setzt er sich mit dem Spannungsfeld von Intention und Akzeptanz auseinander. Die Annahme, es gebe nur willentliche Veränderung, prägt nicht nur weiterhin Individuen, die mit sich oder ihren Lebensumständen unzufrieden sind, sondern unsere ganze Kultur und das Management von Organisationen.
Ausgehend von seiner ganz persönlichen Situation – er war an Kinderlähmung erkrankt und gelähmt –, die durch keine Anstrengung zu verändern war, beschrieb Arnold Beisser seine Erfahrung, was sich änderte, als er anfing, diese Situation anzunehmen. »Dabei entdeckte ich, wie ihre unangenehmen und inakzeptablen Aspekte sich veränderten.«77
Diese persönliche Erfahrung und seine Beobachtungen aus der Zusammenarbeit mit Fritz Perls flossen ein in seine Paradoxe Theorie der Veränderung, die eine zentrale Bedeutung für den gestalttherapeutischen Prozess und die Rolle des Therapeuten hat:
»Kurz gesagt geht es um Folgendes: Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn jemand versucht, etwas zu werden, was er nicht ist. (…) Veränderung findet statt, wenn man sich die Zeit und die Mühe macht, zu sein, was man ist; und das heißt, sich voll und ganz auf sein gegenwärtiges Sein einzulassen.«78
Mit Achtsamkeit bei dem bleiben, was hier und jetzt geschieht (gefühlt, gespürt, gesagt wird) und »dabei bleiben«, auch wenn es unangenehm oder schmerzhaft ist oder sich leer anfühlt. »Die Grundlage dieser Arbeit ist das Jetzt.«79 Von diesem Jetzt aus ereignet sich der nächste Schritt von allein, er darf nicht erzwungen oder durch ein Programm (»ich sollte aber«, »ich will«, »ich denke, es wäre besser«) absichtlich herbeigeführt werden, »jede absichtliche Änderung ist zum Scheitern verurteilt.«80 Die beiden letzten Zitate stammen aus Therapie-Sitzungen von Fritz Perls und sollen an dieser Stelle verdeutlichen, dass es sich bei der Aufforderung, das zu sein, was man gegenwärtig ist, um eine Aufforderung im therapeutischen Setting handelt und nicht um ein Konzept zur Selbstverwirklichung.81
Für den Gestalttherapeuten bedeutet das, das Geschehen im Sinne der dialogischen Beziehung zu begleiten, präsent zu sein, seine Beobachtungen mitzuteilen und den Prozess zu halten. Er ist nicht der Vertreter der Veränderung, er Mit dieser Haltung erkennt der Therapeut auch die ungeliebten, schlechten, für falsch befundenen oder abgespaltenen Anteile des Klienten an und unterstützt den Klienten darin, dies auch zu tun und so die entfremdeten Teile seines Selbst zu integrieren.
»verweigert die Rolle des ›Veränderers‹. (…) Ein Therapeut, der versucht, einem Klienten zu helfen, hat die partnerschaftliche Position verlassen und ist zum wissenden Experten geworden, wobei der Klient die hilflose Rolle spielt (…)«82
Ziel der Therapie ist laut Arnold Beisser, im Angesicht einer sich immer rascher verändernden Umwelt, die Möglichkeiten der eigenen Stabilisierung zu erhöhen, um so in der Lage zu sein, »sich dynamisch und flexibel im Fluss der Zeit zu bewegen und dabei zugleich die Orientierung zu behalten.«83 Er verweist in seinem Text explizit darauf, dass dieser Veränderungsansatz zwar aus der therapeutischen Beziehung stammt, sich aber auch auf andere