Der lange Weg nach Alt-Reddewitz. Ulfried SchrammЧитать онлайн книгу.
Er saß im Halbrund mit den anderen Hochzeitsgästen und sah auf den Pfarrer, den stillen Altar, in die hellen Kirchenfenster und seine inneren Bilder, die sich mit dem augenblicklichen Leben vermischten.
Er blickte auf das Schwarz des Bräutigams, auf das Weiß der Braut und hörte die lebensklugen Worte des Geistlichen.
Kahlisch hielt inne im eigenen Lebensstrom und sah … seine Anfänge in der Schule, die abgeschlossene Lehre, die Tanzabende und Silvesterfeiern, das Zelten am Meer, sein Gitarrenspiel in den Dünen, den Braunkohletagebau und den frischen Beton für die Werkhallen.
Er ergriff die Hand seiner Brautjunger, die den Blumenstrauß auf ihrem Schoß festhielt, sah ihr in die Augen und stärkte sich an ihrem freundlichen Blick.
Dann sah er nach vorn und hörte von Treue, Zuneigung, Hilfe und Liebe, von Alter und Glaube. Er sah auf die Braut, sah den Ring und ihre Hingabe zum Bräutigam.
Das waren Dinge des Lebens, die immer wiederkehrten, die sich wiederholten und einen Lebenskreis bildeten. Kahlisch wurde plötzlich klar, dass auch er zu diesem Lebenskreis gehörte, dass er ein kleines Rädchen im Getriebe war, das sich drehte und gedreht wurde. Die Klänge der Orgel brachten Kahlisch in das Jetzt zurück, man erhob sich. Beim Ausmarsch wechselte die Braut an die rechte Seite ihres Mannes und Kahlisch führte seine Brautjungfer in die Aufstellung zum Hochzeitsfoto.
Er versuchte, seine Verlegenheit ein bisschen wegzulächeln, wie alle anderen auch. Nur das Brautpaar schien ihm sehr glücklich zu sein. Es stand heute im Mittelpunkt und erschloss nun einen neuen Lebenskreis für sich.
Das fand Kahlisch erst viel später heraus, als er sein eigenes Familienleben hatte, das nach seiner eigenen Hochzeit stattfand. Doch diese Hochzeit, bei der er die Brautjungfer begleitete, war für ihn eine Art Generalprobe und damit schon recht sinnvoll.
Am Nachmittag war die Hochzeit locker und fröhlich. Kahlisch lernte die Braut näher kennen, die eine Freundin seiner Brautjungfer war. Mit Gesellschaftsspielen vertiefte sich das Kennenlernen aller Hochzeitsgäste und als man tanzen wollte, verlegte sich alles auf den geschmückten Innenhof des alten Stadthauses. Die Hochzeitsgesellschaft verwandelte sich an diesem Sommerabend in eine Gruppe lustiger Menschen und feierte ausgelassen weiter.
Auf dem Nachhauseweg zog Kahlischs Brautjungfer die hohen Hackenschuhe aus, lief barfuß, trug ihren Biedermeierstrauß und hielt ihn Kahlisch ab und zu unter die Nase, lachte und hakte sich fest bei ihm unter.
Alles ist miteinander verbunden, sagte Kahlisch über die Schulter zu ihr, alles ist ein ewiger Strom des Lebens, selbst mit dem Sterben hört das nicht auf, man entwickelt seine Stärke, man entwickelt sein Ich, das für alle Zeiten bestehen bleibt.
Seine Jungfer blickte in die Nacht, zu den Sternen am Himmel, suchte ein bekanntes Sternenbild und deutete auf eine ferne Galaxie, auf der sie mit Kahlisch in dieser Nacht leben wollte.
GO WEST – DER FILM
Die Leute standen auf der Straße, standen zum Gebäudeeingang hin, standen im Treppenflur, standen zum zweiten Stock gerichtet, rückten im Vorraum auf die Aufnahme mit den drei Tischen zu und wurden von unermüdlichen Helfern mit ihren persönlichen Daten registriert. Kahlisch reihte sich ein und wartete.
Er blickte um sich und gleichzeitig in sich, Kino und Film, Komparse, der er jetzt werden wollte, Kameras, Leute mit dicken Brillen, Basecap und unter dem Arm Manuskripte, Megafonsprache mit den berühmten Worten: Alles auf Anfang!
Kahlisch war längst nicht mehr im jugendlichen Alter. Auf seinem Kopf sah es graustufig aus und die Rente war sein aktuelles Einkommen.
Um ihn herum warteten sehr viele Leute, viel jüngere Menschen als er, redeten im Plauderton, sprachen über die Massenszene des Films und deuteten sich ihre Rolle und Besetzung gegenseitig. Kahlisch hörte, dass es ein Hollywoodfilm war, der in dieser Gegend gedreht werden sollte. Jetzt erklärte sich für ihn auch der Menschenauflauf.
Kahlisch hatte eines Tages von seiner Trödelfreundin am Nachbarstand einen Hinweis auf diesen Casting-Termin bekommen. Eine Komparsenrolle kann man auch in deinem Alter noch spielen, hatte sie zu Kahlisch gesagt, und er war sich als Antwort mit beiden Händen durchs Haar gefahren und hatte eine Pose am Trödelstand eingenommen.
Dieser Tipp interessierte ihn. Filme spielten in seinem Leben schon immer eine orientierende Rolle. Kahlisch dachte an seine Kindheit mit dem Dorfkino und dem Kinderprogramm, erlebte noch einmal die Monumentalfilme seiner Studentenzeit und jetzt blickte er auf die vielen Regisseure und Schauspieler, die er schon ein Leben lang kannte.
Der Landfilm kam in seiner Jugend einmal in der Woche in das Dorf. Es gab eine Nachmittagsvorführung für die Kinder und eine am Abend für die Erwachsenen. In der größten Gaststätte des Ortes wurde der Tanzsaal für die beiden Vorführungen vorbereitet. Kahlisch war als Kind ein zuverlässiger Helfer beim Stühlerücken für die Zuschauer oder beim Aufbau der großen Filmleinwand auf der Bühne des Tanzsaales. Er verdunkelte Fenster und trug die Filmrollen vom Auto draußen hinein in den Saal. Meist wurde er für seine Hilfe mit einer Freikarte für den Nachmittagsfilm belohnt.
Als Kind interessierte ihn alles, was auf der Leinwand flimmerte, Abenteuerfilme, Kriegsfilme, Tier- und Trickfilme.
Am liebsten sah er Kinderfilme aus der Gegenwart. Kahlisch saß mit den anderen Dorfkindern in der ersten Stuhlreihe, zappelte vor Begeisterung und hielt sich die Augen zu, wenn der Vorspann ablief.
So sah es in anderen Ländern aus, so baute man die großen Segelschiffe mit den Kanonen an Bord … Kahlisch sah genau hin und lernte die Schiffskommandos aus dem Film auswendig. So ritten die sowjetischen Partisanen über die Leinwand und Kahlisch bekam ein Gefühl für Freund und Feind. Diese einfachen Bildungsreisen im Dorfkino prägten seine kindliche Lebensauffassung.
Jetzt stand er, mit dem Dorfkino im Kopf, wartete in der Menschenschlange und bewarb sich für eine Komparsenrolle. Nach den Formalitäten begab er sich in die Maske, wurde fotografiert und auf einen bestimmten Typ festgelegt. Ob sein Alter und sein Aussehen gefragt waren, erfuhr er nicht. Er bedankte sich für die Aufnahme im Komparsenregister und machte sich an dem sonnigen Herbsttag auf einen Spaziergang durch die Stadt, trank einen Kaffee an einem Backstand und betrachtete die Auslagen am Buchgeschäft. Er hing seinen diversen Kinoerlebnissen nach und sah sich als Komparsendarsteller in einem Hollywoodfilm.
Zum Hollywoodfilm kam es nicht, doch etwa ein Jahr später erhielt Kahlisch die Mitteilung, sich in einer anderen Maske für einen zweiteiligen Fernsehfilm einzufinden.
Er brauchte sich nicht mehr anzustellen; er wurde erwartet.
Es gab Erklärungen von Mitarbeitern, die er nicht ganz verstand. Es ging um Verfügbarkeit, Ortswechsel, Zeitlimit. Kahlisch hatte für alles genügend Reserven und schaute sich lieber im Kreis seiner Komparsenkollegen um. Hier war alles bunt gemischt, vom Alter her, vom Aussehen, auch vom Temperament der Leute. Wie von der Straße eingesammelt, ein interessantes kleines Häufchen von Enthusiasten, die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie redeten vom Film, von der Filmcrew, wie der Abenteuerfilm gemacht werden würde und von den richtigen Schauspielern, mit denen man arbeiten würde.
Maaskee!, rief es in den Raum hinein und eine neue Situation entstand.
Kahlisch wurde im Sessel, vor dem Spiegel und am Schminktisch begutachtet. An der attraktiven Maskenbildnerin konnte er sich nicht sattsehen. Sie betrachtete ihn von allen Seiten, zeigte im Spiegel auf seine Besonderheiten und holte eine Begutachterin zu Rate, drehte seinen Kopf nach oben und zur Seite, schrieb etwas auf einen Zettel und forderte ihn auf, zur Einkleidung in den Fundus zu gehen. Ein anderer Raum, ein anderes Fluidum, Kleiderständer mit den unterschiedlichsten Sachen, ein kleines Warenhaus mitten im Untergeschoss des großen Gebäudes, bereit für die unterschiedlichsten Rollen …
Kahlisch probierte einen kornblumenblauen, geflickten Arbeitsanzug und ein kragenloses Proletarierhemd an. Die Designerin sagte zu ihm: Sie sind ein ungarischer Bauer für einen Szenenabschnitt in einem fahrenden Zugabteil. Die Frau für den Fundus schaute auf den Notizzettel aus der