Der lange Weg nach Alt-Reddewitz. Ulfried SchrammЧитать онлайн книгу.
Schauspieler, der als ungarischer Bauer im Zug fuhr und vielleicht in die Stadt wollte oder in die Apotheke … Kahlisch brannte für den Film.
Jetzt war er ein Komparse in einem zweiteiligen Abenteuerfilm mit
Action - Bedürfnis im fahrenden Zug.
Einige Zeit verging und auf Kahlischs gebräuntem Gesicht breiteten sich am Kinn langsam weiße Bartspitzen zu einem stachligen Etwas aus. Es war ihm peinlich. Es musste ihm nicht peinlich sein, er erntete Anerkennung, sobald er sich zur Filmcrew erklärte, die ihn für einen Abenteuerfilm gebrauchen konnte, und auch so gab es Schulterklopfen für sein neues Äußeres.
Es war ein regnerischer Tag, als der Dreh begann. Das große Warten war für die Komparsen und die Filmleute der ewige Filmalltag. Alle Komparsen saßen in ihrer Filmkleidung im großen Zelt des Drehstabes, die Maske hatte sie zurechtgemacht, sie besahen sich gegenseitig und lernten sich kennen, es gab Kaffee, Zeitschriften …
Zwei Mitarbeiter verteilten Gegenstände an die im Zug reisenden Komparsen: Sonnenschirme, Regenschirme, verschnürte Päckchen, Köfferchen, Plastikfrüchte nach ungarischer Art, Blechkannen, Körbe mit Inhalt, eine Art Reiseproviant in Papier gewickelt … Kahlisch bekam ein Original-Einweckglas mit Soleiern in die Hand gedrückt und ihm war klar, dass er mit diesen Eiern mit dem Zug in die Stadt fuhr, um sie dort zu verkaufen. Er behielt also das Einweckglas fest in der Hand, sodass man es bei den Filmaufnahmen sehen konnte.
Die Filmcrew hatte sich auf einem historischem Bahnhofsgelände niedergelassen und ausgebreitet: je ein Wagen für die Maske und die Requisite, Akteurswagen mit persönlichen Eingangstüren der Schauspieler, Mitarbeiterwagen, Technikerwagen, Catering-Ausgabestände für Filmleute und Techniker und gesondert für Komparsen.
Das Bahnhofsgebäude trug einen überklebten ungarischen Namen. Auf den Bahnhofsgleisen wartete ein längerer, originaler Zug aus den 80er Jahren. Kahlisch sah überall genau hin. Die 80er Jahre kannte er aus dem eigenen Leben, doch das ungewohnte Film-Fluidum beschäftigte ihn sehr. Er war aufgeregt, angeregt und gut aufgelegt, der Dreh konnte endlich beginnen. Kahlisch war ergriffen, so wie damals, als er das Kinderfilmprogramm im Dorfkino miterlebte.
Ein Ruck ging durch das Filmzelt und alle liefen auf den wartenden Zug zu. Jeder Komparse hielt etwas in der Hand, durch die Filmkleidung war man als älterer Komparse schnell in der Filmzeit angekommen. Kahlisch war der ungarische Bauer in blauer Arbeitskleidung mit der blauen Mütze, aus der Haare bis in den Nacken reichten, er hatte sich zehn Tage nicht rasiert und hielt ein Glas Soleier in der Hand.
Alle Komparsen stiegen nach eigenem Ermessen ein und setzten sich, wie es ihnen gefiel. Es erfolgte eine Durchsage und der Zug fuhr los.
Die Filmfahrt dauerte. Der Zug fuhr auf einer geraden Strecke immer hin und her, zwei, drei Kilometer in jede Richtung. Im Zugabteil saßen nur die Komparsen als unentbehrliche Statisten, unterhielten sich miteinander wie normale Reisende, zeigten sich gegenseitig ihre Filmutensilien, lachten dabei und entspannten sich wie auf einer richtigen Zugfahrt. Die Eisenbahnwagons der Filmzeit hatten keine abgeschlossenen Coupés mit einem Außengang, sondern waren mit Vierersitzplätzen und Mittelgang ausgestattet. Kahlisch konnte durch den ganzen Wagon sehen. Es gab über jeder Sitzgruppe Gepäcknetze, wo die mitgebrachten Köfferchen und Sonnenschirme lagen.
Kahlisch saß allein und machte sich mit einer jungen Frau, die auf der anderen Seite des Gangs war, bekannt. Sie hatte einen blonden Pferdeschwanz und trug eine großgepunktete weiße Bluse und enge blaue Jeans zu Korkhackenschuhen. Sie sah fantastisch aus und erinnerte Kahlisch an eine Freundin aus seiner Studentenzeit, die jetzt gedanklich zu ihm kam.
Kahlisch wusste, dass er schrecklich aussah mit seinen grauen Haaren, die unter der Mütze hervorquollen, mit seinem ungepflegten Bart, der dunklen Hornbrille aus den 80ern und der schäbigen Arbeitskleidung. Das Schrägste an ihm war das Einweckglas mit den leuchtend weißen Eiern.
Dennoch wagte er einen kleinen Flirt mit der jungen Frau, die den Ellenbogen aufgestützt hatte und sich umsah. Sie sprachen über das Komparsentum, über den Film und über Sinn und Unsinn, hier und jetzt im Abteil zu sitzen.
Eine Megafonstimme rief: Action!
Es folgten Erklärungen für die Komparsen im Zugabteil, während der fahrende Zug ratterte.
Achtung, Aufnahme!, hörte jeder deutlich, und dann begann die Verfolgungsjagd im Zug. Wie an einer Perlenschnur aufgereiht, im Rückwärtslauf: Filmtechniker, Beleuchter, Tonmeister, Assistenten, Regisseur, Assistenten für die Kamerabetrachtung, Tonassistent und danach der Kameramann mit der Schulterkamera, die auf drei flüchtende Jugendliche frontal gerichtet war. Im engen Mittelgang war das ein bedrückender Moment für alle.
Alles auf Anfang!, hörte Kahlisch, und die Szene wurde umgekehrt noch mal gefilmt – die Kamera lief den flüchtenden Jugendlichen hinterher.
Die Komparsen bekamen ein Lob für ihr authentisches Verhalten bei dieser Flucht und Kahlisch hatte die Stirn, eine kleine persönliche Filmszene einzubauen. Eine Flucht hat immer auch Hindernisse, sagte er zur Aufnahmeleiterin. Ich könnte mein Glas Soleier, wenn die Flüchtenden kommen, meiner Nachbarin reichen, um einen kleinen Aufenthalt zu provozieren.
Ja, das könnten wir machen, sagte die Regieassistentin zu Kahlisch.
Die Einstellung wurde mehrmals wiederholt, die Spannung steigerte sich und Kahlisch kam stärker ins Bild.
Nach mehreren Stunden waren die Filmaufnahmen abgedreht. Catering für die Komparsen und Heimfahrt für Kahlisch.
Eines Tages wurde dieser Abenteuerfilm mit Kahlisch als Komparse im Fernsehprogramm als zweiteiliger Polit-Thriller angekündigt.
Die zweieinhalb Sekunden, in denen Kahlisch im Film zu sehen war, machten ihn nicht traurig oder mutlos. Im Gegenteil, der Film hatte ihn noch einmal in sein Lieblingsmetier Kino geführt, das für ihn nach wie vor eine Bedeutung hatte, das ihm noch immer Lebenskraft gab, die er mit anderen teilen wollte.
Diese Komparsenrolle hatte eine eigentümliche Bedeutsamkeit für sein pulsierendes Leben.
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