Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen. Annabel HerzogЧитать онлайн книгу.
Störung
2.1.4 Spezialisierte Medizin (Fachärztinnen und Fachärzte)
Da somatoforme Symptome oftmals nicht direkt als solche erkannt werden, sind Überweisungen zu medizinischen Spezialistinnen und Spezialisten häufig. In spezielleren klinischen Kontexten (z. B. bei Fachärztinnen und -ärzten für Rheumatologie, Schmerzmedizin oder Gynäkologie) werden Häufigkeiten zwischen 25 % und 66 % für funktionelle oder somatoforme Beschwerden angegeben (Maiden et al. 2003; Snijders et al. 2004; Waal et al. 2004).
In einer Studie von Nimnuan et al. (2001) wurden Patientinnen und Patienten getrennt nach der Fachabteilung, von der sie überwiesen wurden, hinsichtlich der Anzahl ihrer somatoformen Körperbeschwerden untersucht. Die höchsten Prävalenzraten wiesen Patientinnen und Patienten auf, die von gynäkologischen (66 %) sowie neurologischen Abteilungen (62 %) überwiesen wurden, gefolgt von Patientinnen und Patienten von gastroenterologischen (58 %) und kardiologischen (53 %) Stationen. Dabei stellten sich Patientinnen und Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden oft auch in verschiedenen Fachbereichen vor. Nonkardialer Brustschmerz kam beispielsweise häufig in kardiologischen Abteilungen vor (27,2 %), trat aber auch bei Fachärzten für Atemwegserkrankungen (39,0 %), Neurologie (21,4 %), Gastroenterologie (13,5 %) oder in rheumatologischen Sprechstunden (14,3 %) auf (Nimnuan et al. 2001). In einer Studie von Mehl-Madrona (2008) wurden Patientinnen und Patienten untersucht, die mehr als fünf Mal im Jahr die Notaufnahme aufsuchten. 11 % von ihnen erfüllten die Kriterien einer Somatisierungsstörung nach DSM-IV.
häufiger Syndrom-Overlap bei funktionellen Störungen
Bei unterschiedlichen, aber gleichzeitig bestehenden Beschwerden werden oft auch die Kriterien für verschiedene Diagnosen, wie mehrere umschriebene funktionelle Syndrome gleichzeitig erfüllt. Man spricht dann von einem Syndrom-Overlap, bei dem entsprechend bei der Diagnostik und Therapie nicht nur ein Organsystem oder eine Fachrichtung im Fokus stehen sollte, sondern eine interdisziplinäre Behandlung zielführend ist (Kanaan et al. 2007; Fink / Schröder 2010; Henningsen et al. 2018).
2.1.5 Somatische Belastungsstörung
Da die somatische Belastungsstörung (Kap. 5) erst mit Erscheinen der 5. Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5, APA 2013) eingeführt wurde, ist die Prävalenz dieser relativ neuen Diagnose noch weitestgehend unbekannt. Die meisten der Patientinnen und Patienten, die zuvor die Diagnose einer somatoformen Störung erhalten haben, werden gemäß DSM-5 mit einer somatischen Belastungsstörung diagnostiziert; z. T. werden durch die beiden Diagnosen aber natürlich auch verschiedene Patientinnen und Patienten erfasst.
Die Prävalenz der somatischen Belastungsstörung lässt sich entsprechend nur auf Basis früherer epidemiologischer Studien zu somatoformen Störungen schätzen (Creed / Barsky 2004), wobei vieles darauf hindeutet, dass auch die somatische Belastungsstörung eine weit verbreitete Störung ist, die am häufigsten bei Patientinnen und Patienten in der Primärversorgung auftritt (Rief et al. 2011).
Das DSM-5 legt als neues obligates Diagnosekriterium kognitiv-emotionale und Verhaltensmerkmale im Umgang mit den körperlichen Symptomen fest (B-Kriterium). Dabei wird nicht mehr zwischen medizinisch unerklärten und erklärten körperlichen Symptomen unterschieden. Es gab in diesem Zusammenhang zahlreiche Bedenken darüber, dass die neu definierten Kriterien der somatischen Belastungsstörung zu einer „Überdiagnostik“ anhaltender Körperbeschwerden führen könnten, da die Diagnose nun auch medizinisch erklärte Symptome berücksichtigt(Kap. 5). Tatsächlich ist es aber gerade die Kombination aus somatischen Symptomen und assoziierten psychologischen Belastungen, die mit dem höchsten Leidensdruck und entsprechend mit einer Verschlechterung der Lebensqualität und einer erhöhten Inanspruchnahme des Gesundheitswesens verbunden ist, sodass davon auszugehen ist, dass die neue Diagnose weiterhin relevante Fälle identifiziert (Rief et al. 2010).
Eine Studie, in der Prävalenzdaten aus einer populationsbasierten Stichprobe zugrunde gelegt wurden, untersuchte daher im Jahr 2012 folgende drei Personengruppen zur Häufigkeitsschätzung der somatischen Belastungsstörung (Creed et al. 2012): Gesunde, Patientinnen und Patienten mit medizinischen Erkrankungen wie Herzerkrankungen und Arthritis sowie Patientinnen und Patienten mit funktionellen Syndromen wie dem Reizdarmsyndrom. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden jeweils zum Vorhandensein belastender Körpersymptome (A-Kriterium) befragt, sowie zu damit einhergehenden psychischen Belastungen (B-Kriterium). 5 % der Gesamtstichprobe bejahte dabei die Frage, ob sie sich oft Sorgen machten, möglicherweise unter einer schweren körperlichen Erkrankung zu leiden. 10 % hatten das Gefühl, dass ihre Symptomatik von ihrer Umgebung (Familie, Freunde, Gesundheitssystem) nicht ernst genommen würde. 5 % aller Befragten gaben an, dass es ihnen schwer falle, ihre Symptomatik für eine Weile zu vergessen und über andere wichtige Dinge in ihrem Leben nachzudenken.
Wurde die Diagnose dabei nur auf Grundlage der Anzahl vorhandener somatischer Beschwerden (A-Kriterium) gestellt, waren die Prävalenzschätzungen für die somatische Belastungsstörung deutlich höher, als wenn zusätzlich auch die psychologischen Kriterien (B-Kriterien: kognitive, affektive, behaviorale Belastung durch die Symptome) erfüllt sein mussten (Tab. 2.2). Beispielsweise gaben die Patientinnen und Patienten aus der Gruppe mit den medizinischen Erkrankungen zahlreiche belastende somatische Symptome an, aber die Mehrheit der Befragten mit einer hohen Symptomanzahl erfüllte dabei nur eines oder gar keines der B-Kriterien. In der Gesamtstichprobe (n=952) berichteten 6,7 % sowohl über eine hohe Anzahl belastender somatischer Symptome als auch über ein oder mehrere psychische Kriterien vom Typ B, womit die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung erfüllt wäre. Die Prävalenz ist demnach höher als die der Somatisierungsstörung nach DSM-IV oder ICD-10, aber weitaus geringer als die der undifferenzierten somatoformen Störung mit ca. 20 %.
783 der Befragten erklärten sich in der Studie außerdem damit einverstanden, dass ihre Krankenakten im Hinblick auf medizinische Diagnosen überprüft wurden. Dabei fanden sich n=339 Befragte mit medizinischen Erkrankungen wie einer Herzerkrankung oder Arthritis und n=107 Patientinnen und Patienten mit funktionellen Syndromen wie dem Reizdarmsyndrom. Aus diesen beiden Gruppen berichteten insgesamt mehr Befragte sowohl belastende Symptome als auch begleitende psychologische Kriterien (A- und B-Kriterien) als in der gesunden Vergleichsgruppe. Doch selbst in diesen Patientengruppen, bei denen eine hohe medizinische Belastung und chronische Körperbeschwerden vorliegen, sind nicht immer die Diagnosekriterien einer somatischen Belastungsstörung erfüllt. Nicht alle Patientinnen und Patienten geben eine psychologische Belastung durch ihre Körperbeschwerden an (Tab. 2.2).
Tab. 2.2: Prävalenzschätzungen der somatischen Belastungsstörung unter Zugrundelegung verschiedener Diagnosekriterien in unterschiedlichen Teilstichproben (nach Creed et al. 2012)
Anmerkung: A-Kriterium: mind. 1 belastende Körperbeschwerde; B-Kriterien: damit einhergehende übermäßige Gedanken, Sorgen oder Verhaltensweisen
Die Daten aus dieser Studie deuten darauf hin, dass die Verwendung der neuen Diagnosekriterien der somatischen Belastungsstörung nicht zu einer stark erhöhten Prävalenz der Diagnose im Vergleich zum Status quo nach DSM-IV oder ICD-10 führt. In weiteren aktuellen Studien werden etwas höhere Prävalenzzahlen berichtet als bei Creed et al. (2012).