Die große Inflation. Georg von WallwitzЧитать онлайн книгу.
hinreichend ist für die Entstehung von Eisen, nicht aber für alle schwereren Metalle wie Blei oder die Edelmetalle. Die schwereren Elemente entstehen in einem r-Prozess (»r« steht für »rapid«), in welchem bei extrem hohen Temperaturen Neutronen eingefangen und zu neutronenreichen Atomkernen aufgebaut werden, die dann rasch, sehr rasch in die stabilen neutronenreichen Elemente wie Gold (oder instabile, aber langlebige Isotope wie Uran) zerfallen. Ein r-Prozess kommt durch eine Explosion mit sehr vielen Neutronen ins Laufen, aber wo und wie mag es dazu kommen? Astrophysiker gehen heute davon aus, dass die Kollision zweier Neutronensterne oder die Kollision eines Neutronensterns mit einem Schwarzen Loch die nötigen Energiemengen freisetzt. Durch einen galaktischen Zufall werden die so geschaffenen Elemente, als seien es Sternentaler, auf die Erde geschleudert und dort, seit es Menschen gibt, hochgeschätzt. Vgl. dazu Stephan Rosswog: »Out of Neutron Star Rubble Comes Gold«. In: Physics 10, 131, Dez. 2017.
20Wie so oft im Zusammenhang mit monetären Phänomenen lässt sich auch hier oft nicht sagen, wer die Henne ist und was das Ei. Das Horten von Geld kann die Folge, aber auch die Ursache einer Deflation sein.
21Deutsche Bundesbank: Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876–1975, S. 14, 16, 37f.
Rathenaus Planwirtschaft
Unmittelbar nach Kriegsbeginn schrieb Walther Rathenau einen Brief an den Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg, in welchem er sich zur Verfügung stellte, sollte dieser ihn »für die Dauer des Feldzuges für jede, wie immer geartete Tätigkeit verwenden (…) wollen«.22 Bereits am 9. August erhielt er die Gelegenheit, dem preußischen Kriegsminister Erich von Falkenhayn seine Überlegungen zur Organisation des wirtschaftlichen Rückgrats der Kriegsanstrengung zu unterbreiten. Rathenau legte insbesondere dar, wie unter den Bedingungen der Blockade die nötigen Ressourcen für einen Zwei-Fronten-Krieg organisiert werden konnten. Falkenhayn sah in seinem Gesprächspartner nicht nur einen Mann mit guten Ideen, sondern auch den Richtigen, sie umzusetzen. Er beschloss, eine Kriegsrohstoff-Abteilung im Kriegsministerium einzurichten, in der die Beschaffung der kriegswichtigen Ressourcen zentral geplant und besorgt wurde. Zu deren Leiter ernannte er Rathenau, der sich damit plötzlich an einer der entscheidenden Stellen der deutschen Militärmaschinerie wiederfand. Damit nahm er die zu Helfferich spiegelbildliche Funktion ein. Die Mittel, die der Finanzminister irgendwie beschaffte, wurden von Rathenau und seiner Abteilung ihrer Verwendung zugeführt. Rathenau wurde der Mann, der über die Allokation eines großen Teils der staatlichen Ressourcen entschied.
Walther war der Sohn von Emil Rathenau, dem Gründer der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG), die es sich zum Ziel gemacht hatte, nach dem Vorbild von Thomas Edisons General Electric Corporation in Deutschland die Stromerzeugung und -verteilung voranzubringen und zu diesem Zweck auch die entsprechenden brauchbaren Produkte auf den Markt zu bringen. Das war eine außerordentliche Idee, denn im selbstverliebten Europa der Belle Époque hatten nur wenige Unternehmer begriffen, dass in den USA nicht nur sehr viel Getreide wuchs, sondern auch neue Techniken entwickelt wurden. So erwarb der ältere Rathenau Edisons Patente auf Glühbirnen für Deutschland. Die AEG war aber auch aus eigenem Recht erfinderisch, wie etwa die Erfindung des Drehstrommotors und die Entwicklung der drahtlosen Telegraphie (im Rahmen der gemeinsam mit Siemens & Halske gegründeten Tochtergesellschaft Telefunken) bewiesen. Die AEG war innerhalb weniger Jahre zu einem der großen Konglomerate in Deutschland aufgestiegen. Siemens und die AEG wurden für die Elektroindustrie, was Thyssen, Krupp und Stinnes für die Kohle- und Eisenindustrie wurden, Bayer, BASF und Höchst für die Chemische Industrie sowie die Deutsche, Dresdner und Danat Bank für die Kreditwirtschaft. Diese nationalen Champions steckten nach dem Vorbild der amerikanischen Trusts oder der mittelalterlichen Zünfte ihre Reviere in Syndikaten (heute »Kartelle« genannt) ab, um Konkurrenz zu vermeiden und Gewinne zu sichern. In den Syndikaten wurden Preise und Produktionsmengen einvernehmlich festgelegt, so dass niemand das Geschäft des anderen beschädigte. Für die Verbraucher bedeutete dies eine stabile Versorgung zu hohen Preisen und für die Unternehmer ein angenehmes Leben, in welchem sie sich nicht um niedrigere Kosten oder bessere Qualität kümmern mussten, um ihren Teil vom Kuchen zu verteidigen. In der wohlgeordneten Kaiserzeit versorgten die Syndikate einen meist dankbaren Staat mit Industriearbeitsplätzen und standen dem rasant steigenden allgemeinen Wohlstand jedenfalls nicht im Wege. Im Gegenzug wurde die Wirtschaft weitgehend in Ruhe gelassen, wenig besteuert und reguliert, in dem Vertrauen, sie werde schon von allein das Richtige tun. Industrielle und Bankiers mochten auf der gesellschaftlichen Bühne hinter Adel und Militär zurückstehen, ihr Ansehen und ihr Einfluss waren durch ihre Staatsnähe dennoch erheblich. In der Regierung standen ihnen die Türen immer offen, ihr Rat wurde gerne gehört und in entsprechenden Gremien institutionalisiert. Sie gehörten zum personellen Motor des Aufstiegs Deutschlands zur wirtschaftlichen (und damit auch militärischen) Großmacht.
In diesem Club der Firmenpatriarchen kannte jeder jeden, man war staatsnah, technikaffin und, je nach Neigung, patriotisch, national oder imperialistisch gesinnt. Walther Rathenau war doppelt Mitglied als Industrieller und Bankier, denn er hatte, um dem Vater seine Tauglichkeit zu beweisen und sich eine Existenz jenseits des Familienbetriebs aufzubauen, 1902 das Angebot angenommen, Vorstand der Berliner Handelsgesellschaft des legendären Bankiers Carl Fürstenberg zu werden. Sein Erfolg als Finanzier konnte ihn nicht darüber hinwegtrösten, dass er in der AEG nie wirklich das Ruder übernehmen durfte. Nach dem Tod seines ursprünglich als Firmenerbe vorgesehenen jüngeren Bruders Erich wurde er zwar Aufsichtsratsvorsitzender, aber in der Rolle eines zahnlosen Erben. Sein Vater hielt ihn für zu weich, für einen Mann von hohen Geistesgaben, dem aber der rohe Geschäftsinstinkt abgehe. Als Vorstandsvorsitzenden berief er Felix Deutsch, der zu allem Überfluss auch noch mit Lili Kahn, der einzig wahren Liebe in Walther Rathenaus Leben, verheiratet war.
Kreativ und außerordentlich werden Menschen oft erst, wenn es ihnen gelingt, Fertigkeiten und Ideen, die sie sich in einem Bereich angeeignet haben, auf einen völlig anderen zu übertragen, um dort etwas Neues zu schaffen. Walther Rathenau war von Ausbildung und Beruf her Techniker und Unternehmer, ein Mann auf dem Boden der Tatsachen. Solche Menschen denken viel über Zwecke nach und die Mittel, die zu ihrer Erreichung nötig sind – welche Produkte sich in welchem Markt zu welchem Preis verkaufen lassen. Manche (nicht eben viele, aber doch einige) geraten dabei ins Grübeln und fragen nach immer höheren Zwecken, ihres Unternehmens, ihrer eigenen Existenz oder des Staates, in dem sie etwas bewegen. Walther Rathenau wurde zu einem solchen Grübler. Er brachte ohnehin eine melancholische Veranlagung mit und einen ausgeprägten Sinn für alles Ästhetische. 1907 ließ er sich von Edvard Munch porträtieren, er umgab sich gerne mit den herausragenden Künstlern seiner Zeit, war gut mit Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Frank Wedekind, Alfred Messel und Harry Graf Kessler befreundet, förderte Maler, Musiker und Bildhauer, Schriftsteller und Journalisten. Er selbst schrieb zeitkritische Essays und Bücher über Philosophie, Ästhetik, Architektur, Ökonomie und Staatskunst, oft in einem schwermütigen, von Einsamkeit geprägten Ton.
Als Intellektueller und Industrieller wurde Rathenau in beiden Lagern schief angesehen. »Prophet im Frack« nannte man ihn, wobei ihm die einen das Prophetische und die anderen den Frack übelnahmen. Die Unternehmer zweifelten an der Tatkraft des Verfassers von Texten, die dem Zeitgeist entsprechen mochten, den Autor aber doch von der Praxis abhalten mussten. Was mochten sie sich gedacht haben, als Rathenau 1911 von den »Schatten« schrieb, die er sah, wohin er sich wendete? »Ich sehe sie, wenn ich abends durch die gellenden Straßen Berlins gehe; wenn ich die Insolenz unseres wahnsinnig gewordenen Reichtums erblicke, wenn ich die Nichtigkeit kraftstrotzender Worte vernehme (…) Eine Zeit ist nicht deshalb sorglos, weil der Leutnant strahlt und der Attaché voll Hoffnung ist. Seit Jahrzehnten hat Deutschland keine ernstere Periode durchlebt als diese (…).«23 Auf der anderen Seite akzeptierten seine Freunde aus der Kunstszene ihn nie vorbehaltlos als einen der ihren. Konnte der Vorstand einer Großbank und Erbe eines Industrieimperiums, der sich nie nach der Decke gestreckt und sein Brot nie mit Tränen gegessen hatte, wirklich bedeutende Texte zu Kunst und Philosophie schreiben?