Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert HuesmannЧитать онлайн книгу.
der Figuren und dem wechselseitigen Verhältnis zwischen den Schauplätzen über die Ebene der „histoire“ hinaus zukommt, näher betrachtet werden.
Paris ist der Ort, an dem sich – in der in Rückblicken erfassten Hintergrundhandlung – das sich regelmäßig sonntags treffende Quartett konstituiert hat und später auflöst. Die Auflösung der Gruppe ist, wie oben ausgeführt, „ihrem“ Überdruss an den „regards de biais“1 der drei männlichen Mitglieder des Quartetts geschuldet, deren Verhalten durch ihren Lebens- und Arbeitsraum maßgeblich geprägt ist:
François als „ihr“ Ehemann scheint in seinem Antiquitätenladen durch die Beschäftigung mit „toten“ Gegenständen der Vergangenheit sowohl der Gegenwart als auch der Zukunft entrückt. Umgeben von Spiegeln, steht er in der Gefahr, die ihm begegnenden Personen nur in reflektierten Ausschnitten wahrzunehmen. Aus der Sicht Vincents ist er „[…] un sédentaire […] un sédentaire dans l’âme, incapable de changer d’avis une fois qu’il se fixait sur un objet, un lieu, une personne […]“2. Dass er der Einladung Gilles’ zu einem Treffen in seinem Haus am Meer ohne Begeisterung folgt, sie aber für notwendig hält,3 ist ein Zeichen für seine pragmatisch motivierte Einsicht in seine Lage. Der Tod seiner Frau, die ihn telefonisch aus Brasilien über ihre Scheidungsabsichten informiert hat,4 ist für ihn offensichtlich nicht mehr als der Schlussstrich unter einer ohnehin abgestorbenen Beziehung. Im Sinne Lotmans ist er eine „unbewegliche Figur“.
Der Archivar Hugo, dessen Liebe von „ihr“ nicht angemessen erwidert wird, betrachtet sich als „Archäologen, Geologen“ der Zeit, eine bildhafte Formulierung, in der sich seine Sicht der Verräumlichung von Vergangenheit, aber auch sein forschendes Suchen manifestieren. Sein „ihr“ gegebenes Versprechen „Je serai ta mémoire“ löst er auf „seine“ Art ein, indem er „ihr“ im (Frei)tod bis auf den Grund des Meeres folgt, um so einerseits auf ihr Sterben und andererseits auf seine Liebe zu ihr aufmerksam zu machen. Seine Erinnerung an „sie“ findet ihren Ausdruck in seiner symbolischen Bemühung um räumliche Nähe im Tode. Aufgrund der Radikalität seines Handelns, seines selbstbestimmten Überschreitens der Grenze zwischen Leben und Tod ist er eine im Lotman’schen Sinn „bewegliche Figur“.
Vincent, der als geschäftlich Reisender und somit von vornherein als Bewegungsfigur vorgestellt wird, „umwirbt“ seine Schwester zu einem frühen Zeitpunkt mit der Einladung, ihn auf Reisen zu begleiten. „Sie“ möchte nicht von ihm verlassen werden, doch
[…] il était parti, Vincent, le premier, la mort dans l’âme, le voyage dans
les yeux.
Vers où? Les continents ne pouvaient pas l’assouvir, il partait pour le che-
min le plus long, la recherche de ce qu’il avait, la recherche de ce qu’il
fuyait.“5
Vincent wird zu Beginn des Romans von der Erzählinstanz kryptisch als eine suchende Person beschrieben, die, wie wir durch sein Gespräch mit Hugo erfahren, das, was sie sucht, nämlich die Liebe zur Schwester, bereits besitzt, aber davor zunächst zu fliehen scheint. Während seiner und ihrer Reise von Paris nach Brasilien, die Gilles als Reise „au bout du monde“6 betrachtet, kommt es erst unter dem Einfluss der oben geschilderten Bedingungen vor Ort zum Tabubruch. Dadurch entstehen zwei durch den Atlantik und tiefe sozio-kulturelle Unterschiede getrennte „disjunkte Räume“ im Sinne Lotmans. Vincent und seine Schwester haben somit im wörtlichen und übertragenen Sinn „Grenzen“ überschritten und sind dementsprechend als „bewegliche Figuren“ zu betrachten. Auf ihre Grenzüberschreitung folgt die Katastrophe des Flugzeugabsturzes über dem Atlantik, bei dem die Schwester ihr Leben lässt. Die „doppelte Grenzüberschreitung“ des Geschwisterpaars bildet den „Sujetkern“ des Romans. Auf Hugo wirkt Vincents Offenlegung des inzestuösen Verhältnisses zu seiner Schwester wie eine reinigende Katharsis, die in der von Hugo gesuchten „Vereinigung“ mit ihr im Wasser des Atlantik symbolisch vollzogen wird.
Der Theaterregisseur Gilles, der „sie“ zwar kennen lernt, sich von ihrer blendenden und im Spiegel reflektierten Schönheit beeindruckt zeigt und vergeblich versucht, „sie“ für ein Theaterprojekt zu gewinnen, scheint als Nichtmitglied des (ursprünglichen) Quartetts zwar nur eine Randfigur zu sein. Aufgrund seines Berufes ist er jedoch prädestiniert, zu dem Wiedersehenstreffen von Paris aus an einen Ort einzuladen, der sich durch die Nähe und Distanz zum Atlantik gleichermaßen auszeichnet und so zwischen „le large“, der Sehnsucht nach Weite und Entgrenzung des Lebens einerseits und der Gebundenheit an den Ort, vertraute Verhältnisse und Konventionen andererseits vermittelt. Er wird als Initiator des Treffens am Meer zum Regisseur einer Rekonstruktion der Suchbewegungen, die erst dort transparent und gleichzeitig beendet werden.
2.2 Le Désir d’Équateur1 – Eine Suchbewegung „zwischen Welten“
Eine summarische Analyse der Suchbewegungen in dem 1995 erschienenen Roman Le Désir d’Équateur sollte der Frage nachgehen, ob und ggf. wie Raum und Bewegung angesichts der Verschränkung realer und virtueller Ziele und der zeitgeschichtlichen Umbrüche das Verhalten der handelnden Figur(en) beeinflussen oder aber in welcher Form die Verhaltensweise der agierenden Figur(en) durch räumliche Konstellationen oder eine räumlich geprägte Bildersprache versinnbildlicht wird. Da die namenlos bleibende autodiegetische Erzählerin sich selbst in den Mittelpunkt der als Suchbewegung inszenierten Diegese rückt und alle anderen – ebenfalls namenlos bleibenden – Personen, insbesondere die Frau und der Mann, mit denen sie über einen längeren Zeitraum über eine intime Beziehung verbunden ist, nur durch ihr Verhältnis zu ihr definiert werden, ist es naheliegend, in einem perspektivierenden Rückblick die Frage der „Beweglichkeit“ auf die Erzählerin zu fokussieren.
2.2.1 Reale Schauplätze
„Je préfère aller à la piscine pour pleurer […]“1 – mit diesen Worten eröffnet die Erzählerin die Schilderung ihrer gescheiterten Beziehungen und erklärt – mit einer unüberhörbaren alliterativen Hervorhebung – das Schwimmbad zu ihrem bevorzugten Aufenthaltsort, an dem sie Trauerarbeit leistet, indem sie mit jedem Schwimmzug ihre Erinnerungen zu verdrängen versucht.2 Ihr ist sehr wohl bewusst, dass sie beim Schwimmen auf jegliche Bodenhaftung verzichtet. Beunruhigend findet sie dies jedoch nicht, vielmehr stört sie, dass sie – im Schwimmbad und andernorts – völlig unvermutet von Erinnerungen an „sie“, ihre Geliebte, heimgesucht wird.3 Gleichwohl kennzeichnet es ihre Verlorenheit und Verzweiflung, dass sie in ihrem von Krisen und Brüchen beherrschten Leben ein Schwimmbad, konkret: das Wasser als die einzige Kontinuität versprechende Umgebung betrachtet.4 Der durch das Wasser erzeugte Eindruck des Liquiden, nicht Greifbaren kennzeichnet in inhaltlicher Hinsicht die innere Instabilität, den Mangel an Beheimatung und Verortung der Erzählerin, deren Gegenwart, also die Zeit des Erzählens, überdies durch einen Eindruck der Leere und die ernüchternde mediale Wirkung des II. Golfkriegs verdunkelt wird.5 Gleichwohl generieren das Wasser, das Schwimmen und Tauchen im Verlauf des Textes eine Fülle von Bildfolgen, die eindeutig erotische Konnotationen evozieren.
Über den Wohn-, Arbeits- bzw. Aufenthaltsort ihrer bzw. ihres Geliebten teilt die Erzählerin relativ wenig mit. Um zu „ihr“ zu gelangen, fährt sie innerhalb von Paris vom Norden in den Süden und legt diese große Strecke offensichtlich hochmotiviert zurück: „Ces parcours, du nord au sud, je m’en souviens. Tout traverser, aller d’un bout à l’autre, je sais pourquoi.“6 Von „ihm“ wird „sie“ einmal in der kalten Apparateatmosphäre einer nicht lokalisierten Arztpraxis empfangen, in der sie – zunächst allein gelassen – eine „[…] tentation de partir […]“7 spürt, um unmittelbar nach seinem Erscheinen bereitwillig seinen überfallartigen sexuellen Avancen nachzugeben.8
Näher beschrieben werden die o.g. Schauplätze genauso wenig wie die sowohl mit „ihm“ als auch mit „ihr“ aufgesuchten Ziele „[…] à la mer […]“9. Dies bedeutet, dass diese Orte ausschließlich funktional als Verankerung der Handlung dienen. Eine Ausnahme allerdings bildet die Reise, die die Erzählerin mit „ihm“ nach Istanbul unternimmt.10 In der Europa