Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried HerderЧитать онлайн книгу.
der wird gestählt und gefestigt durch sie hindurchgehen.
Es ist für die Dichter der Sturm- und Drangbewegung bezeichnend, daß sie ausnahmslos ihre größten Würfe im jugendlichen Alter taten: es gilt dies sogar von den Klassikern Herder, Goethe und Schiller. Den Beginn machte Gerstenbergs »Ugolino« im Jahre 1767, eine prachtvolle dramatische Studie voll Farbe und Spannung, die durch die Kraßheit, mit der sie eine Art Morphologie des Hungers entwarf, größtes Befremden erregte. Gerstenberg war um etwa ein Jahrzehnt älter als die übrigen Originalgenies und starb erst im Jahre 1823 mit sechsundachtzig Jahren, hat aber nach diesem verheißungsvollen Auftakt nichts von Bedeutung mehr produziert. Der Göttinger »Hain«, ein Bund exaltierter junger Leute, gegründet 1772, suchte die alte Skaldenpoesie zu erneuern und schwärmte für Freiheit, Vaterland, Tugend und Klopstock. Die Mitglieder der eigentlichen Sturm- und Dranggruppe, die mit dem »Hain« nur äußerlich in Berührung stand, sind alle um die Mitte des Jahrhunderts geboren und wurden vielfach auch »Goethianer« genannt, weil man den Führer der ganzen Bewegung in Goethe erblickte, der sich aber bekanntlich sehr bald von ihr zurückzog. Die Werke erschienen anonym, und es ist ergötzlich zu beobachten, wie selbst Kenner in der Feststellung des Verfassers fehlgriffen. Lessing glaubte, daß Leisewitzens »Julius von Tarent« von Goethe und Wagners »Kindermörderin« von Lenz sei, einige Gedichte Lenzens sind in fast alle Goetheausgaben übergegangen, seine »Soldaten« galten allgemein für ein Werk Klingers, dafür wurde Klingers »leidendes Weib« noch von Tieck in Lenzens gesammelte Werke eingereiht, während bei Klingers »neuer Arria« Gleim und Schubart auf Goethe rieten und Lenzens »Hofmeister« von Klopstock, Voß und aller Welt ebenfalls Goethe zugeschrieben, ja sogar von vielen für dessen bedeutendstes Drama erklärt wurde. In der Tat ist Lenz nächst Goethe der weitaus interessanteste Dichter der Generation. Dieser nannte ihn »das seltsamste und indefinibelste Individuum« und Lavater sagte, Lenzens Stärke und Schwäche treffend zusammenfassend: »er verspritzt vor Genie«. Er erinnert in mancher Beziehung an Wedekind. In seinen Dramen herrscht eine wüste und doch kalte Sexualität, eine gehetzte Bilderflucht und Gedankenflucht, die aber gerade eine eminent dramatische Atmosphäre schafft, ein ins Pathologische und Karikaturistische gesteigerter Naturalismus, der den Figuren eine höchst eigentümliche Grelle und Panoptikumstarrheit verleiht, und ein aus Amoralität geborener Moralismus, der vor den schockantesten Motiven nicht zurückschreckt: in den »Soldaten« ist die Heldin eine Hure und der »Hofmeister« schließt damit, daß der Titelheld sich kastriert. Lenzens Stücke, die er selbst in der Erkenntnis, daß sie ein Mischgenre darstellten, Komödien nannte, erfüllten vollkommen die Forderung, die er 1774 in seinen »Anmerkungen über das Theater« an das Drama stellte: ein »Raritätenkasten« zu sein; der vorzügliche Ausdruck stammte eigentlich von Goethe, den er überhaupt in allem zu kopieren suchte. Er verliebte sich in Friederike Brion und Frau von Stein, stand in engem Freundschaftsverkehr mit Schlosser und Cornelia, traf in einigen seiner Gedichte täuschend den Ton des jungen Goethe und wollte in Weimar ebenfalls die Hofkarriere ergreifen. Karl August nannte ihn daher den Affen Goethes. Doch unterschied er sich von diesem, ganz abgesehen von allem andern, allein schon durch einen abnormen Mangel an menschlichem Fond und psychologischem Takt, der sein Leben nach kurzem Aufstieg ins Dunkel des Wahnsinns und der Vergessenheit schleuderte.
Eine alle Grenzen überspringende und doch im Grunde nur künstlich erzwungene Maßlosigkeit war auch der Grundzug Klingers. Wieland nannte ihn »Löwenblutsäufer« und er selbst schrieb in einem Brief vom Jahre 1775: »Mich zerreißen Leidenschaften, jeden anderen müßte es niederschmeißen ... ich möchte jeden Augenblick das Menschengeschlecht und alles, was wimmelt und lebt, dem Chaos zu fressen geben und mich nachstürzen.« Seine Gestalten leben in einer permanenten Siedehitze; seine Sprache erstickt in einem dicken Nebel von verstiegensten Tropen und widersinnigsten Wendungen. Später ging er nach Petersburg, wo er zum General und Liebling des Zaren avancierte, ziemlich zahme vielgelesene Romane schrieb und in hohem Alter starb. Von seinen Jugenddichtungen sagte er 1785: »Ich kann heut über meine früheren Werke so gut lachen, als einer; aber so viel ist wahr, daß jeder junge Mann die Welt mehr oder weniger als Dichter und Träumer ansieht. Man sieht alles höher, edler, vollkommener; freilich verwirrter, wilder und übertriebener.«
Heinrich Leopold Wagner war ein roher und krasser, aber sehr kräftiger Naturalist. Sein Drama »Die Reue nach der Tat« hatte unter Schröder, der ihm den kitschigen Titel »Familienstolz« gab, einen großen Erfolg. Er starb schon 1779. Der Maler Friedrich Müller, in der Literaturgeschichte unter dem Namen »Maler Müller« bekannt, schrieb ein Faustfragment und ein Schauspiel »Golo und Genoveva«: fein kolorierte, halb realistische, halb lyrische Szenenreihen, geschmackvoller, aber auch blasser als die der anderen. Der schwächste, gemäßigteste und daher erfolgreichste der Gruppe war Leisewitz.
1773 erschien Bürgers »Lenore«, eine der stärksten deutschen Balladen. Diese Dichtungsgattung erreichte überhaupt damals eine hohe Blüte: sie kommt von der »Moritat« der Jahrmarktsbuden her und ist eben darum ein volkstümliches, farbiges und lebenskräftiges Genre, ein lyrisch-episches Pendant zum Drama der Geniezeit. Der erste Musiker, der die geheimnisvoll düsteren Farben der Ballade wirksam zu treffen wußte, war Johann Rudolf Zumsteeg. Schiller hat an Bürger im Jahr 1791 in der »Allgemeinen Literaturzeitung« eine etwas einseitige Kritik geübt, die großes Aufsehen machte, von Goethe sehr beifällig aufgenommen wurde und den Dichter der »Lenore« tief verstimmte, obgleich sie sich an mehreren Stellen sehr anerkennend, ja bewundernd äußert und ihm nur die letzte Kunstreife abspricht.
Sturm und Drang ist eine Strömung der deutschen Literatur in der Epoche der Aufklärung, die etwa von 1765 bis 1785 hauptsächlich von jungen, etwa 20- bis 30-jährigen Autoren getragen wurde. Diese Strömung wird auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet.
Die Bezeichnung Sturm und Drang kam in den 1820er Jahren auf. Sie geht auf die 1776 verfasste, 1777 veröffentlichte Komödie Sturm und Drang des deutschen Dichters Friedrich Maximilian Klinger zurück – und damit letztlich auf den aus Winterthur stammenden „Genieapostel“ Christoph Kaufmann (1753–1795). Er hatte Klinger gedrängt, sein Schauspiel so zu nennen, anstelle des ursprünglichen Titels Wirrwarr. Die Uraufführung fand in Leipzig am 1. April 1777 durch die Seylersche Schauspiel-Gesellschaft statt.
Das Persönlichkeitsideal dieser jungen Generation in der deutschen Literatur wendete sich gegen Autorität und Tradition. An Stelle einer erlernbaren Regelpoetik, die man in Dichterakademien lernen konnte, setzten die „jungen Wilden“ die Selbstständigkeit des Original-Genies, das sein Erleben und seine Erfahrungen in eine individuelle künstlerische Form brachte, die mit den Regeln der traditionellen Poetik sehr frei umging. Man bezweifelte die Maßgeblichkeit der ratio und begann die emotio ins Zentrum zu rücken.
Die exaltierte, ungebändigte und doch gefühls- und ausdrucksstarke Sprache des Sturm und Drang war voller Ausrufe, halber Sätze und forcierter Kraftausdrücke und neigte zum derbrealistisch Volkstümlichen. Man nahm kein Blatt mehr vor den Mund und brachte die Sprache des Volkes und der Jugend auf die Bühnen. Die Frontstellung der jungen Schriftsteller gegen eine aristokratische Hofkultur nach französischem Vorbild sowie ihre Sympathie für Begriffe wie Natur, Herz und Volk fielen bereits den Zeitgenossen auf. Eine eigenständige „Jugendkultur“ in der Literatur war entstanden.
Johann Georg Hamann
Sokratische Denkwürdigkeiten
Mit einer doppelten Zuschrift an Niemand und an Zween.