Mann meiner Träume. Nicole KnoblauchЧитать онлайн книгу.
Auf den Straßen herrscht Gewalt. Aber Gewalt führt immer zu noch mehr Gewalt. So gewinnt man eine Schlacht, aber niemals den Krieg! Und nur dort gehören Kämpfe hin: Auf ein Schlachtfeld, auf dem sich zwei Armeen gegenüberstehen. Nicht auf die Straße mit aufgehetztem Pöbel auf einer Seite.“ Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Aber wenn nötig, werde ich alles, was gerade geschieht, unterstützen, da ich es für gut und richtig halte! Ich muss nicht damit einverstanden sein, wie es geschieht.“
„Du wirst also kämpfen?“
„Nur wenn ich muss“, stieß er grimmig hervor. „Das ist nicht mein Kampf. Sollen die Franzosen sich doch gegenseitig abschlachten. Wenn es nach mir geht, halte ich mich raus.“
Kaum zu glauben, dass er Frankreich später einmal als seine einzig wahre Geliebte bezeichnen sollte.
„Was meinst du, wie der Rest Europas auf die Ereignisse der letzten Wochen reagieren wird?“
Er dachte kurz nach, bevor er antwortete. „Sie werden gegen Frankreich in den Krieg ziehen und darin liegt meine Chance. Die Franzosen werden gegen halb Europa kämpfen und ich kann Korsika befreien.“
Er stand auf und lief, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, vor mir auf und ab. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht erstaunt aufzuschreien. Von dieser Geste hatte ich so oft gelesen und jetzt sah ich es mit eigenen Augen!
„Für mich sind die Veränderungen der letzten Wochen positiv zu bewerten“, sprach er weiter, ohne auf mich zu achten. „Ein Umdenken des Staates war lange überfällig. Das, was als Nächstes kommen wird, haben Paoli und mein Vater auf Korsika bereits versucht: eine Republik. Ich bin nicht sicher, ob das in Frankreich funktionieren kann. Für Korsika ist es die richtige Lösung.“ Er unterstrich seine Worte mit einem Nicken. „Für Frankreich wäre eher eine konstitutionelle Monarchie nach dem Vorbild Englands etwas. Man muss auf das Volk hören, aber das Volk darf sich nicht mit Gewalt Gehör verschaffen.“ Er blieb stehen und sah mich offen an. „Die letzten Wochen haben eines ganz deutlich gezeigt: Es sind die Bedürfnisse des Volkes, die eine Regierung stark machen - oder stürzen.“
Ja, das Volk. Es würde lange Zeit die Pfeiler seiner Macht bilden. Wenn er wüsste, wie Recht er hatte und wie wenig er sich später daran halten würde.
„Ich langweile dich sicher“, deutete er meinen Gesichtsausdruck falsch.
„Nein! Ich sehe, du hast Voltaire und Rousseau gelesen.“
Erstaunt hob er die Brauen. „Du kennst Voltaire und Rousseau?“
„Sicher.“ Voltaire und Rousseau hatte ich in meiner 'Sturm- und Drangzeit' verschlungen.
Napoleone setzte sich wieder neben mich. „Du überraschst mich immer wieder, Marie. Was denkst du über Rousseau?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach er weiter. „Er liegt mit seiner Annahme über den Ursprung der Menschen falsch. Sie haben nicht einsam gelebt, weil das ihr Naturzustand ist. Sie haben einsam gelebt, weil es nur wenige Menschen gab!“ Seine linke Hand schlug energisch in die rechte. „Und solange die Menschen alleine lebten, waren sie glücklich. Als die Bevölkerung wuchs, musste man zwangsläufig zusammenrücken und Kompromisse eingehen. Im nächsten Schluss gebe ich Rousseau allerdings recht: Gutes kam dabei nicht heraus. Der Mensch in der Gesellschaft ist schlecht.“
Ich lachte leise.
„Was ist daran so lustig?“
„Ich hatte ähnliche Gedanken.“ Mit gesenkter Stimme flüsterte ich: „Ich mag Menschen auch nicht.“
Kleine Lachfältchen bildeten sich um seine Augen und er griff nach meiner Hand.
„Ich meine, einzelne sind ganz in Ordnung und mit einigen komme ich gut aus. Wenige sind meine Freunde, aber die Menschheit an sich ist - na ja - wie sagt Rousseau? Böse.“
Napoleones Finger schlossen sich fester um meine. „Du verwirrst mich! Allein der Gedanke, eine Frau könnte sich mit all dem befasst haben.“ Seine Augen wurden dunkel. „Noch verwirrender ist der Gedanke, dass ich diese Frau unheimlich anziehend finde.“ Seine Lippen streiften meinen Mund.
Ich war ihm zu intelligent? Richtig, er mochte seine Frauen eigentlich lieber hübsch, schweigsam und dumm.
Und dann wusste ich, dass der Traum zu Ende ging. Etwas zog mich von ihm fort. Frustriert stöhnte ich auf!
„Was ist los?“, flüsterte er ganz nah an meinem Ohr.
„Ich muss gehen.“
„Jetzt?“ Zorn funkelte in seinen Augen.
„Ja, jetzt. Ich muss Geld verdienen.“ Oh nein! Jetzt dachte er sicherlich wieder, ich würde als Hure arbeiten! Marie, denk nach, bevor du den Mund aufmachst. „Nicht, was du denkst“, fügte ich schnell hinzu.
Er lief rot an. „Was denke ich denn?“
Ich ging nicht darauf ein. „Ich darf meine Kutsche nicht verpassen.“
„Die wohin fährt?“, kam die gepresste Frage.
„Eine Stadt am Rhein. Du wirst sie nicht kennen: Mainz.“
„Ich weiß, wo das ist!“ Verblüfft schüttelte er den Kopf. „Die Reise dorthin dauert über eine Woche.“
Seine Finger spielten unablässig mit den Knöpfen seiner Uniformjacke. „Sehe ich dich wieder?“ Er blickte mich nicht an und auch ich sah ihm nicht in die Augen.
„Ich kann nichts versprechen.“ Wenn es in meiner Macht stünde, würden diese Träume endlos weitergehen.
„Bitte, komm wieder“, platzte es aus ihm heraus. „Wenn ich dich nicht wiedersehe, müsste ich denken, das alles sei nur ein Traum gewesen.“
Ja, ein Traum. Klar.
„Ich versuche es.“ Liebevoll strich ich über seine Wange. Hoffentlich bemerkte er das leichte Zittern nicht.
Blitzartig griff seine Hand nach meiner und zog sie an die Lippen. „Bis bald“, murmelte er und ließ mich los. Ich drehte mich um und lief weg – und das lag nicht nur daran, dass ich das Gefühl hatte, zurück in die Gegenwart gesaugt zu werden.
„Na, da legst du ein ordentliches Tempo vor.“ Anna schob die Aufzeichnungen zur Seite und schmunzelte.
„Wie meinst du das?“
„Du küsst einen wildfremden Mann? Auf diese Art? So etwas hätte ich nicht von dir erwartet!“
Verwundert legte Marie den Kopf zur Seite. „Das war ein Traum! Hast du Kontrolle über deine Träume? Und Napoleone ist nicht irgendein wildfremder Mann. Ich kenne ihn mein ganzes Leben lang!“
„Du kennst deine Vorstellung von ihm dein ganzes Leben lang“, widersprach Anna.
„Und? Wo liegt da der Unterschied? Das sind meine Träume, also entspricht er meinem Bild von sich!“
Beide Frauen begannen gleichzeitig zu kichern.
„Das klang jetzt reichlich merkwürdig“, gluckste Anna. „Worauf ich hinaus will, ist: Warum träumst du dir eine Beziehung mit Napoléon?“
„Weil meine Beziehung in der realen Welt nicht geklappt hat? Weil eine Traumbeziehung zu Napoleone nicht in so einem Chaos enden kann?“
„Das liest sich nicht, als seist du emotional unbeteiligt.“
„Bin ich auch nicht.“ Marie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und seufzte. „Ich weiß, wie krank das jetzt klingt. Es war einfach alles so echt. Ich kann noch seine Küsse, seine Hände auf meinem Körper spüren. Wenn ich mit der Zungenspitze meine Lippen berühre, kann ich ihn sogar schmecken.“ Ihre Hände sanken auf den Tisch. „Das ist doch nicht normal!“
„Möglicherweise doch“, überlegte