Im Eckfenster. Gerstäcker FriedrichЧитать онлайн книгу.
„Mein Sohn, mein armes, verlorenes Kind", sagte die Mutter mit zitternder, kaum hörbarer Stimme, legte ihren rechten Arm über sein Haupt und weinte leise vor sich hin. Max, dem alles unheimlich wurde, und der den fremden Mann gar nicht kannte oder begriff, dass das sein Onkel sein sollte, drängte sich furchtsam zu der Margarete und hielt sie, die Augen immer auf den Knieenden geheftet, fest am Kleide gepackt.
„Aus dem Z u c h t h a u s !" sagte da endlich der alte Tischlermeister mit hohler, dumpfer Stimme. „Bist du endlich von deiner Wanderschaft zurück? Die hat lange gedauert und du musst viel in der Welt gesehen haben."
Der Sohn antwortete nicht, nur fester umschlang er die Mutter, deren Arm er auf sich ruhen fühlte. Es war, als ob er bei ihr Schutz suchen wollte gegen den Vater und dessen Vorwürfe.
Der Tischlermeister mochte es auch so verstehen; langsam, den Blick noch immer auf den Sohn geheftet, nickte er vor sich hin und sagte dann düster: „Ja, versteck' dich, Karl, versteck' dich, weiter bleibt dir auch von jetzt an nichts übrig. Versteck' dich vor der Welt, vor dir selber, nur vor deinem Gewissen bist du es nicht imstande. Oh, mein Gott, oh du allmächtiger Gott!" Und der alte, starke Mann konnte den Anblick nicht länger ertragen, er sank auf den nächsten Stuhl, schlug beide Hände vors Gesicht und konvulsivisch fast arbeitete seine Brust gegen das erdrückende Gefühl an, das ihn zu ersticken drohte.
Da richtete sich der Sohn langsam in die Höhe, sein Gesicht war mit Tränen überströmt und totenbleich; er strich sich langsam die Haare aus der Stirn, und sein glanzloser Blick suchte des Vaters ineinander gesunkene Gestalt. Endlich sagte er mit leiser, heiserer Stimme, indem sein Auge langsam im Kreise der Seinen umherglitt:
„Also haltet auch i h r mich alle für schuldig – für fähig, ein solches Verbrechen zu begehen?"
Keiner antwortete, der Mutter Blick hing angstvoll an seinen Zügen. Da schritt Margarete, seine Schwester, leise auf ihn zu, sie sah ihm fest ins Auge, und als sie dicht bei ihm stand, lehnte sie ihren Kopf an seine Brust und sagte schüchtern: „Ich habe es nie getan, Karl, ich war damals noch jung, wie mir aber in jener schweren Zeit die Kinder auf der Straße nachschrieen und mich verspotteten, mein Bruder hätte einen Menschen totgeschlagen und käme ins Zuchthaus, da habe ich still für mich geweint, aber geglaubt habe ich's doch nicht, auch wenn ich noch ein Kind war."
„Gretchen", sagte ihr Bruder, schlang seinen Arm um sie und drückte sie an sich. „Mein liebes, liebes Gretchen, und bist du's denn wirklich? Wie hoch aufgeschossen in der langen Zeit!" setzte er scheu hinzu.
Der Vater hob den Kopf, aber jetzt hielt sich die Mutter auch nicht länger.
„Nein!" rief sie. „Wo ich jetzt sein treues, ehrliches Gesicht wiedersehe, wo ich es selber aus seinem Munde höre, dass er unschuldig ist, jetzt, jetzt glaub ich's ihm, mag die Welt über ihn urteilen, wie sie will, die eigene Mutter kann ihn nicht verdammen!"
Und von ihrem Sitz emporfahrend, warf sie sich an die Brust des Sohnes und umschlang ihn mit ihren Armen.
„Meine gute, gute Mutter!"
„Es war eine furchtbare Zeit", flüsterte die Frau, ohne aber ihre Stellung zu verändern oder den Kopf zu heben. „Als wir die erste Kunde hörten und hier von der Polizei ein Leumundszeugnis über dich verlangt wurde. Damals hielt dich hier freilich kein Mensch für schuldig, selbst nicht die Polizei, aber dann, als Berichte über Berichte kamen, das Verhör von den Geschworenen mit all den Zeugenaussagen gegen dich hier sogar in den Zeitungen gedruckt wurde, so dass es alle Menschen lesen konnten, oh, mein allmächtiger Gott! Was habe ich da gelitten, was ausgestanden, und nicht einmal aus dem Fenster wagte ich zu sehen, aus Furcht, dass ich dem Auge eines anderen Menschen begegnen könnte. Und dann kam das Urteil – sechs Jahre Zuchthaus..." Sie konnte nicht weiter, sondern drückte nur ihr Antlitz fest, fest an des Sohnes Brust, als ob sie dort das ganze ausgestandene Elend bergen wolle.
„Und doch unschuldig, Mutter!" sagte Karl ruhig und resigniert.
„Und wagt du das n o c h zu behaupten?" fuhr da der Vater empor, und es war fast, als ob er mit den rauen Worten selbst in ihm aufsteigende Zweifel bekämpfen und niederdrücken wolle. „Wagst du das zu behaupten, Junge, wo nicht die Richter hinter verschlossenen Türen, sondern Männer unseres Standes, Bürger und Handwerker, brave, unbescholtene Leute, die kein Interesse für oder gegen dich haben konnten, wo die Geschworenen dich selbst nach allen Zeugenaussagen und Beweisen für schuldig der furchtbaren Tat befunden haben?"
„Ja, Vater", sagte Karl und sah dem Vater ruhig und fest ins Auge. „So wahr da droben Gottes Himmel über uns ist, so wahr ich hoffe, dass er dich und die Mutter noch lange Jahre gesund erhält, so wahr sage ich dir, ich bin an der schrecklichen Tat, für die ich büßen musste, so unschuldig wie du oder Margaret."
„Oh, mein Sohn, mein Sohn!" klagte die Mutter.
Der alte Tischler schaute ihn betroffen an. Das klang allerdings nicht wie das freche Leugnen eines Schuldigen, und es war sein Sohn, sein eigen Fleisch und Blut. Aber ließ es sich denken, dass alle jene furchtbaren Beweise, die, jeden Menschen überzeugend, aufgebracht worden, nur eben so viele Lügen und Täuschungen gewesen wären? Ließ es sich denken, dass die Gerichte einen Menschen für sechs Jahre in das Zuchthaus sperren und damit für ewig ehrlos machen würden, wenn auch nur der Schatten einer Möglichkeit vorgelegen hätte, dass er unschuldig sein könnte? Nein, wieder schüttelte er finster mit dem Kopfe und sah brütend vor sich nieder – es war nicht möglich.
„Ich habe", sagte da der Sohn leise und schmerzlich, „bis jetzt recht hart über die Richter gedacht, dass sie meinen heißen Beteuerungen nicht glauben wollten und mich wie einen gemeinen Verbrecher verdammen, ich kann es jetzt nicht mehr, wo selbst der eigene Vater seinen Blick von mir abwendet; das ist hart, recht hart."
Der Mann kämpfte noch eine Weile mit sich, endlich sagte er, aber mit leidenschaftlich bewegter Stimme: „Gott ist mein Zeuge, wie ich gekämpft und gerungen habe gegen alle Beweise, wie ich nicht glauben konnte und wollte, dass mein eigener Sohn, den ich, wie ich fest glaubte, zu einem braven und rechtlichen Menschen erzogen, ein gemeiner Verbrecher, ein Mörder habe werden können; aber die Geschworenen, brave, unbescholtene Männer aus dem Volke, haben sich selber davon überzeugt und ihr Urteil gesprochen, und nur dein jugendliches Alter, wie es in der Zeitung stand, und dein früherer unbescholtener Wandel hat die Richter dahin vermocht, dich nicht die ganze Strenge der Gesetze fühlen zu lassen. Du bist damals zu sechs Jahren Zuchthaus nicht b e s t r a f t, sondern b e g n a d i g t worden, und du wärst unschuldig?"
„Und trotzdem, Vater, bin ich unschuldig verurteilt worden!" sagte Karl mit voller Ruhe, während sich die Mutter jetzt wieder aufgerichtet hatte und ihn mit peinlicher Spannung anschaute. „Weißt du, was ich zu meiner Verteidigung gesagt habe?"
„Hundert und hundert Mal habe ich's durch und wieder und wieder gelesen", rief der Vater rasch und heftig. „Aber hast du die Geschworenen damit überzeugen können? Hat dir auch nur einer die Gründe gelten lassen?"
„Doch, Vater", sagte Karl. „Drei von ihnen räumten wenigstens die Möglichkeit ein...."
„Erklärten aber selber, dass es unwahrscheinlich sei. Die Uhr wolltest du von dem Juden gekauft, deinen eigenen Stock aber, womit das Verbrechen verübt worden, an einen Fremden, der nie aufgefunden werden konnte, und den kein Reisender an der ganzen Straße weiter gesehen hat, verkauft haben."
„Ja, Vater."
„Und in dem Hause, wo der Jude zurückblieb, hatte er noch seine Uhr und bot sie den Leuten selbst zum Handel an."
„Ich weiß es", sagte Karl. „Die Zeugen haben es ausgesagt, aber haben diese Leute nicht oft mehr Uhren bei sich, um Handel damit zu treiben?"
„Und das Geld, das du bei dir hattest?"
„Es war ehrlich verdient, Vater, und nicht der fünfzigste Teil von dem, was der Jude bei sich gehabt haben sollte."