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Im Eckfenster. Gerstäcker FriedrichЧитать онлайн книгу.

Im Eckfenster - Gerstäcker Friedrich


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mich nicht besinnen, was er für Haar, was er für Augen gehabt, wie er gekleidet war. Ich habe mir nie die Menschen im Einzelnen betrachtet und das behalten können.“

       „Aber wenn du ihn wiedererkennen wolltest, müsstest du doch auch sagen können, wie er ausgesehen hat“, sagte finster der Alte.

       „Nein, Vater, ich weiß nur, er war städtisch gekleidet, besser als ich; ich wunderte mich damals, dass er mit dünnen Stiefeln in die schmutzige Straße kam und doch nicht so aussah, als ob er schon einen langen Weg darin gemacht hätte – aber Fremde achten ja doch nicht so aufeinander. Wir gingen außerdem verschiedene Wege, er nach Osten, ich nach Westen, was konnte er also für mich anderes sein als ein Mann, dem man einmal im Leben und vielleicht nie wieder begegnet!“

       Der Alte nickte langsam vor sich hin, es klang alles möglich, was ihm sein Sohn sagte. Außer der Uhr hatte man auch nur eine geringe Summe Geldes bei ihm gefunden, und der Stock war eigentlich der Hauptbeweis gegen ihn gewesen, da man den in dem Wirtshaus, in dem die beiden übernachtet hatten, genau kannte. Und was jetzt? Wenn er selbst jenem Fremden im Leben wieder begegnet wäre und ihn erkannt hätte, wie konnte er nach den langen Jahren auf ihn schwören? Und selbst das angenommen, wie hätte er ihm je beweisen wollen, dass er die Tat verübt? Er wusste ja selbst nicht einmal, ob er es getan!

       Die Kinder hatten der ganzen Erzählung, dem ganzen Gespräch mit scheuen Mienen zugehört; sie verstanden den Sinn nicht, aber sie fühlten trotzdem heraus, dass etwas Schweres und Furchtbares verhandelt würde, das man nicht stören durfte. Jetzt erst, da das Gespräch ins Stocken kam, erinnerte sich Max an seinen Magen, denn das Essen war heute auf unverantwortliche Weise hinausgezögert worden. Wer von allen, die Kinder vielleicht ausgenommen, dachte auch daran!

       „Essen wir denn noch bald, Grete?“ knurrte er und zupfte dabei die Tante an der Schürze.

       „Das Kind hat Recht“, sagte der Vater, welcher die Worte gehört hatte. „Lass das Essen hereinbringen, die Leute dürfen nicht so lange warten.“

       Das junge Mädchen verließ das Zimmer, um den Auftrag zu besorgen, und Karls Blick haftete jetzt zum erstenmal auf den Kindern.

       „Und das ist die Bärbel?“ sagte er, als er mit tränenden Augen das kleine Mädchen betrachtete. „Du großer Gott, sie wurde noch auf dem Arm herumgetragen, und den kleinen Burschen kenn‘ ich nicht einmal!“

       „Es ist deiner toten Schwester Lisbeth Kind, der Max. Wir haben ihn erst vor zwei Jahren zu uns genommen.“

       „Komm her zu mir Max – willst du nicht deinem Onkel die Hand geben?“

       „Nein!“ schrie der Knabe. „Ich fürchte mich vor dir!“ Dabei barg er sein dickes, rotes Gesicht in der Schürze der Großmutter.

       „Und Bärbel kennt mich auch nicht mehr?“

       Das kleine Mädchen wich ebenfalls scheu vor ihm zurück und hielt die Hände hinter sich, dass er keine davon ergreifen konnte.

       Karl seufzte aus voller Brust, und still vor sich niedersehend, sagte er leise und kaum hörbar: „Oh, das tut weh, recht weh!“

       „Bärbel, geh hin zu ihm“, bat die Mutter.

       „Nein, ich mag nicht!“ rief das Kind verdrossen.

       „Aber warum nicht, Herz?“

       „Die Gesellen sagte heute morgen, er wäre im Zuchthaus gewesen.“

       „Bärbel, um Gotteswillen!“

       Gretchen kam wieder herein, sie trug die Suppe auf, sah aber totenbleich aus.

       „Kommen die Leute?“ fragte der Vater eintönig.

       „Nein, Vater, ich – ich soll ihnen ihr Essen in die Werkstatt geben.“

       „In die Werkstatt?“ rief der Meister auffahrend. „Weshalb?“

       Karl war sich auf den Stuhl am Tische nieder und stützte sein Gesicht in beide Hände.

       Der Tischlermeister nahm seine Unterlippe zwischen die Zähne – er hatte jedenfalls ein hartes Wort auf der Zunge, aber er bezwang sich. „Gut“, sagte er nach einer kleinen Pause, die er aber brauchte, um die Worte herauszubringen. „Gut, trage ihnen das Essen heute hinaus, und morgen...“

       Er stand neben dem Sohn, der noch immer regungslos in seiner Stellung verharrte, nur das konvulsivische Zittern seines Körpers verriet, dass Leben ihn ihm war.

       „Karl!“ sagte er plötzlich mit nicht so lauter Stimme. Der junge Mann rührte sich nicht. „Karl!“

       Karl hob scheu den Kopf zu ihm empor – da breitete der alte Mann die Arme nach ihm aus.

       „Vater!“ schrie Karl und sprang in die Höhe.

       „Junge, Kind!“ rief der Alte noch einmal, und fest, fest umklammerten sich die beiden Männer und hielten sich so umschlungen.

      Drittes Kapitel

      Bei Oberstleutnants.

       Nicht sehr weit vom alten städtischen Markte, am sogenannten Brink, einer etwas gebogenen Straße des überhaupt altertümlichen Ortes, stand die Hofapotheke, ein zweistöckiges, nicht unansehnliches Gebäude, dessen Parterrelokal der Besitzer selber, Hofapotheker Semmlein, bewohnte, während er die oberen Etagen an verschiedene Parteien ausgemietet hatte – gehörte ihm doch auch das Nachbarhaus, wo er sich mit seinem Laboratorium und Drogenlager ausbreiten konnte. Rhodenburg war allerdings, wie schon erwähnt, keine wirkliche Residenz, in welcher der Hof seinen bleibenden Aufenthalt nahm, aber das verhinderte keineswegs, dass man die Titel: Hoftapezierer, Hoffleischer, Hofschlosser usw. über einer großen Anzahl von Werkstätten sah, während Ausschnitthandlungen, Weingeschäfte, Krämer und Gott weiß wer sonst noch auf ihren Schildern und unter dem oft in Holz geschnitzten und bunt bemalten Landeswappen die wohlklingende, wenn auch sonst nichts bedeutende Aufschrift trugen: „Hoflieferanten“.

       In der ersten Etage der Hofapotheke wohnte der Oberstleutnant von Klingenbruch mit seiner Familie, seiner Frau und zwei erwachsenen Töchtern, Henriette und Flora. Henriette mochte neunzehn, ihre jüngere Schwester siebzehn Jahre zählen, und beides waren ein paar wirklich hübsche Mädchen: Henriette mit prachtvoll dunklem, kastanienbraunen Haar und blauen Augen, was ihr einen ganz eigenen Reiz verlieh, Flora mit einem allerliebsten, fast noch dunkleren Lockenköpfchen und dunklen Augen. Beide junge Damen schauten denn auch mit voller, ungetrübter Lebenslust in die Zukunft hinein, denn bis jetzt sahen sie nur Rosen auf ihrem Pfad und hatten ja noch auf keinen einzigen Dorn getreten – es ging sich da gar so hübsch!

       Ihre Eltern besaßen allerdings nur ein sehr geringes, kaum nennenswertes Vermögen und lebten außerdem von der auch nicht besonders hohen Gage des Vaters – wahrlich keine Kleinigkeit mit zwei erwachsenen Töchtern, wo deren Anstand außerdem, bei fast unnatürlich gestiegenen Bedürfnissen, noch gewahrt werden musste. Aber einen Zuschuss fanden sie glücklicherweise bei einer leider bürgerlichen Tante, die noch dazu einen vollkommen unaristokratischen Namen trug – einer verwitweten Mäusebrod. Diese half wenigstens den jungen Damen mit einem kleinen Taschengeld aus, hatte es aber schon außerdem offen ausgesprochen, dass Henriette wie Flora, wenn Gott sie einst zu sich nähme, ihre Universal-Erbinnen werden sollten. War sie doch die Schwester des alten Oberstleutnants, die aber als armes, adliges Fräulein einen schon ziemlich bejahrten, aber reichen Kaufmann geheiratet und ihn nach sehr kurzer Ehe durch den Tod wieder verloren hatte.

       Henriette und Flora behaupteten in der Wohnstube, jede mit ihrem Nähtisch, die beiden Fenster und arbeiteten augenblicklich, wenigstens der Form nach, an einer für die Tante bestimmten Stickerei, da deren Geburtstag in die nächste Zeit fiel. Ihre Blicke glitten aber doch viel häufiger, als sich das mit der Arbeit eigentlich vertrug, nach der Straße hinüber, und die Aussicht dorthin war in der Tat fesselnd genug.

       Gerade ihnen gegenüber, nur ein ganz klein wenig zur Rechten, stand ein eigentümlich gebautes Erkerhaus vollkommen frei auf der anderen Seite der Straße, aber


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