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Fingerzeige - Intentions. Oscar WildeЧитать онлайн книгу.

Fingerzeige - Intentions - Oscar Wilde


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es ist von jeher so gewesen. Ein großer Künstler erfindet einen Typus und das Leben sucht ihn nachzubilden, ihn nach Art eines unternehmenden Herausgebers in gemeinfaßlicher Form wiederzugeben. Weder Holbein noch Van Dyck fanden in England vor, was sie uns gaben. Sie brachten ihre Typen mit, und das bereitwillig nachahmende Leben verschaffte dem Meister die Modelle. Die Griechen wußten das vermöge ihres feinen, künstlerischen Instinktes. Sie stellten eine Statue des Hermes oder des Apollo in das Gemach der Braut, daß diese in ihrer Lust und ihrem Schmerz solcher Kunstwerke ansichtig würde und Kinder gebäre von der gleichen Schönheit. Sie wußten, daß das Leben nicht nur Geistigkeit, Gedanken- und Gefühlstiefe, Seelenqual oder Seelenfrieden der Kunst entnimmt, sondern daß es sich auch in Linie und Farbe nach ihr richten kann und die Hoheit eines Phidias wie die Grazie eines Praxiteles wiederzugeben vermag. So erklärt sich ihre Abneigung gegen den Realismus. Sie haßten ihn aus rein gesellschaftlichen Rücksichten. Sie fühlten, daß er den Menschen notwendig verhäßlicht; und sie hatten vollkommen recht. Wir suchen die Lage eines Volkes zu bessern, indem wir für gute Luft, freies Sonnenlicht, gesundes Wasser sorgen und häßliche, kahle Baracken bauen für die Wohlfahrt der unteren Stände. Aber diese Dinge machen nur gesund, sie machen nicht schön. Hierzu ist die Kunst nötig, und die wahren Schüler des großen Künstlers sind nicht seine Atelier-Nachahmer, sondern diejenigen, die wirklich werden wie seine Kunstwerke, mögen sie der Plastik angehören, wie in den Tagen der Griechen, oder, wie in unserer Zeit, der Malerei. Kurz: das Leben ist der Kunst bester, der Kunst einziger Schüler.

      So wie mit den bildenden Künsten, steht es auch mit dem Schrifttum. Das schlagendste und zugleich gröbste Beispiel gibt das Benehmen jener dummen Jungen, die die Abenteuer des Jack Sheppard und Dick Turpin lesen, um hinterher die Buden unglückseliger Obstfrauen zu plündern, des Nachts in Konfekt-Läden einzubrechen und alte Herren, die aus der Stadt heimkehren, auf Vorstadt-Straßen mit schwarzen Masken und blinden Revolverschüssen zu überfallen. Diese interessante Erscheinung, die jedesmal auftritt, wenn eines jener beiden Bücher neu aufgelegt ist, wird gewöhnlich dem Einflusse der Literatur auf die Phantasie zugeschrieben. Das ist aber verkehrt. Die Phantasie ist wesentlich schöpferisch und sucht immer nach neuen Ausdrucksmitteln. Jene Bubenstreiche entspringen einfach dem nachahmenden Triebe des Lebens. Sie sind Äusserungen des Lebens, das bemüht ist, der Dichtung Gestalt zu geben, und was uns in ihnen entgegentritt, wiederholt sich nur in umfassender Weise während unseres ganzen Lebens. Schopenhauer hat den Pessimismus analysiert, der die moderne Denkweise beherrscht, aber Hamlet erfand ihn. Der Typus des Nihilisten, jenes wunderlichen Märtyrers ohne Glauben, der an den Pfahl geht ohne Inbrunst und für etwas stirbt, woran er nicht glaubt, ist lediglich ein Produkt des Schrifttums. Er wurde von Turgenjeff erfunden und von Dostojewski vollendet. Die Dichtung greift dem Leben immer vor. Sie gibt uns kein Abbild desselben, sondern gestaltet nach eigenem Ermessen. Das neunzehnte Jahrhundert, so wie wir es kennen, ist zum großen Teil eine Erfindung Balzacs. Unsere Luciens de Rubempré, unsere Rastignacs und de Marsays erschienen zuerst auf der Bühne der Comédie Humaine. Wir füllen nur mit Randbemerkungen und unnötiger Zutat die Laune oder Phantasie oder schöpferische Vision eines großen Romanschreibers aus. Ich fragte einst eine intime Freundin Thackerays, ob dieser die Becky Sharp nach irgendeinem Modell gezeichnet habe. Sie sagte mir, daß Becky eine Erfindung sei, daß ihm aber die Idee des Charakters eine Gouvernante eingegeben habe, die in der Nähe von Kensington Square wohnte und bei einer sehr egoistischen und reichen alten Dame Gesellschafterin war. Ich erkundigte mich nach dem Schicksal der Gouvernante, worauf sie mir sagte, sie wäre merkwürdigerweise einige Jahre nach dem Erscheinen von »Vanity Fair« mit dem Neffen der Dame, bei der sie wohnte, davongelaufen und habe kurze Zeit in der Gesellschaft großes Aufsehen erregt, ganz im Stile der Mrs. Rawdon Crawley und mit allen ihren Eigenarten. Schließlich litt sie Schiffbruch, verschwand nach dem Kontinent und verkehrte in Monte Carlo und anderen Spielhöllen. Jener edle Mann, nach dem derselbe große empfindsame Autor seinen Oberst Newcome zeichnete, starb wenige Monate, nachdem die »Newcomes« die vierte Auflage erreicht hatten, und sein letztes Wort war ›Adsum‹.

      Bald nachdem Mr. Stevenson seine merkwürdige psychologische Verwandlungsgeschichte veröffentlicht hatte, war ein Freund von mir, Mr. Hyde, im Norden Londons, und da er schnell auf einen Bahnhof wollte, schlug er einen vermeintlich abkürzenden Weg ein, verlor die Richtung und sah sich bald in einem Netzwerk gemeiner, übelaussehender Straßen. Da er ziemlich nervös wurde, begann er sehr schnell zu gehen, als ihm plötzlich aus einem Torweg ein Kind zwischen die Beine lief. Es fiel aufs Pflaster, er wollte drüber wegsteigen und trat darauf. Da es natürlich sehr erschreckt und ein wenig verletzt war, begann es zu schreien, und nach wenigen Sekunden stand die ganze Straße voll groben Volks, das wie Ameisen aus den Häusern strömte. Man umringte ihn und verlangte seinen Namen. Er wollte ihn gerade nennen, als ihm plötzlich die Eröffnungsszene in Mr. Stevensons Buch einfiel. Ihn packte solches Grauen, weil er in eigener Person jene furchtbare und gutgeschriebene Szene zur Wirklichkeit gemacht und, was der Mr. Hyde der Dichtung mit überlegter Absicht tat, zwar nur zufällig, aber doch getan hatte – daß er so scharf wie möglich davonlief. Er wurde jedoch eng verfolgt, und schließlich flüchtete er sich in ein Laboratorium, dessen Tür gerade offen war. Dort erklärte er einem anwesenden Gehilfen, was geschehen war. Der humanitäre Pöbel ließ sich bewegen, abzuziehen, als er ihnen eine kleine Summe Geldes gab, und sobald die Küste klar war, ging er weiter. Beim Austritt fiel ihm der Name auf dem Messingschild auf. Er lautete »Jekyll«. Wenigstens hätte er so lauten müssen.

      Hier war die ganze Nachahmung natürlich Zufall. Im folgenden Fall war sie bewußt.

      Im Jahre 1879 – ich hatte gerade die Oxforder Universität verlassen – lernte ich in dem Hause eines auswärtigen Ministers eine Frau von ganz seltener exotischer Schönheit kennen. Wir wurden Freunde und verkehrten beständig. Und doch war es nicht ihre Schönheit, die mich am meisten fesselte, sondern ihr Charakter, das gänzlich Unfaßbare ihres Charakters. Sie schien gar keine Persönlichkeit zu sein, sondern nur das Talent zu besitzen, sich viele Charaktertypen anzueignen. Zuweilen widmete sie sich ganz der Kunst, verwandelte ihr Wohnzimmer in ein Atelier und brachte wöchentlich zwei bis drei Tage in Bildergalerien oder Museen zu. Dann plötzlich besuchte sie Pferderennen, zog sich so sportsmäßig an wie nur möglich und sprach über nichts, als über die Kunst des Wettens. Sie gab die Religion auf zugunsten des Mesmerismus, den Mesmerismus zugunsten der Politik, die Politik zugunsten der melodramatischen Freuden der Menschenliebe. Kurz, sie war eine Proteusnatur und in allen ihren Verwandlungen nicht minder fehlerhaft, als jener wunderliche Meergott, den Odysseus überraschte. Eines Tages erschien in einer französischen Zeitschrift eine Erzählung in Fortsetzungen. Damals pflegte ich derartige Erzählungen zu lesen, und ich erinnere mich deutlich, wie verblüfft ich war, als ich an die Beschreibung der Heldin gelangte. Diese glich meiner Freundin so sehr, daß ich ihr die Zeitschrift brachte. Sofort erkannte sie sich selbst und schien durch die Ähnlichkeit gefesselt. Ich muß dir übrigens sagen, daß die Erzählung aus irgendeinem verstorbenen russischen Autoren übersetzt war, so daß der Verfasser nicht nach meiner Freundin gezeichnet haben konnte. Um mich nun kurz zu fassen, war ich einige Monate darauf in Venedig und fand die Zeitschrift im Lesezimmer des Hôtels. Es war eine herzzerreißende Geschichte, denn das Mädchen war schließlich mit einem Manne davongelaufen, der nicht bloß in sozialer Hinsicht viel tiefer stand als sie, sondern auch geistig und moralisch. An jenem Abend schrieb ich meiner Freundin meine Ansichten über G. Bellini, über das köstliche Eis im Café Florio und über den künstlerischen Wert der Gondeln, fügte aber die Bemerkung hinzu, daß ihr Ebenbild in der Erzählung sehr töricht gehandelt habe. Ich erinnere nicht mehr, weshalb ich die Bemerkung machte, aber ich weiß noch, wie mich ein Grauen faßte, sie möchte das Gleiche tun. Noch ehe mein Brief sie erreichte, war sie mit einem Manne davongelaufen, der sie schon nach sechs Monaten im Stich ließ. Ich sah sie dann im Jahre 1884 in Paris, wo sie mit ihrer Mutter lebte, und fragte sie, ob vielleicht jene Erzählung an ihrem Handeln Schuld gewesen sei. Sie sagte mir, sie habe einen unwiderstehlichen Drang gefühlt, der Heldin auf ihrem seltsamen und verhängnisvollen Wege Schritt für Schritt zu folgen, und die Aussicht auf die letzten Kapitel habe sie mit geradezu fieberhafter Angst erfüllt. Als sie erschienen, war es ihr, als müsse sie sie verwirklichen, und sie tat es auch. Es war dies ein höchst einleuchtendes Beispiel jenes rein nachahmenden Instinktes, von dem ich vorhin sprach: freilich auch ein außerordentlich tragisches. Indes, ich will nicht länger bei einzelnen Fällen verweilen.


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