Germinal. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
und in den Voreuxschacht getreten. Die Männer, an die er sich mit der Frage wandte, ob es keine Arbeit gebe, schüttelten den Kopf und sagten ihm alle, er solle den Oberaufseher abwarten. Man ließ ihm freie Bewegung inmitten der schlecht beleuchteten Gebäude, die voll finsterer Löcher waren und beängstigend wirkten mit ihrem Wirrsal von Sälen und Stockwerken. Nachdem er eine dunkle, halb zerstörte Treppe emporgestiegen, befand er sich auf einem schwankenden Brückensteg; dann durchschritt er den Schuppen des Sichtungswerkes, der in so tiefer Finsternis lag, daß er mit den Händen vorausgreifen mußte, um nicht anzustoßen. Plötzlich sah er vor sich zwei riesige, gelbe Augen die Nacht durchbrechen. Er befand sich unter dem Glockenstuhl im Aufnahmesaale an der Mündung des Schachtes.
Ein Aufseher, der Vater Richomme, ein Dicker mit dem Gesichte eines gutmütigen Gendarmen, das ein grauer Schnurrbart zierte, begab sich eben ins Büro des Aufnahmebeamten.
»Braucht man hier nicht einen Arbeiter für irgendeine Beschäftigung?« fragte Etienne abermals.
Richomme wollte nein sagen; doch er ward anderen Sinnes und sagte wie die übrigen, während er sich entfernte:
»Erwarten Sie Herrn Dansaert, den Oberaufseher.«
Vier Laternen waren hier angebracht und die Reflektoren, die das ganze Licht auf den Schacht warfen, beleuchteten hell die eisernen Geländer, die Hebel der Signale und Verschlüsse, die Pfosten der Seile, an denen die beiden Aufstiegkästen hinabglitten. Der Rest, der einem Kirchenschiffe gleichende geräumige Saal, lag im Dunkel und war mit großen, schwebenden Schatten bevölkert. Bloß die Laternenkammer flammte im Hintergrunde, während das Lämpchen im Büro des Aufnahmebeamten einem erlöschenden Stern glich. Die Kohlenförderung war wiederaufgenommen worden. Es ertönte ein unaufhörliches Dröhnen auf den gußeisernen Platten, die Kohlenhunde rollten unablässig, und man sah die gebeugten Gestalten der an der Winde beschäftigten Männer inmitten des Getümmels all dieser in Bewegung befindlichen dunklen und geräuschvollen Gegenstände.
Einen Augenblick stand Etienne unbeweglich da, betäubt und geblendet. Er fror, denn es zog von allen Seiten. Dann trat er einige Schritte vorwärts, angezogen durch die Maschine, deren stählerne und kupferne Bestandteile er glänzen sah. Sie stand etwa fünfundzwanzig Meter hinter der Schachtmündung in einem höher gelegenen Saale, so fest auf ihrem Unterbau gelagert, daß sie mit ganzem Dampfe arbeitete, mit ihren vollen vierhundert Pferdekräften, ohne daß die Bewegung ihrer riesigen Treibstange, die, weil gut geölt, leicht und glatt auf und ab stieg, die Mauern im geringsten erschüttert hätte. Der Maschinist, der am Verschlußkolben stand, lauschte dem Geklingel der Signale und wandte kein Auge von der Nachweistafel, auf welcher der Schacht mit seinen verschiedenen Stockwerken durch eine senkrechte Fuge dargestellt war, in der an Schnüren befestigte Bleistücke, die Aufzugskästen darstellend, auf und nieder liefen. Wenn bei jedem Abstieg die Maschine sich in Bewegung setzte, drehten sich die Wellen, die beiden Riesenräder von fünf Meter Durchmesser, auf deren Nahen die Stahlseile sich in entgegengesetzter Richtung auf und ab rollten, mit solcher Schnelligkeit, daß sie einem grauem Staube glichen.
»Aufgepaßt!« riefen drei Arbeiter, die eine Riesenleiter schleppten.
Er fehlte nicht viel, und Etienne wäre von der Leiter erschlagen worden. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit; er sah das Getriebe der Seile in der Luft, mehr als dreißig Meter stählerner Bänder, die in einem Schwung im Glockenstuhle emporstiegen, wo sie über Räder gelegt waren, um senkrecht in den Schacht abzufallen, wo sie an den Aufzugskästen befestigt waren. Ein eisernes Gerüst, dem Gebälk eines Glockenturmes gleichend, trug die Räder. Es war wie der Flug eines Vogels ohne Geräusch, ohne Anstoß; der reißend schnelle Lauf, das unaufhörliche Auf und Nieder eines Fadens von ungeheurem Gewichte, der zwölftausend Kilogramm mit einer Geschwindigkeit von zehn Metern in der Sekunde zu heben vermochte.
»Aufgepaßt!« riefen noch einmal die Arbeiter, welche die Leiter nach der anderen Seite schafften, um das linksseitige Rad zu untersuchen.
Etienne kehrte langsam in den Aufnahmesaal zurück. Dieser Riesenflug über seinem Haupte verblüffte ihn völlig. In dem von allen Seiten auf ihn eindringenden Luftzug fröstelnd, betrachtete er die Handhabung der Schalen, fast betäubt durch das Rollen der Hunde. Neben dem Schachte arbeitete das Signal, ein Hebelhammer, den eine in der Tiefe angezogene Schnur auf einen Block niederfallen ließ. Ein Schlag für das Anhalten, zwei Schläge für den Abstieg, drei Schläge für den Aufstieg; es war eine unaufhörliche Folge von Keulenschlägen, die den Tumult beherrschten, begleitet von einem hellen Geklingel, während der Arbeiter, der die Vorrichtung leitete, das Getöse noch vergrößerte, indem er dem Maschinisten durch ein Sprachrohr Weisungen zurief. Inmitten all dieses Getümmels tauchten die Schalen auf und versanken wieder, leerten sich und füllten sich, ohne daß Etienne etwas von dieser komplizierten Arbeit begriff.
Er begriff nur eins: der Schacht verschlang Menschen in Bissen zu zwanzig und dreißig und mit einem so leichten Schlucken, als fühle er gar nicht ihren Durchgang. Um vier Uhr begann der Abstieg der Arbeiter. Sie kamen aus der Baracke, barfüßig, mit der Laterne in der Hand, in kleinen Gruppen wartend, bis sie in genügender Anzahl waren. Geräuschlos, gleich dem stillen Auftauchen eines Nachttieres erschien der Eisenkäfig aus der finsteren Tiefe und setzte sich auf die Riegel mit seinen vier Stockwerken, deren jedes zwei mit Kohlen gefüllte Hunde enthielt. Auf den verschiedenen Absätzen holten Arbeiter die Hunde heraus und ersetzten sie durch andere, entweder leere oder mit Grubenholz beladene. In den leeren Hunden nahmen die Arbeiter Platz zu fünf und fünf bis zu vierzig auf einmal, wenn sie alle Abteilungen einnahmen. Eine Weisung erging durch das Sprachrohr, darauf folgte ein dumpfes, undeutliches Brüllen, während man viermal an dem Seil des unteren Signals zog, um die Ankunft dieser Ladung von menschlichem Fleisch anzukündigen. Nach einem leichten Emporschnellen sank die Schale geräuschlos hinab, fiel wie ein Stein und ließ nichts hinter sich zurück als den zitternden Lauf des Seiles.
»Ist es tief?« fragte Etienne einen Grubenarbeiter, der neben ihm stand und mit schläfriger Miene wartete, bis die Reihe an ihn kam.
»Fünfhundertvierundfünfzig Meter«, sagte der Mann. »Aber es sind vier Absätze, den ersten in einer Tiefe von dreihundertundzwanzig Meter.«
Beide schwiegen und richteten die Augen auf das Seil, das jetzt emporstieg. Etienne fragte wieder:
»Und wenn es reißt?«
»Wenn es reißt...«
Der Grubenarbeiter beendete den Satz mit einer Gebärde. Er war an der Reihe, die Schale war mit ihrer leichten, mühelosen Bewegung wieder erschienen. Er hockte darin nieder in Gesellschaft von Kameraden, und die Schale versank; nach kaum vier Minuten tauchte sie wieder auf, um eine neue Ladung von Männern zu verschlingen. Eine halbe Stunde lang fraß der Schacht in dieser Weise Menschen mit einem mehr oder minder gierigen Schlund, je nach der Tiefe des Absatzes, wohin sie abstiegen, aber unaufhörlich, immer hungrig, ein Riesendarm, der ein Volk zu verdauen vermochte. Es füllte sich wieder und immer wieder, und die finstere Tiefe blieb stumm, die Schale stieg mit der nämlichen gefräßigen Stille aus der Leere auf.
Etienne wurde schließlich von demselben Unbehagen ergriffen, das er schon auf dem Hügel gefühlt hatte. Was nützte seine Hartnäckigkeit? Der Oberaufseher verabschiedete ihn ebenso wie die anderen. Eine unbestimmte Angst brachte ihn plötzlich zu einem Entschlusse: er ging fort und machte draußen erst vor dem Gebäude der Dampferzeuger halt. Das weit offene Tor ließ sieben Kessel mit je zwei Herden sehen. Inmitten des weißen Dunstes und des unter lautem Pfeifen entweichenden Dampfes war ein Heizer damit beschäftigt, einen der Feuerherde frisch zu füllen, dessen sengende Glut man bis zur Schwelle fühlte. Dieser Wärme sich freuend, trat der junge Mann näher, als er einem neuen Trupp von Kohlenarbeitern begegnete, die eben bei der Grube eintrafen. Es waren die Maheu und die Levaque. Als er an der Spitze des Trupps Katharina mit ihrem gutmütigen Knabenantlitz erblickte, kam ihm der abergläubische Gedanke, noch eine letzte Frage zu wagen.
»Sagen Sie, Kamerad, braucht man hier nicht einen Arbeiter für irgendwelche Arbeit?«
Sie sah ihn überrascht an, ein wenig erschreckt über diese plötzlich aus dem Dunkel auftauchende Stimme. Doch Maheu, der hinter ihr kam, hatte die Frage gehört und beantwortete sie, indem er sich einen Augenblick zum