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Krakatit. Karel ČapekЧитать онлайн книгу.

Krakatit - Karel Čapek


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ertönte aus dem Ordinationszimmer ein durchdringender Schrei, wenn der Doktor einem Jungen einen Zahn zog. Dann flüchtete Anni in panischer Angst zu Prokop, zuckte aufgeregt mit den langen Wimpern und wartete so das Ende der gräßlichen Operation ab.

      Anders war es, wenn vor dem Doktorhaus ein mit Stroh ausgepolsterter Wagen hielt und zwei Männer einen Schwerverletzten behutsam die Treppe hinauftrugen. Er hat eine zerquetschte Hand, ein gebrochenes Bein oder eine Schädelwunde von einem Hufschlag. Kalter Schweiß läuft dem Verwundeten über die bleiche Stirn herab, und er stöhnt in heldenhafter Selbstüberwindung. Tragische Stille lastete dann über dem ganzen Hause. Die dicke, fröhliche Magd ging auf den Zehenspitzen umher, Anni hatte verweinte Augen, und ihre Finger zitterten. Der Doktor kam in die Küche gestürzt, verlangte barschen Tones Rum, Wein oder Wasser und verbarg so das quälende Mitleid unter betonter Grobheit. Noch den ganzen nächsten Tag über war er schweigsam, ging mürrisch umher und knallte die Türen zu.

      Aber es gab auch große Festtage, zum Beispiel die berühmte Kirmes jedes Landarztes: das Kinderimpfen. Hunderte von Müttern wiegten ihre plärrenden, quäkenden, schlafenden Bündel und belegten Wartezimmer, Flur, Küche und Garten. Anni war außer sich; sie hätte am liebsten alle die zahnlosen, vom vielen Schreien erschöpften, flaumhaarigen Säuglinge in einem Anfall begeisterter Mütterlichkeit in die Arme genommen, gewiegt und gewickelt. Auch die Glatze des alten Doktors strahlte festlicher denn je. Seit dem frühen Morgen ging er ohne Brille umher, um die Kleinen nicht zu erschrecken, und seine Augen verschwammen vor Müdigkeit und Freude.

      Ein andermal wieder schrillte mitten in der Nacht die Glocke. Dann hörte man brummende Stimmen in der Tür, der Doktor schimpfte, der Kutscher Josef mußte einspannen. Irgendwo hinter einem erleuchteten Fenster des Dorfes kam dann ein neuer Mensch zur Welt. Erst gegen Morgen kehrte der Doktor todmüde, aber zufrieden heim, zehn Schritte weit nach Karbol riechend. So hatte ihn Anni am liebsten.

      Es gab auch noch andere Geschöpfe im Haus. Da war die dicke, lachlustige Nanni in der Küche, die den ganzen Tag sang und lärmte oder sich vor Lachen bog. Der Kutscher Josef dagegen, der einen Hängeschnauzbart trug, galt als sehr ernsthaft. Man nannte ihn den Historiker, weil er gern Geschichtsbücher las und von allerlei historischen Geheimnissen der Gegend zu erzählen wußte. Ferner war da der Herrschaftsgärtner, ein großer Schürzenjäger, der täglich in den Garten des Doktors kam, um die Rosen zu okulieren, die Sträucher zu stutzen und die Köchin zu gefährlichen Lachkrämpfen zu verleiten. Nicht zu vergessen der schon erwähnte stichelhaarige, quietschlebendige Hansi, der nicht von Prokops Seite wich, Flöhe und Hühner jagte und besonders gern auf dem Bock des Wagens mitfuhr. Fritz, der alte, schon etwas ergraute Rappe, Freund der Kaninchen, ein rechtschaffenes, gutmütiges Pferd; seine warmen, empfindlichen Nüstern zu streicheln, war der Gipfel des Angenehmen. Der brünette Wirtschaftsadjunkt, über beide Ohren in Anni verliebt, die ihn, gemeinsam mit der Köchin, herzlos zum Narren hielt. Der Gutsdirektor, ein verschlagener Fuchs und alter Dieb, der gern mit dem Doktor eine Partie Schach spielte, wobei sich der Doktor ständig aufregte und immer verlor.

      Prokop las viel oder tat, als wolle er lesen. Sein narbiges, schweres Gesicht drückte nur wenig aus, schon gar nichts über den verzweifelten und heimlichen Kampf mit dem gestörten Gedächtnis. Die Erinnerung an die letzten Arbeitsjahre hatte besonders arg gelitten, die einfachsten Formeln und Prozesse waren vergessen. Prokop notierte dann und wann an den Rand des Buches eine knappe Formel, die ihm gerade einfiel, wenn er am wenigsten daran dachte. Manchmal spielte er mit Anni Billard; das war ein Spiel, bei dem nicht viel gesprochen wurde. Auch Anni nahm etwas von seinem ledernen, undurchdringlichen Ernst an. Sie spielte konzentriert, die Brauen streng gefaltet, zog und traf die Kugel; aber wenn diese wider Erwarten anderswohin rollte, öffnete sie erstaunt den Mund und wies ihr mit der feuchten Zunge den rechten Weg.

      Dann gab es die Abende bei Lampenschein. Wie immer redete der Doktor am meisten. Er war Naturwissenschaftler ohne jede Kenntnisse. Besonders die Welträtsel hatten es ihm angetan: Radioaktivität, Unendlichkeit des Raumes, Elektrizität, Relativität, Ursprung der Materie und das Alter der Menschheit. Er war ein geschworener Materialist und empfand ebendarum ein geheimnisvolles, süßes Gruseln vor den unlösbaren Welträtseln. Manchmal konnte Prokop nicht an sich halten und korrigierte die naiven Ansichten. Dann lauschte der alte Herr geradezu andächtig und begann Hochachtung für Prokop zu empfinden, besonders, wenn es für ihn unverständlich wurde, also etwa beim Resonanzpotential oder der Quantentheorie. Anni saß dabei, das Kinn auf die Tischplatte gestützt; sie war zwar schon ein wenig zu erwachsen dafür, aber offenbar hatte sie seit Mutters Tod zu reifen vergessen. Sie hielt ganz still und blickte nur mit großen Augen bald auf den Vater, bald auf Prokop.

      Die Nächte waren still und weit wie überall auf dem Lande. Hin und wieder klirrten die Ketten im Kuhstall, schlugen nah oder fern die Hunde an; ein fallender Stern glitt über den Himmel, der Frühlingsregen rauschte im Garten, und der einsame Brunnen ließ silbrig klingende Tropfen fallen. Aus den Tiefen der Nacht wehte die reine Kühle durch das offene Fenster, und der Mensch versank in gesegneten, traumlosen Schlaf.

      9

      Es ging besser. Tag um Tag kehrte das Leben mit winzigen Schritten wieder. Noch spürte Prokop eine Mattigkeit im Kopf, fühlte sich wie in einer unwirklichen Welt. Jetzt bliebe nur noch, dem Doktor zu danken und dann seiner Wege zu gehen. Er wollte es einmal nach dem Abendessen ankündigen, aber da schwiegen gerade alle, als hätte es ihnen die Rede verschlagen. Nachher faßte der Doktor Prokop unter und ging mit ihm ins Ordinationszimmer hinüber. Nach einigem Hin und Her platzte er in seiner verlegenen Grobheit heraus: Prokop brauche vorläufig nicht abzureisen, er solle lieber noch etwas ausruhen, das Spiel sei noch nicht gewonnen, und überhaupt – er könne ruhig hierbleiben. Prokop wehrte sich nur schwach. Er fühlte sich wirklich noch nicht völlig wiederhergestellt und war auch etwas verweichlicht. Kurz, von einer Abreise war vorderhand keine Rede mehr.

      Nachmittags schloß sich der Doktor immer im Ordinationszimmer ein. »Setzen Sie sich doch einmal zu mir herein«, sagte er so beiläufig zu Prokop. Prokop fand ihn mit Fläschchen, Tiegeln und Pülverchen hantierend. »Hier im Ort gibt es nämlich keine Apotheke«, erklärte der Doktor, »ich muß mir also die Arzneien selber zusammenbrauen.« Mit kurzen, zittrigen Fingern dosierte er ein Pulver auf der Handwaage. Er hatte eine unsichere Hand, und die Waage schwankte und drehte sich. Der alte Herr ärgerte sich, schnaubte und schwitzte an der Nase winzige Tröpfchen aus. »Ich seh's nicht genau«, versuchte der Alte die Ungeschicklichkeit seiner Finger zu entschuldigen. Prokop sah eine Weile zu, nahm ihm dann die Waage wortlos aus der Hand und wog das Pülverchen, ein zweites, ein drittes auf ein Milligramm genau ab. Die empfindliche Waage tanzte nur so zwischen seinen Fingern. »Sieh mal, sieh mal an«, staunte der Doktor und verfolgte verblüfft Prokops Hände mit ihren verunstalteten, knotigen und unförmigen Gelenken, den abgebrochenen Nägeln und kurzen Stümpfen anstelle einiger Finger. »Haben Sie aber eine Geschicklichkeit in den Händen!« Bald rührte Prokop bereits Salben an, maß Tropfen ab und erwärmte die Reagenzgläser. Der Doktor strahlte und klebte Zettel auf. In einer halben Stunde war er mit der ganzen Apothekerarbeit fertig, und dabei gab es noch eine Menge Pulver auf Vorrat. In wenigen Tagen las Prokop bereits geläufig alle Rezepte des Doktors und arbeitete als sein Assistent. Einmal gegen Abend stocherte der Doktor in der lockeren Erde eines Beetes herum. Plötzlich ertönte ein furchtbarer Knall im Hause, und gleichzeitig klirrte splitterndes Glas. Der Doktor stürzte ins Haus und stieß im Flur mit der entsetzten Anni zusammen. »Was ist geschehen?« schrie er.

      »Ich weiß nicht«, stammelte das Mädchen. »Im Sprechzimmer . . .« Der Doktor lief ins Ordinationszimmer und fand Prokop, wie er auf allen vieren auf dem Fußboden umherkroch und Scherben und Papiere auflas.

      »Was haben Sie da angestellt?« fuhr ihn der Doktor an.

      »Nichts«, antwortete Prokop und erhob sich schuldbewußt. »Ein Probierglas ist mir explodiert.«

      »Aber was, zum Donnerwetter . . «, wollte der Doktor lostoben, stockte aber bestürzt: Aus Prokops linker Hand sickerte Blut. »Hat es Ihnen den Finger weggerissen?«

      »Nur ein Kratzer«, widersprach Prokop und verbarg die Linke hinterm Rücken.

      »Zeigen Sie her!« schrie der


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