Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack LondonЧитать онлайн книгу.
er dem weinenden Kinde zu und griff gleichzeitig in die Hosentasche, wo er sein Geld lose mit sich trug, großzügig und sorglos, wie er immer und überall im Leben war. Er drückte dem kleinen Burschen ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück in die Hand und hielt ihn einen Augenblick in seinen Armen, bis er aufhörte zu schluchzen. »So, jetzt läufst du hin und kaufst dir Malzbonbons, und gib deinen Geschwistern auch etwas ab. Aber paß auf, daß du die kriegst, von denen man am längsten etwas hat.«
Seine Schwester hob das gerötete Gesicht vom Waschzuber und sah ihn an.
»Zehn Cent wären auch genug gewesen«, sagte sie. »Aber das sieht dir ähnlich, keine Ahnung vom Wert des Geldes. Das Kind überfrißt sich ja nur.«
»Laß nur, Trudel!« sagte er gutmütig, »um mein Geld kümmere ich mich schon selbst. Wenn du nicht so viel zu tun hättest, würde ich dir einen Gutenmorgenkuß geben.«
Er wäre gern liebevoll zu seiner Schwester gewesen, die gut war und ihn, wie er wußte, auf ihre Art liebte. Aber sie wurde gleichsam mit den Jahren immer weniger sie selbst und immer schwerer zu verstehen. Die harte Arbeit, die vielen Kinder und das ewige Genörgel des Mannes hatten sie verändert, dachte er. Ihm schien plötzlich, als werde ihr ganzes Wesen von welkem Gemüse, dampfender Seifenlauge und dem schmutzigen Kleingeld geprägt, das sie am Ladentisch kassierte.
»Pack dich und iß dein Frühstück«, sagte sie barsch, obwohl sie sich innerlich über seine Bemerkung freute, denn von dem ganzen Nomadenstamm der Brüder war er immer ihr Liebling gewesen.
»Ich möchte wirklich einen Kuß von dir«, sagte sie in einer plötzlichen Herzensregung.
Mit Daumen und Zeigefinger strich sie sich den tropfenden Seifenschaum zuerst vom einen Arm und dann vom andern. Er legte die Arme um ihren plumpen Leib und küßte ihre naßkalten Lippen. Sie bekam Tränen in die Augen, nicht weil sie soviel dabei fühlte, sondern weil sie von der ewigen Überanstrengung geschwächt war. Sie schob ihn von sich, aber er hatte ihre tränenfeuchten Augen noch gesehen.
»Nimm dir selbst das Essen aus den Ofen«, sagte sie hastig. »Jim wird jetzt auch aufgestanden sein. Ich mußte wegen der Wäsche so früh heraus. Aber mach, daß du so bald wie möglich aus dem Hause kommst. Tom ist gegangen, und kein anderer kann den Wagen fahren als Bernard. Das wird kein guter Tag heute.«
Martin ging schweren Herzens in die Küche, während das Bild ihres roten Gesichtes und ihrer vernachlässigten Gestalt sich wie ätzende Säure in sein Hirn fraß. Sie könnte ihn vielleicht lieben, wenn sie nur Zeit dazu hätte, sagte er sich. Aber sie arbeitete sich tot. Bernard Higginbotham war ein Schuft, daß er seine Frau sich so abrackern ließ. Andererseits jedoch fühlte er, daß nichts Schönes in dem Kuß gewesen war. Es war richtig, es war an sich etwas Ungewöhnliches. Seit vielen Jahren hatten sie sich nur geküßt, wenn er von einer Fahrt kam oder auf Fahrt ging. Aber der Kuß hatte nach Seifenschaum geschmeckt, und er hatte bemerkt, daß ihre Lippen seltsam schlaff waren. Es war kein frischer, kräftiger Druck von Lippe zu Lippe gewesen, wie ein Kuß sein sollte, es war der Kuß einer müden Frau, die so lange müde gewesen ist, daß sie vergessen hat, wie man küßt. Er dachte daran, wie sie als junges Mädchen gewesen war, als sie nach hartem Tagewerk in der Wäscherei ganze Nächte hindurch tanzen konnte und sich nicht im geringsten fürchtete, direkt vom Ball an die Plackerei des neuen Tages zu gehen. Und dann dachte er an Ruth und an die kühle Süße, die auf ihren Lippen sein mußte, so wie sie in ihrem ganzen Wesen war. Ihr Kuß mußte wie ihr Händedruck oder wie ihr Blick sein, fest und freimütig. In Gedanken wagte er es, sich ihre Lippen auf den seinen vorzustellen, und so lebhaft war seine Einbildungskraft, daß ihm in Gedanken schwindelte und er ein Gefühl hatte, als triebe er dahin durch Wolken von Rosenblättern, die sein Hirn mit ihrem Duft füllten.
In der Küche fand er Jim, den andern Pensionär, der sehr langsam und widerstrebend, mit einem matten, abwesenden Ausdruck in den Augen, Grütze aß. Jim war ein Klempnerlehrling, dessen schwaches Kinn und zu Ausschweifungen neigendes Temperament nebst einem gewissen nervösen Stumpfsinn seine Aussichten im Kampf um das tägliche Brot nicht sehr rosig erscheinen ließen.
»Warum ißt du nicht?« fragte er, als Martin melancholisch in der kalten, halbgaren Hafergrütze zu rühren begann. »Warst du gestern abend wieder besoffen?«
Martin schüttelte den Kopf. Er war niedergeschlagen durch diese ganze unsagbar schmutzige Umgebung. Ruth Morse schien ihm weiter entfernt denn je.
»Aber ich«, fuhr Jim mit einem prahlerischen, nervösen Kichern fort. »Ich war voll bis oben hin. Oh, ich hatte mächtig einen sitzen! Billy brachte mich nach Hause.«
Martin nickte, zum Zeichen, daß er gehört hatte – er besaß die angeborene Gewohnheit, alles zu hören, was man ihm erzählte –, und goß sich eine Tasse lauwarmen Kaffee ein.
»Gehst du heute abend in den Lotus-Klub tanzen?« fragte Jim. »Es wird frisch angestochen, und wenn die ganze Bande aus Temescal kommt, setzt es sicher was. Mir ist es egal. Ich gehe trotzdem mit meiner Kleinen hin. Pfui Teufel, was für einen Geschmack ich im Mund habe!«
Er schnitt ein Gesicht und versuchte den schlechten Geschmack mit Kaffee hinunterzuspülen.
»Kennst du Julia?«
Martin schüttelte den Kopf.
»Das ist meine Kleine«, erklärte Jim, »und sie ist großartig. Ich würde dich ihr vorstellen, aber du würdest sie mir bloß ausspannen. Ich verstehe nicht, was die Weiber an dir finden, wahrhaftig, aber es ist geradezu ekelhaft, wie du sie den andern wegschnappst.«
»Ich hab dir nie eine weggeschnappt«, antwortete Martin gleichgültig. Das Frühstück mußte irgendwie überstanden werden.
»Das hast du doch«, ereiferte sich der andere. »Denkst du nicht mehr an Maggie?«
»Hab nie mit ihr zu tun gehabt, nie mit ihr getanzt, außer an dem einen Abend.«
»Ja, eben!« rief Jim. »Du hast nur mit ihr getanzt und sie angeguckt, und alles war aus. Natürlich hast du dir nichts dabei gedacht, aber ich war abgehängt. Sie wollte mich nicht mehr ansehen, fragte nur nach dir. Sie war ganz toll darauf, dich wiederzutreffen, wenn du nur gewollt hättest.«
»Aber ich wollte nicht.«
»War gar nicht nötig. Ich bekam jedenfalls den Laufpaß.« Jim blickte ihn bewundernd an. »Wie stellst du das bloß an, Mart?«
»Ich mache mir nichts aus ihnen«, lautete die Antwort.
»Du meinst, du tust so, als ob du dir nichts aus ihnen machst?« forschte Jim eifrig.
Martin bedachte sich einen Augenblick, dann antwortete er: »Vielleicht genügt das, aber bei mir ist es doch noch anders, glaub ich. Ich hab mir nie was aus ihnen gemacht… jedenfalls nicht viel. Wenn du so tun kannst, als ob, wird es höchstwahrscheinlich auch gehen.«
»Du hättest gestern abend in Rileys Scheune sein sollen«, sagte Jim ganz unvermittelt. »Verschiedene von den Jungens gingen in den Ring. Da war ein Prachtkerl aus West-Oakland. Sie nannten ihn ›die Ratte‹. Glatt wie ‘n Aal. War nicht zu packen. Wir wünschten alle, du wärst dagewesen. Wo warst du eigentlich?«
»In Oakland«, erwiderte Martin.
»Im Theater?«
Martin schob den Teller zurück und stand auf.
»Kommst du heute abend zum Tanzen?« rief Jim ihm nach.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete er.
Er ging die Treppe hinunter, trat auf die Straße und atmete in tiefen Zügen die frische Luft ein. In der Atmosphäre oben war er fast erstickt, und das Geschwätz des Klempnerlehrlings hatte ihn verrückt gemacht. Mehrmals war er nahe daran gewesen, Jims Gesicht in den Grützeteller zu tauchen. Je mehr der schwatzte, desto ferner schien ihm Ruth. Wie konnte er, zusammengepfercht mit solchem Vieh, ihrer je würdig werden? Er war erschrocken über das Problem, dem er gegenüberstand, und seine Zugehörigkeit zu der arbeitenden Klasse drückte ihn wie ein Alp. Alles war bestrebt, ihn untenzuhalten: seine Schwester, deren Haus und Familie, der Lehrling Jim, jeder, den er kannte, alles, was ihn mit