Die verborgenen Geheimnisse. Marc LindnerЧитать онлайн книгу.
zur Verfügung steht“, erklärte Ismar stolz und wühlte in Wigandus' Tasche.
„Caspar hat mir alles zusammen gepackt, was wir bräuchten“, meinte Wigandus und klang leicht verloren.
„Haben sie nie Feuer gemacht?“ Ismar war verwundert, aber voller Begeisterung seinem Lehrer etwas zeigen zu können.
„Nein, wenn immer ich es gebraucht hätte, war ein anderer dabei, der es tat.“
„Und als sie mit Elisabeth die Stadt verlassen haben?“ Er musste eben an seine Schwester denken und dass auch sie so gereist sein musste, wie er eben.
„Wir waren zu viel mehr. Allein hätte ich auch nicht mit deiner Schwester unterwegs sein wollen. Cunlin, Jorge, Gilig, Ott und Ewalt waren mit dabei.“ Das waren der Schatzmeister, zwei Ratgeber, der Koch und der Wachtmeister gewesen. Ihre Nachsicht für das Volk würde der neue Stadthalter zu unterbinden wissen und dem kamen sie so zuvor. Sie wollten nicht, dass an ihnen ein Exempel errichtet würde.
Wigandus sah Ismars verwundertes Gesicht.
„Sie haben die Absicht später zurückzukehren, wenn der Stadthalter erst einmal bekannt ist. Sie sind deinem Vater über den Tod hinaus loyal. Sie werden nur bleiben, wenn sie hören, dass der Stadthalter das Erbe Reinharts ehrt und in dessen Sinn weitermacht.“ Wigandus blickte in Richtung Horizont.
„Aber das glauben sie nicht?“
Wigandus verengte die Augen. Dann kehrte er mit seinem Blick und seinen Gedanken zurück.
„Nein.“ Er zeigte ein resignierendes Lächeln. „Nein, das tut keiner von uns. Aber Einige hoffen, dass es nicht zu schlimm wird.“
„Und was glauben sie?“
Wigandus suchte Ismars Blick und hielt ihn eine Weile fest. Dann wandte er sich abermals dem Horizont zu, als würde er dort etwas nahen sehen.
„Nur ein böswilliger Mensch hätte deinen Vater getötet. Er war ein gutherziger und gerechter Mann und Stadthalter. Du findest im ganzen Reich keinen, der deinem Vater ebenbürtig ist. Darauf kannst du stolz sein!“
Auch Ismar hatte seine Mühe das Feuer zu entfachen, aber er stellte sich weitaus geschickter an als Wigandus zuvor.
Als Ismar endlich saß und an seinem Essen herumknabberte, wurde er unruhiger und immer mehr Fragen formten sich in ihm zusammen.
Wigandus beantwortete alle Fragen ausgiebig und erzählte auch von sich aus Dinge, die Ismar bisher nicht wissen konnte oder sollte. Es wurde ein langer Abend.
Der Nussbaum
Im Wald vor ungewünschten Blicken geschützt, saßen Hönnlin und Clara an einem gemütlichen Lagerfeuer. In der Nacht konnte es doch noch empfindlich kalt werden, zumal wenn man, wie Clara, es nicht gewohnt war im Freien zu schlafen. Zum Glück mussten sie keinen Hunger leiden, denn die Äbtissin hatte für reichlich Proviant gesorgt. Zudem verstand sich Hönnlin darin, aus Wenig eine schmackhafte Suppe zu kochen. Durch das viele Reisen war das zu einer Gewohnheit geworden, weil nichts besser wärmte als eine warme Suppe. Clara war gegen Abend hin doch müde geworden, auch wenn sie sich wesentlich besser geschlagen hatte, als Hönnlin hätte hoffen können. Aber gleich wie erschöpft sie sein mochte, so hatte sie kein Wort der Klage von sich gegeben. Hönnlin hatte nur bemerkt, wie ihre Schritte schwerfällig wurden und so den Entschluss gefasst, ein Lager aufzuschlagen.
Hönnlin ging zu seinem Esel und brachte einen neugefüllten Sack Wallnüsse zum Vorschein. Eine nahm er heraus und pflanzte sie in der Mitte der kleinen Lichtung nicht unweit vom Feuer.
„Wieso machen sie das?“ Clara folgte Hönnlin interessiert mit ihren Blicken, war aber, nun da sie saß, zu müde um aufzustehen.
„Viele sagen es wäre an Gott, sich um alle zu sorgen. Doch das glaube ich nicht. Vielmehr denke ich, dass Gott uns die Welt zur Verfügung gestellt hat. Es ist die Natur, die dafür sorgt, dass alle satt werden, und wir mit unserer Arbeit.“
„Aber warum pflanzen sie einen Baum mitten in den Wald?“, rätselte Clara. „Hier sieht ihn doch niemand.“
„Niemand, der in den Dörfern und Städten lebt.“
„Dann helfen sie den Abtrünnigen?“, wunderte sich das Mädchen.
„Ein ziemlich böses Wort um die zu beschreiben, die du nicht kennst. Findest du nicht?“
„Aber es sind doch welche“, wagte sie es nicht nochmal, das Wort in den Mund zu nehmen. Zeitlebens hatte sie nur dieses Wort für die Menschen gehört, die so lebten.
„Aber kennst du ihre Geschichte?“
Clara wollte mit einer Antwort ansetzen, überlegte und schüttelte dann nachdenklich den Kopf.
„Nun, wie würdest du einen Familienvater nennen, dessen Frau schwer krank wird und er seine Steuerschuld nicht zahlen kann, weil er sie pflegen und sich alleine um zwei junge Kinder kümmern muss und dadurch sein Landrecht verliert und nichts mehr zum Leben hat?“
Clara zuckte mit den Schultern.
„Wie nennst du einen jungen Mann, der mit verdrehten Armen zur Welt gekommen ist, nicht arbeiten kann und von seiner Familie verstoßen worden ist?“
Abermals zuckte Clara mit den Schultern und musste kräftig schlucken.
„Wie nennst du eine Frau, die von ihrer Familie in ein Kloster gesteckt wurde, weil diese keine Verwendung für sie hat, die Frau aber aus dem Kloster flieht, weil sie nicht für dieses Leben gemacht ist?“
Clara starrte Hönnlin an. Dann blickte sie neben sich auf die Erde und schwieg. Hönnlin setzte sich neben sie ans Feuer und las in einem seiner Bücher.
„Dann sind sie nicht böse?“, fasste Clara nach einiger Zeit ihre Verwirrung zusammen.
„Sie sind nicht alle gut, und du solltest keinem vorschnell trauen. Aber viele sind zu dem geworden, zudem wir sie gemacht haben. Richte nie über einen Menschen, dessen Geschichte du nicht kennst.“
Wieder schwieg Clara und Hönnlin las weiter.
„Aber der eine Baum wird nichts ändern.“
„Nein, vielleicht nicht. Aber wenn er in den kommenden hundert Jahren nur einen vor dem Verhungern rettet, dann war er es wert.“
Clara blickte zum Esel hinüber und erinnerte sich an den gefüllten Sack.
„Aber es ist nicht der eine Baum?“
„Eine Nuss an jedem Abend an dem ich unterwegs bin.“
Clara versank in Gedanken.
„Aber es ist verboten ihnen zu helfen“, sprach Clara den Konflikt aus, der in ihr immer wieder auftauchte.
„Ja, ist es“, gestand Hönnlin offen.
„Aber warum?“
„Weil Angst eine Waffe ist.“
„Das verstehe ich nicht.“ Clara war an diesem Abend so verwirrt wie noch nie zuvor.
„Um arme Menschen unter Kontrolle zu halten, muss du eine Situation schaffen, wo sie noch weniger haben können und vor der sie Angst haben. Genau das ist die Aufgabe der Abtrünnigen. Je schlechter es diesen geht, je mehr sich die Menschen vor ihnen fürchten, umso eher sind sie bereit alles Andere zu erdulden.“
„Aber das ist ungerecht!“, protestierte Clara. „Warum tut die Kirche nichts dagegen?“
Hönnlin sah Clara innig an, antwortete aber nicht.
„Oder weiß sie es nicht?“, klammerte sie sich an die einzige Schlussfolgerung, die für sie Sinn ergab. „Sie müssen es ihr sagen.“
„Ich muss es ihr nicht sagen. Sie weiß es.“
„Aber“, setzte sie an und fand keine Worte.
Es