Lourdes. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
eine Abteilung zweiter Klasse besetzt haben.«
Dann drehte er sich herum und rief seine Leute herbei.
»Kommt her, kommt her, hier ist es! Der unglückliche Kranke befindet sich wirklich sehr schlecht.«
Frau Vigneron war klein und ihr Gesicht lang und bleich und sehr blutarm, was sich auf ihren Sohn Gustave in erschreckender Weise vererbt hatte. Dieser, ein Knabe von fünfzehn Jahren, der jedoch kaum zehn alt zu sein schien, war schief gewachsen und dürr wie ein Skelett. Das rechte Bein war infolge von Blutarmut zu einem Nichts zusammengeschrumpft, was ihn zwang, an einer Krücke zu gehen. Er hatte ein kleines, feines, etwas schiefes Gesicht, von dem man eigentlich nichts weiter als die Augen sah, aber Augen, aus denen ein klarer Verstand blitzte, die durch die Schmerzen geschärft waren und bis auf den Grund der Seele zu blicken schienen. Eine alte Dame mit gepudertem Gesicht, die die Beine mühsam nachschleppte, folgte, und Herr Vigneron, der sich daran erinnerte, daß er sie vergessen hatte, trat wieder an Pierre heran und holte die Vorstellung nach.
»Frau Chaise, die ältere Schwester meiner Frau, die ebenfalls unsern Gustave, den sie sehr liebhat, begleiten wollte.«
Und sich nahe zu Pierre hinbeugend, fügte er mit leiser Stimme in vertraulichem Tone hinzu:
»Das ist Frau Chaise, die Witwe des Seidenhändlers, ungeheuer reich. Sie hat ein Herzleiden, das ihr viel Sorge und Unruhe verursacht.«
Dann sah die ganze Familie, in eine Gruppe zusammengedrängt, mit lebhafter Neugierde zu, was im Wagen vor sich ging. Immer mehr Zuschauer sammelten sich an, der Vater hob seinen Sohn, damit er alles gut sehen konnte, eine Zeitlang auf seinen Armen in die Höhe, während die Tante die Krücke hielt und die Mutter sich auf die Fußspitzen stellte.
In dem Wagen bot sich noch immer der nämliche Anblick: der Mann saß starr und leblos auf seinem Platze in der Ecke und lehnte den Kopf an die harte Holzwand. Er war ganz bleich, die Augenlider fest geschlossen, der Mund im Todeskampfe verzerrt und das Gesicht von kaltem Schweiße bedeckt, den Schwester Hyacinthe von Zeit zu Zeit mit einem Linnentuche abtrocknete. Sie hatte ihre Ruhe wiedergefunden und rechnete auf den Himmel. Zuweilen warf sie einen Blick auf den Bahnsteig, um zu sehen, ob der Pater Massias immer noch nicht käme.
»Sieh genau hin, Gustave«, sagte Vigneron zu seinem Sohne, »das soll ein Schwindsüchtiger sein.«
Das Kind schien sich leidenschaftlich für diesen Todeskampf zu interessieren. Er hatte keine Furcht, nur ein unendlich trauriges Lächeln flog über sein Gesicht.
»Oh, das ist entsetzlich!« murmelte Frau Chaise, die aus Angst vor dem Tode ganz bleich war.
»Donnerwetter!« sagte Vigneron philosophisch, »jeder zu seiner Zeit, wir sind alle sterblich!«
»Laß ihn wieder herunter«, sagte Frau Vigneron zu ihrem Gatten. »Du ermüdest ihn, wenn du ihn so lange an den Beinen hältst.«
Sie war ebenso wie Frau Chaise eifrig darauf bedacht, das Kind vor jedem Stoß zu bewahren. Der arme Liebling hatte es nötig, sorgfältig behütet und gepflegt zu werden. Jede Minute fürchtete man ihn zu verlieren. Auch der Vater war der Meinung, daß es besser wäre, wenn man ihn wieder in den Wagen zurückbrächte. Als die beiden Frauen den Kleinen fortführten, wandte sich Herr Vigneron noch einmal an Pierre und fügte tiefbewegt hinzu:
»Ach, Herr Abbé! Wenn der liebe Gott ihn uns nehmen würde, was wäre dann unser Leben... Ich will gar nicht von dem Vermögen seiner Tante reden, das auf andere Neffen übergehen würde. Und nicht wahr, es wäre doch ganz gegen die Natur, wenn er vor ihr sterben würde, besonders bei dem Gesundheitszustande, in welchem sie sich befindet... Nun, wir stehen alle in der Hand der Vorsehung, und wir rechnen fest auf die Heilige Jungfrau, die sicherlich ein Wunder tun wird.«
Endlich hatte Frau von Jonquière vom Doktor Ferrand die Versicherung erhalten, sie könne die Grivotte ruhig verlassen. Dennoch gebrauchte sie noch die Vorsicht, Pierre zu sagen:
»Ich sterbe vor Hunger und will einen Augenblick an das Büfett gehen. Aber ich bitte Sie dringend, mich sofort wieder holen zu lassen, wenn der Husten meiner Kranken von neuem beginnt.«
Als es ihr endlich mit großer Mühe gelungen war, sich auf dem Bahnsteig durchzuarbeiten, geriet sie am Büfett in ein anderes Gedränge. Die bemittelteren Pilger hatten mit Sturm die Tische genommen, und besonders viele Priester waren zu dem Geklapper der Messer, Gabeln und Teller herbeigeeilt. Die drei oder vier Kellner kamen nicht dazu, ihres Amtes zu walten, da die Menschenmenge sie daran hinderte, die sich an den Ladentisch herandrängte und Früchte, kleine Brote und kaltes Fleisch kaufte. Im Hintergrunde des Saales frühstückte Raymonde an einem kleinen Tische mit Frau Desagneaux und Frau Volmar.
»Ah, Mama, endlich!« rief sie. »Ich wollte gerade noch einmal kommen und dich holen. Man muß dich doch wenigstens essen lassen.«
Sie lachte, sehr angeregt und beglückt von all den Reiseerlebnissen, von dieser schlechten Mahlzeit, die man mit Windeseile hinunteressen mußte.
»Hier habe ich dir deine Portion Forelle aufgehoben, und dort ist auch noch ein Kotelett, das auf dich wartet... Wir anderen sind schon bei den Artischocken.«
Dann wurde es reizend. Es war ein Winkel des Frohsinns und der Heiterkeit, den man nur mit Vergnügen betrachten konnte.
Besonders anziehend war die junge Frau Desagneaux, eine zarte Blondine mit eigensinnigen, fliegenden Haaren, einem runden, milchweißen Gesicht und Grübchen in Wangen und Kinn. Sie lachte stets und besaß ein gutes Herz. Reich verheiratet, ließ sie seit drei Jahren ihren Mann mitten in den schönen Augusttagen in Trouville allein, um die nationale Pilgerfahrt zu begleiten. Es war ihre Leidenschaft, sich während dieser fünf Tage ganz den Kranken zu widmen. Es war ein wahres Schwelgen in vollständiger Hingabe, die sie hoch beglückte. Ihr einziger Kummer war, daß sie noch kein Kind hatte, und sie bedauerte zuweilen, ihren Beruf als barmherzige Schwester verkannt zu haben.
»Oh, mein liebes Kind«, sagte sie lebhaft zu Raymonde, »bedauern Sie doch Ihre Mutter nicht, daß sie so sehr von ihren Kranken in Anspruch genommen ist. Sie hat doch wenigstens eine Beschäftigung.«
Dann wandte sie sich an Frau von Jonquière und sagte:
»Wenn Sie wüßten, wie langsam die Stunden in unserem schönen Kupee erster Klasse verrinnen! Man darf sich nicht einmal mit einer kleinen Arbeit beschäftigen, das ist verboten... Ich hatte gebeten, man sollte mich bei den Kranken verwenden. Aber es waren schon alle Plätze besetzt, und ich bin deshalb gezwungen, heute nacht den Versuch zu machen, in meiner Ecke zu schlafen.«
Sie lachte und fügte dann hinzu:
»Nicht wahr, Frau Volmar, wir werden schlafen, da die Unterhaltung Sie zu ermüden scheint?«
Diese mußte schon die Dreißig überschritten haben; sie war sehr brünett mit einem schmalen Gesicht, feinen, müden Zügen und prachtvollen Augen, die glühenden Kohlen glichen, über welche für Augenblicke ein Schimmer huschte, der sie auszulöschen schien. Sie war auf den ersten Blick nicht schön. Je länger man sie aber betrachtete, um so berückender, sieghafter und begehrenswerter wurde sie. Übrigens bemühte sie sich, so unbeachtet wie möglich zu bleiben, war sehr bescheiden und zurückhaltend, kleidete sich immer schwarz und trug nie Schmuck, obgleich sie die Frau eines Pariser Diamantenhändlers war.
»Oh«, flüsterte sie, »wenn man mich nur nicht allzusehr hin und her stößt, bin ich zufrieden.«
Sie war schon zweimal nach Lourdes gegangen als Pflegerin, aber man sah sie dort niemals in dem Hospital NotreDame des Douleurs, da sie jedesmal nach der Ankunft von einer solchen Abspannung ergriffen wurde, daß sie, wie sie sagte, sich gezwungen sah, das Zimmer zu hüten.
Frau von Jonquière zeigte sich ihr gegenüber von liebenswürdiger Nachsicht.
»Oh, mein Gott! Sie haben jetzt Zeit, sich auszuruhen. Schlafen Sie doch, wenn Sie können. Wenn ich mich nicht mehr aufrechthalten kann, wird auch die Reihe an Sie kommen.«
Dann wandte sie sich an ihre Tochter.
»Du, mein Liebling, wirst guttun, dich nicht zu sehr aufzuregen, wenn du