Wer's glaubt wird selig. Thorsten ReichertЧитать онлайн книгу.
letzten Lebenskrise vor Jahren vorhanden waren, sind einem gesunden Selbstbewusstsein gewichen. Es ist leichter an sich selbst zu glauben und auf die eigenen Fähigkeiten zu vertrauen als auf einen Gott, dessen Fähigkeiten, Handlungsweisen, ja dessen Existenz ganz und gar nicht klar ist. Unser Glaube ist größtenteils auf uns selbst gerichtet. Wo es früher noch hieß: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“ (was aus biblischer Sicht im Übrigen sehr fragwürdig ist und daher ein Beispiel für „religiöse“ Sprichwörter der beginnenden Neuzeit darstellt, die von einem Umschwung des Gottvertrauens auf das Selbstvertrauen zeugen), da sollte man heute sagen: „Vergiss Gott, jeder ist seines eigenen Glückes Schmied!“
Tatsächlich hilft der Glaube an sich selbst in Abgrenzung zum Glauben an eine übergeordnete Macht vor allem dann, wenn es um die Vermehrung des eigenen Glücks und des Wohlstands, wenn es um Geld und Karriere geht. Denn der Glaube an etwas ist untrennbar mit einem Perspektivwechsel verknüpft, der das Ich nicht über alle anderen stellt. Wer an etwas außerhalb von sich selbst glaubt, sei es eine göttliche Macht, eine Idee oder eine Gemeinschaft, der relativiert sich selbst und denkt an andere; er sieht im Glück oder Wohlbefinden der anderen etwas, das mindestens ebenso wichtig sein kann wie die eigene Befindlichkeit.
Ein wichtiger Punkt von Religionskritikern zu allen Zeiten ist, dass der Glaube nur ein hilfloser Versuch sei mit dem Leid und der Ungerechtigkeit der Welt klar zu kommen, indem man die Verantwortung an eine höhere Macht abgibt. Marx bezeichnete Religion in seinem bekanntesten Zitat als „Opium des Volkes“, also als eine Art Benebelung der Sinne, damit man mit der unangenehmen Wirklichkeit besser klar komme. Jede Religion muss sich diesen Vorwurf gefallen lassen, weil sie erstens etwas glaubt was sie nicht beweisen kann (sonst wäre es ja auch kein Glaube), und zweitens dieser Glaube in der Regel tatsächlich zum Ergebnis hat, Trost in einer Situation der Anfechtung, des Leids oder des Unglücks zu spenden. Der Schluss, den Marx daraus zieht, dass nämlich der religionslose Mensch, der keine Benebelung der religiösen Sinne braucht, ein besserer, freierer Mensch sei, dieser Schluss greift natürlich zu kurz, das hat nicht zuletzt der 11. September bewiesen. Die Menschen sind nicht in die Kirchen geströmt um sich in ihrer Angst zu benebeln sondern um Trost zu finden. Die Monstrosität des Terrors war so enorm, dass sie einen Urinstinkt in uns Menschen aktiviert hat: das Bedürfnis nach der schützenden Herde. Wie eine Schafherde, die von Raubtieren angegriffen wird, wollen wir uns in solchen Momenten zusammenkauern und auf einen Hirten hoffen, der mächtiger ist als das angsteinflößende Raubtier. Natürlich war die Reaktion der westlichen Welt kein passives auf-Gott-Hoffen sondern ein wilder Aktivismus, durch den Afghanistan ins Chaos gestürzt und der Graben zwischen Abendland und Orient noch tiefer ausgehoben wurde. Das ist eben unsere moderne Antwort auf Angst, letztlich nichts anderes als die Reaktion des kleinen Mädchens, das sich nachts im Wald verirrt hat und als Mittel gegen die Angst laut zu singen anfängt. Die Angst ist ein steter Begleiter des Menschen, das war seit Anbeginn der Zeit so und daran wird sich niemals etwas ändern. Die Frage ist nur wie wir mit unserer Angst umgehen. Wo man in vergangenen Jahrhunderten die Abhilfe gegen die Angst vielleicht zu sehr bei Gott gesucht hat, da wollen wir heute am liebsten alle unsere Probleme und Ängste selbst lösen und uns wie einst Münchhausen aus eigener Kraft aus dem Schlamassel ziehen. Und wo wir nicht weiter kommen in unserer Angst, da helfen Psychologen oder notfalls Medikamente. Man könnte – frei nach Marx – vielleicht etwas überspitzt formulieren: „Opium ist die neue Religion des Volkes“, in anderen Worten: „Antidepressiva sind der Gott-Ersatz des modernen Menschen.“
All das liest sich vielleicht wie Gesellschaftskritik, wie die Forderung nach einer Rückbesinnung auf den Glauben an Gott – das ist allerdings nicht das Ziel; vielmehr möchte ich der spannenden Frage nachgehen, warum wir bei allem Selbstbewusstsein und dem Vertrauen auf uns selbst und unsere Fähigkeiten in Zeiten der Not und Anfechtung, sei es durch Terroranschläge oder durch individuelle Lebenskrisen, immer wieder zurück kommen zu einer Sehnsucht nach einer Macht, die über uns Menschen hinaus geht. Gibt es ein religiöses Bedürfnis, das in uns Menschen eingepflanzt ist? Haben wir alle eine Ahnung in uns, dass es da mehr geben könnte als mit modernen Messgeräten nachgewiesen werden kann? Oder handeln wir Menschen einfach irrational, wenn wir mit Angst konfrontiert werden? Flüchten wir uns nur in den nächsten, vermeintlich sicheren Hafen, möge er Psychologie, Religion, Medizin oder Arroganz heißen? Sicherlich, all das sind durchweg unterschiedliche Methoden mit Angst umzugehen – doch haben sie nicht alle etwas gemeinsam? Sind nicht all diese Wege angetrieben von einem Glauben, sei es der Glaube an die Medizin, die Forschung, der Glaube an sich selbst oder eben der Glaube an eine göttliche Macht? Vielleicht können wir diese vermeintlich so unterschiedlichen Methoden der Angstbewältigung auf einen Nenner bringen, wenn wir das Wort „Glaube“ von seiner religiösen Besetztheit befreien.
Glauben heißt vertrauen
Was ist das überhaupt: Glaube? Das Wort Glaube wird von uns in durchaus unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht, zunächst im Sinne von „an etwas glauben“, aber auch „jemandem glauben“ oder „einer Sache Glauben schenken“; im Sprachgebrauch ist uns aber auch das Verb glauben als „vermuten“ geläufig: „Ich glaube, dass es heute noch regnen wird.“ Gemeinsam ist allen Varianten, dass es um ein Vertrauen geht: ich vertraue meinem Gefühl, dass es heute noch regnen wird, ich vertraue der Technik, ich vertraue dir, dass du die Wahrheit sagst, ich vertraue auf Gott. Im englischen Sprachraum ist das noch deutlicher, dort ist das Wort „trust“ Vertrauen und Glaube zugleich, es ist abgeleitet vom Trotz, wir kennen es in alter Form zum Beispiel aus der „Trutzburg“, also eine Festung, die Angreifern trotzen soll und Sicherheit bzw. Verlässlichkeit bietet. Man sieht, dass das deutsche Wort Trost sprachlich und inhaltlich sehr nahe steht, der Trost ist letztlich auch der Versuch, gegen die Anfechtungen des Lebens anzukämpfen, gegen innere oder äußere Feinde und Ängste. Trost, Vertrauen und Glaube, diese drei Begriffe sind unmittelbar miteinander verknüpft und lassen sich nicht trennen. Wer an etwas glaubt, der vertraut darauf, der erhält dadurch Trost im Sinne von Schutz gegen die Angst.
Wenn Trainer oder Fans eines Vereins vor einem wichtigen Spiel gefragt werden, auf welches Ergebnis sie tippen, dann lautet die Antwort in den meisten Fällen ungefähr so: „Ich glaube, dass wir am Ende knapp gewinnen.“ Glaube ist immer eine Art Trotz, ein trutzen gegen die Angst man könne eine Niederlage erleiden. Glaube ist damit auch immer eine innere Motivation, denn nichts ist entmutigender als ein Trainer, der vor dem Spiel eine Niederlage prognostiziert.
Vor Jahren, als ich während meiner Ausbildung als Mitarbeiter auf einem Konfirmanden-wochenende zwei Tage mit Jugendlichen in einer Jugendherberge verbrachte, war das Interesse der meisten Jugendlichen, Jungen wie Mädchen, auf den Tischkicker gerichtet, der von früh bis spät von einer ganzen Traube Jugendlicher umringt war. Einige der Jungs schienen viel Übung im Kickern zu haben, sie gewannen ihre Spiele meist 10:5 oder noch deutlicher. Da beim Kickern gern das Prinzip „der Gewinner wird herausgefordert“ gilt, bleibt ein Siegerteam oft für mehrere Spiele am Tisch und erhält dadurch noch mehr Übung. Zwei Jungs waren letztlich unbezwingbar und besiegten reihenweise ihre Herausforderer, darunter auch einige Mädchen, die sich aus den 10:1 Niederlagen nicht viel zu machen schienen – vermutlich machte sich ihr Mut später vielfach bezahlt, schließlich imponiert es nicht wenigen 13-jährigen Jungs wenn die Mädchen beim Fußball antreten. Mit der Diakonin, die als Mitarbeiterin auf das Wochenende mitgereist war, kam ich in einer freien Minute am Tischkicker vorbei und sah, dass gerade zwei unerschrockene Mädchen die Herausforderung der „Champions“ wagten. Bei jedem Fehlschuss kicherten die beiden so herzhaft, dass sie innerhalb kürzester Zeit drei oder vier Tore eingefangen hatten. Durch ihr Lachen und Kichern aufmerksam geworden, gesellten sich noch einige Mädchen zum Kickertisch, und wir begannen, die beiden Mädchen kräftig anzufeuern. Die Diakonin ermutigte die Mädchen, ihre unterlegenen Genossinnen zu unterstützen, und auch ich konnte mich der Welle der Sympathie für die Außenseiterinnen nicht entziehen. Jeder gelungene Pass wurde von uns beklatscht und jede Torchance bejubelt. Tatsächlich fiel der erste Treffer im Tor der Jungs, und die Mädchen ließen sich kräftig feiern. Sie waren jetzt heiß auf mehr, umfassten die Griffe mit fester Hand und ließen kein Gekicher mehr über ihre Lippen kommen. Weiterhin wurde jede gute Aktion bejubelt, jeder Fehlschuss der langsam unruhig werdenden Jungs mit Gelächter quittiert. Die Jungs spielten gegen den sprichwörtlichen „zwölften Mann“ – und