Die Cousine aus Frankreich. Catherine St.JohnЧитать онлайн книгу.
Thesen Luciens gut heißen konnte, so hing sie doch begierig an seinen Lippen, wenn er erzählte. Ihr war dann zumute, als käme ein Stück von Paris und seinen aufregenden Ereignissen nach Deaubray, wo nicht einmal jetzt, während der größten Umwälzung, die Frankreich je erlebt hatte, irgendein besonderes Vorkommnis das tägliche Einerlei störte.
Lucien hatte diese Begeisterung natürlich außerordentlich geschmeichelt und er hatte sich die Verliebtheit der kleine Comtesse gerne, wenn auch etwas gönnerhaft, gefallen lassen, sie in einem gewissen Maße vielleicht sogar erwidert, bis er im Juli zum letzten Mal aufgetaucht war, seltsam erregt, aber ohne ihr zu sagen, was er eigentlich vorhatte. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört; wahrscheinlich war es für einen jungen Mann, der in der Revolution Karriere machen wollte, ungünstig oder sogar gefährlich, sich mit einer – wenn auch noch so ärmlichen - Aristokratin abzugeben. Nun würde sie ihn wohl überhaupt nicht mehr wiedersehen…
Sie versuchte, die aufkommende trübe Stimmung zu verscheuchen, und zwang sich, sich auf England zu freuen. Schließlich lag eine aufregende Reise voller Gefahren und Abenteuer vor ihr, wie in einem der Romane, die sie (natürlich ohne Wissen ihres Vaters) verschlungen hatte! Es konnte tatsächlich noch allerlei passieren; sie hatte sich zwar verkleidet, sich mutwillig einen Sonnenbrand zugezogen und von Jean-Baptiste ihre kupferroten Locken etwas stutzen und dunkelbraun färben lassen – aber wer konnte wissen, ob man sie nicht doch erkennen würde? Ein angenehmer Schauer, kaum durch einen Hauch von Furcht getrübt, lief ihr den Rücken hinunter: endlich ein Abenteuer, nach achtzehn Jahren der Langeweile auf Schloss Deaubray!
Jean-Baptiste unterbrach ihre Gedanken mit einer geradezu unpassend nüchternen Frage: „Hast du auch genug Geld dabei?“
Sie lachte. „Das fällt dir jetzt ein? Willst du zurückfahren, wenn ich sage, nein, daran habe ich gar nicht gedacht? Keine Angst, in Papas Schreibtisch waren noch sechsundzwanzig Louis d´or. Das dürfte doch reichen, oder?“
Sie hielt bekräftigend ein Lederbeutelchen hoch, das sie an einer Schnur um den Hals trug.
Er nickte. „Gut. Georges verlangt fünf Louis d´or für die Überfahrt – ziemlich billig. Den Rest heb nur gut auf, du wirst in England gewiss auch Geld brauchen. Dort bekommst du auch gewiss keinen Ärger, wenn du richtiges Geld statt dieser wertlosen Fetzen hast.“
„Statt der Assignaten, meinst du?“
„Ja. Papiergeld! Hat man so etwas Seltsames schon gehört?“
Nun kam ihr ein anderer Gedanke: „Denke daran, morgen früh einen anderen Weg zurück zu nehmen, damit niemand merkt, dass ich dir sozusagen verloren gegangen bin!“, ermahnte sie Jean-Baptiste, der aber nur unwillig grunzte.
„Glaubst du, ich bin blöde? Natürlich fahre ich einen anderen Weg zurück. Und dann schlage ich sofort Krach und zeige an, dass du geflohen bist, kaum dass ich den Rücken gewendet hatte -“
„Voll republikanischer Entrüstung!“, lachte Geneviève.
„Na sicher, ich bin doch ein guter citoyen!“ Er warf sich ironisch in die Brust.
***
Gegen halb zehn Uhr abends kamen sie nach Seyeux, dem kleinen Küstenort, wo Jean-Baptistes Vetter Georges zu Hause war. Sie hielten vor einem baufälligen, aber peinlich sauberen Häuschen am Ende des Ortes; Jean-Baptiste sprang vom Wagen und wollte Geneviève aus alter Gewohnheit vom Sitz herabhelfen. Gerade noch rechtzeitig, wie sie meinte, flüsterte sie: „Lass das – bist du verrückt?“, und hüpfte leichtfüßig auf den Boden.
Jean-Baptiste verstand zuerst nicht recht, aber dann kam ihm die Erleuchtung: „Was -? Ach, glaubst du, die hier halten dich für Henri? Den kennen sie doch, so gut wie mich! Nein, nein, Georges und Marthe sind eingeweiht, wir brauchen uns nicht zu verstellen, wenn kein Fremder da ist. Außerdem ist es ja schon stockfinster.“
„Du hast recht“, meinte Geneviève etwas beschämt, da sie sich gerade ganz besonders geistesgegenwärtig und umsichtig gefühlt hatte. Sie ärgerte sich über sich selbst und befürchtete plötzlich, die ganze Fahrt werde so zahm verlaufen wie ihr bisheriges Leben – dann aber schalt sie sich eine Närrin: Sie konnte doch froh sein, wenn sie heil und ganz nach England gelangte!
Sie betraten das Häuschen, das nach landesüblicher Bauweise aus grauem Stein errichtet war. Die Haustüre führte direkt in das einzige ebenerdige Zimmer, das offensichtlich als Wohnraum und Küche zugleich diente, wie die offene Feuerstelle mit der rußgeschwärzten Decke rund um den Abzug darüber verriet. Geneviève hatte noch nie eine solche Behausung von innen gesehen, da ihr Vater ihr den Umgang mit den Bauern von Deaubray verboten hatte; nicht einmal die Kranken durfte sie besuchen, da ihr Vater den verweichlichenden Einfluss der Mildtätigkeit auf seine Bauern fürchtete – wie der Teufel das Weihwasser, um einen Ausdruck Jean-Baptistes zu verwenden.
So sah sie sich nun neugierig um. Der Raum war ziemlich niedrig und wurde von einigen Talgkerzen und dem schwachen Herdfeuer nur unzureichend erhellt; Geneviève, die ja aus der Dunkelheit kam, erkannte trotzdem einiges: einen Tisch mit den dazugehörigen Stühlen in der Nähe der Feuerstelle, einen wackligen Schrank neben der Tür; im Hintergrund führte eine steile Stiege ins Dachgeschoss, das wahrscheinlich als Schlafkammer diente.
Am Herd stand eine Frau, die sich nun umwandte und ihnen entgegenkam. Als sie sich näherte, sah Geneviève, dass sie etwa Ende vierzig und auf eine etwas derbe Art recht hübsch war. Lebhaft begrüßte sie die Ankömmlinge: „Da seid ihr ja endlich – keine Schwierigkeiten auf dem Weg hierher? Georges, Georges, sieh mal, wer da ist!“
Georges, der neben dem Tisch saß und ein Netz flickte, sah kaum auf und brummte nur zur Begrüßung. Geneviève fand ihn nicht sehr freundlich und war nicht mehr ganz so sicher, ob die Überfahrt ein herrliches Abenteuer werde würde.
„Nun kommt erst einmal und setzt euch. Habt ihr Hunger? Aber natürlich habt ihr Hunger, ihr wart ja mindestens drei Stunden unterwegs!“ Mit diesen gastfreundlichen Worten stellte Georges´ Frau einen Topf auf den Tisch, aus dem ein verlockender Duft aufstieg, und legte einen dunklen Brotlaib und ein Messer daneben.
Geneviève spürte ihren Magen knurren und langte kräftig zu, obwohl sie diese Art von Fischsuppe noch nie gegessen hatte. Sie war noch nicht fertig, als sich Georges erhob und meinte: „Ich hole Louis und die anderen; wir segeln dieses Mal nur zu viert – das ist sicherer. Wir bleiben zwei Nächte weg; wenn jemand fragt, warum, dann sagst du, wir wollten nach Brest – im offenen Meer sind die Fischgründe besser. Hast du verstanden, Marthe? Wir müssen langsam los, der Wind steht genau richtig und weht auch schön kräftig; so können wir es in zwölf Stunden schaffen, wenn alles gut geht. Aber essen Sie nur ruhig fertig“, beruhigte er Geneviève, die hastig aufbrechen wollte, und verließ das Häuschen.
Als Geneviève aufgegessen hatte, erinnerte Jean-Baptiste sie an das Geld. Sie reichte Marthe die fünf Louis d´or, die sie in der Jackentasche trug (der Rest war in dem Lederbeutelchen sicher verwahrt), wickelte sich fester in ihren Umhang und machte sich mit Jean-Baptiste auf dem Weg zu dem kleinen Hafen.
Es erstaunte sie, dass Georges einen fast neuen, stattlichen Kutter sein eigen nannte, den er gerade zusammen mit drei anderen Männern startklar machte. Der Wind blies tatsächlich recht kräftig vom Land her – so konnte die Reise wohl nicht allzu lange dauern.
„Ja…“, meinte Jean-Baptiste leise, „viel Glück, Comtesse. Passen Sie gut auf sich auf, da drüben in England.“
„Ich schreibe dir, ganz bestimmt“, versprach Geneviève, nun doch von Rührung und Abschiedsschmerz übermannt, mit erstickter Stimme.
„Lieber nicht“, wehrte Jean-Baptiste ab, „das wäre zu gefährlich. Ich werde Ihnen schreiben, wenn es gefahrlos möglich ist.“
Die Abschiedsszene fand ein abruptes Ende, als Georges rief: „He, Henri, herauf mit dir, wir sind soweit!“ Sie küsste den verlegenen Jean-Baptiste rasch auf die Wange, lief auf den Kutter zu und kletterte hinein. Die Segel rauschten herab und füllten sich mit Wind; langsam glitten sie aus dem kleinen Hafen aufs Meer hinaus.
II