Die Flüchtlinge und wir. Neue Osnabrücker ZeitungЧитать онлайн книгу.
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Stolz auf die mutige Tochter: Elvir Bilalic (links) mit seinem Sohn Malik, Ehefrau Margret und Malaika. (Elvira Parton)
Almerija Delic spricht lieber über die Oper als über die Hölle im früheren Jugoslawien
Von Ralf Döring
Auf der Homepage des Theaters Osnabrück beginnt die Biografie von Almerija Delic mit dem Gesangsstudium an der Folkwang-Hochschule in Essen. Denn sie will als Sängerin wahrgenommen und geachtet werden, nicht als bosnisches Flüchtlingskind.
Die ersten Bomben fielen in der Nacht. „Es hat angefangen“, sagte die Mutter von Almerija Delic zu ihrem Mann. Der Bürgerkrieg in Jugoslawien hatte die kleine Stadt Bosanski Šamac im Nordosten von Bosnien erreicht. „Aber ich muss doch zur Schule“, hatte Almerija am Morgen gesagt; sie war immer sehr ehrgeizig. Aber durch die Straßen, auf denen am Vortag noch Kinder zur Schule gingen, robbten jetzt Soldaten, und von diesem Tag im April 1992 an war nichts mehr wie vorher für Almerija, ihren Bruder und ihre Eltern.
Ein paar Monate später kommt die Familie in Deutschland an. Eine von Almerijas ersten Erinnerungen ist eine Suppenküche in Frankfurt. Ein paar Junkies waren dort, einer von ihnen war auf Entzug, und die Mutter hätte ihr den Anblick gern erspart. „Guck da nicht hin“, hat sie die Elfjährige angezischt. Das gute Leben in Jugoslawien ist noch nicht lange her: Ihr Vater war Ingenieur und Direktor einer Maschinenbaufirma, die Mutter Gymnasiallehrerin. Die Familie gehörte zu den angesehenen Bürgern.
Dann tobte der Krieg los. Über Nacht wurden Nachbarn zu Feinden, und für Nicht-Serben wurde das Leben zur Hölle. Almerija Delic und ihre Familie sind dieser Hölle entkommen. Die Fixer in der Frankfurter Armenküche werden deshalb noch lange nicht zu Boten aus dem Paradies. Über die Monate zwischen Kriegsbeginn und der Ankunft in Deutschland spricht Delic allenfalls in Anekdoten: „Auf der Fahrt zur kroatischen Grenze mussten wir ganz viele Kleider übereinander anziehen, weil unsere Mutter Bargeld ins Futter eingenäht hatte.“ Weihnachten feierte die Familie bereits bei einem Pfarrer des Kirchenkreises Gladbeck-Bottrop-Dorsten. Wenn Almerija davon erzählt, klingt der Ruhrpott durch: „Dooasten“, sagt sie, mit langem „o“ und ohne „r“.
Almerija hat, „dank ,Gute Zeiten, schlechte Zeiten‘ und Loriot“, schnell Deutsch gelernt, und bald war sie wieder eine glänzende Schülerin. Wundersame Phänomene des Westens haben die Neubürger ebenfalls kennengelernt: „Was uns geschockt hat, war zum Beispiel, dass eine Frau hier weniger verdient als ein Mann“, sagt Almerija. Und sie lacht; sie nennt das den „bosnischen Mutterwitz“. Der hat über vieles hinweggeholfen. Auch über das düstere Kapitel in der Familiengeschichte.
Delic begegnet Menschen mit großer Offenheit, zieht allein durch ihre Körpergröße und den Kontrast ihrer blauen Augen zu den tiefschwarz glänzenden Haaren Aufmerksamkeit auf sich. Ausländerfeindlichkeit? „Ich war die einzige Ausländerin in der Klasse“, sagt sie, „und viele Leute sind mir sehr entgegengekommen.“ Aber sie fiel auf: durch ihr Streben nach Freiheit, nach Gerechtigkeit und Authentizität. „Ich wurde manchmal beobachtet wie ein Tier im Käfig“, sagt sie. „Aber nicht wie ein Paradiesvogel.“ Der Schritt auf die Opernbühne war da nur konsequent. Das Studium an der Folkwang-Universität der Künste empfand sie jedenfalls als sehr befreiend: „Da war es mit einem mal völlig egal, wer du bist. Entscheidend ist nur, was du machst.“
Und was Almerija Delic macht, macht sie gut. Wenn sie zur Probe geht, ist sie bestens vorbereitet, auf der Bühne besticht sie durch Präsenz und ihren ausdrucksstarken Mezzosopran. Derzeit freut sie sich auf die Rolle der Carmen in der gleichnamigen Oper – die junge Frau blickt eindeutig lieber nach vorn als auf die Vergangenheit. Zur bosnischen Gemeinde hat sie keinen Kontakt, die alte Heimat nicht wieder besucht. Ob sie und ihre Familie Krieg und Flucht verarbeitet haben? „Verarbeitet man das jemals?“, fragt sie. „Ich weiß es nicht.“ Was sie aber weiß: Der bosnische Mutterwitz hilft, das Leben und die Vergangenheit zu bewältigen.
Sängerin Almerija Delic blickt lieber nach vorn als zurück. (Michael Gründel)
Ein Leben zwischen Ost und West: Swetlana Jauk
Von Olga Zudilin
Vor 22 Jahren ist Swetlana Jauk nach Deutschland ausgewandert. Seitdem führt sie ein Leben zwischen zwei Kulturen.
Das Erste, was Jauk in den Sinn kommt, wenn sie an ihre Kindheit in der zentralkasachischen Stadt Arkalyk denkt, ist die Kälte im Winter. „Minus 30 Grad Celsius und dazu ein eisiger Wind, der von der Steppe aus durch die Stadt fegt“, erinnert sich die 37-Jährige. Dabei zieht sie ihre Schultern zum Kopf und schüttelt sich, so als könne sie den Frost noch einmal spüren. Draußen habe so viel Schnee gelegen, dass sie als Kind mit ihren Spielkameraden ganze Schneeburgen bauen konnte. „So einen Winter wird mein Kind hier wohl nicht erleben“, sagt Jauk.
Damit dürfte sie recht haben. Seit 22 Jahren ist nämlich Osnabrück ihre Heimat. Hier lebt sie mit ihrem Ehemann und ihrem einjährigen Sohn. Hier besitzt sie einen Friseursalon und ist Chefin dreier Angestellter. Nicht selbstverständlich angesichts Jauks Migrationsgeschichte: Als 15-Jährige ist sie mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, ohne Sprachkenntnisse, ohne einen konkreten Zukunftsplan. Jauk ist Russlanddeutsche. Ihre Mutter und alle Verwandten mütterlicherseits sind Deutsche. „Die Vorfahren meiner Mutter sind vor circa 200 Jahren aus Hessen nach Russland ausgewandert. Sie waren Wolgadeutsche. Meine Mutter hat immer gehofft, dass die Familie in Deutschland zusammenkommt“, erzählt Jauk. Ihre Cousine habe viel über die Vorfahren recherchiert. Sie selbst wisse nicht so viel über die Familiengeschichte, sagt die Friseurin.
Jauk sitzt in ihrem Salon am Westerberg und erzählt über ihren Weg. Ganz Geschäftsfrau, ist sie seriös und elegant gekleidet: schwarze Jeans, schwarzer Blazer und eine weiß-schwarze Bluse. Ihre langen blonden Haare hat die zierliche Frau in einer halb offenen Frisur zusammengebunden. Wenn sie spricht, lächelt sie häufig. Über sich selbst zu erzählen fällt ihr schwer. Stolz sei sie auf das, was sie geschafft habe. Vor allem, weil der Weg nicht einfach gewesen sei. „Als wir in Deutschland angekommen sind, habe ich nur geheult“, sagt die Friseurin. Zukunftsängste und die Sehnsucht nach ihrer Heimat hätten sie geplagt, und überhaupt wollte sie mit ihren Eltern zunächst gar nicht mit in ein fremdes Land.
Nach der Ankunft in Deutschland hieß es zuerst: die Sprache lernen. „In Kasachstan haben wir immer nur Russisch gesprochen“, erzählt Jauk. Ihre Oma habe ihr zwar einige Kinderlieder auf Deutsch beigebracht, doch richtiges Deutsch habe sie nie gesprochen. Nach einem Sprachkurs und einem Berufsvorbereitungskurs ging die Ausbildungssuche los. „Ich bin von Salon zu Salon gegangen und habe in gebrochenem Deutsch nach einem Ausbildungsplatz gefragt.“ Eine Saloninhaberin habe ihr dann eine Chance gegeben. „Sie musste schon viel Geduld mit mir haben, denn meine Sprachkenntnisse waren damals wirklich nicht gut.“ Durch die Ausbildung lernte Jauk Deutsch. Mit der Sprache kamen Freunde und ein eigenständiges Leben. Die Sehnsucht nach ihrer alten Heimat war damit schnell verflogen.
Arkalyk habe sie seit der Auswanderung nicht mehr besucht, und auch der Kontakt mit Jugendfreunden sei eher rar – wenn, dann nur über Online-Netzwerke. Trotzdem gibt es Sachen, die Jauk an ihre Kindheit in Kasachstan erinnern. Das Fotoalbum mit Schwarz-Weiß-Bildern von ihr und ihrer Oma zum Beispiel. Oder Matrjoschka-Puppen, die sie von ihren Jugendfreunden aus Kasachstan als Abschiedsgeschenk bekommen hat. Und natürlich die Rezepte für russische Gerichte.
Heute fühlt sich Jauk in Deutschland hundertprozentig integriert. Vor ihrer Saloneröffnung im Februar 2009 war sie noch skeptisch: „Ich habe mich schon gefragt, ob ich hier angenommen werde“, sagt Jauk. Immerhin sei sie nicht in Deutschland geboren und spreche immer noch mit einem leichten Akzent. Richtige Probleme wegen ihres Migrationshintergrundes habe sie dennoch nie gehabt. Die Russlanddeutsche ist überzeugt: „Wenn man zeigt, dass man sich bemüht und hier etwas erreichen möchte,