Terrorismus in Deutschland und Italien: Theorie und Praxis der RAF und der BR. Kai BerkeЧитать онлайн книгу.
der sehr dünnen Kontextualisierung, die unterschlägt, dass der Terrorismus der RAF und der BR eben genau in dieser historischen Konstellation entstehen (und auch wieder verschwinden) konnte, ist der laxe Umgang mit historischen Details sehr ärgerlich. So wird behauptet, bei der Baader- Befreiungsaktion der RAF 1970 hätte es einen Toten gegeben, was eben sowenig stimmt wie die Behauptungen, die RAF habe zur Geldbeschaffung in der Frühphase bis 1972 Entführungen durchgeführt oder sie habe den Berliner Kammergerichtspräsidenten von Drenckmann erschossen.
Neben solchen Details begeht ROSSI aber auch methodische Fehler: So entgeht ihr die theoretische Entwicklung der RAF, weil sie auf eine Längsschnittanalyse verzichtet und sich statt dessen vorwiegend auf eine Schrift Horst Mahlers bezieht, die – im Gefängnis ohne Rücksprache mit der Gruppe geschrieben- die Meinung eines Einzelnen, aber zu keiner Zeit den Diskussionsstand innerhalb der RAF geschweige denn deren Praxis darstellte. Konnte sie auch nicht, denn die Verhaftung Mahlers in der Frühphase der RAF verhindert, dass er in seinen Schriften die Entwicklung der Gruppe abbilden kann. Es ist ein grundsätzliches Dilemma, dass sich diejenigen Autoren, die sich auch mit der Theorie der RAF auseinandersetzen, meist an Mahlers Text abarbeiten, weil aus ihm all die griffigen Zitate stammen, mit denen man die RAF moralisch diskreditieren konnte, weil sie die größte Angriffsfläche bieten.
Der empirische Teil krankt an der- wie ROSSI z.T. einräumt- sehr fragwürdigen Datenerhebung. Alle Aussagen über die soziale Zusammensetzung einer im Untergrund operierenden Gruppe können nur Aussagen über die erreichbaren Mitglieder, die Gefängnisinsassen, sein und damit über die Frage, wer sich am leichtesten hat erwischen lassen.
Darüber hinaus gelten die Daten für jeweils alle klandestinen Gruppen eines Landes; kann man der Argumentation bezüglich der Hegemonie der untersuchten Gruppen für die RAF in Deutschland vielleicht noch folgen, so ist die Subsumtion aller linksradikalen Aktionen von einigen Hundert verschiedenen Gruppen auf das Konto der Brigate Rosse schlicht unseriös. Dass trotzdem einige Ergebnisse der empirischen Untersuchung evident sind, sagt m.E. noch nichts über die Zuverlässigkeit der Methode aus. Für diese Arbeit ist daraus der Schluss zu ziehen, dass Methoden der empirischen Sozialforschung für den Untersuchungsgegenstand ungeeignet sind.
Abgrenzung des Untersuchungszeitraums
Ein weiteres Manko der Arbeit ROSSIs ist das Fehlen eines klar abgegrenzten Untersuchungszeitraums. Da in dieser Arbeit Gründe für das Scheitern des Terrorismus gesucht werden, erscheint es zweckmäßig, den Untersuchungszeitraum auch auf die Zeit bis zum Scheitern zu begrenzen. Es gibt gute Gründe, die Niederlage in strategischer Hinsicht an den Entführungsfällen Schleyer bzw. Moro festzumachen. Bei der RAF könnte man die „politische Phase“ auch schon als mit der Festnahme der Kerngruppe 1972 abgeschlossen betrachten. Da sich die zweite Generation bis zur Schleyer- Entführung aber noch insofern zum Staat in Beziehung setzte, dass sie die „Machtfrage“ stellte, soll die Existenz einer strategischen Perspektive für den Zeitraum bis Herbst 1977 angenommen werden. Machtfrage bedeutet hier nicht Umsturz der staatlichen Ordnung sondern die Möglichkeit, den Staat gewaltsam zu einer Handlung zu zwingen, um eine Perspektive von Gegenmacht zu eröffnen, wie Lutz Taufer es auf einem Kongress in Zürich bezeichnete. Insofern stellt die Praxis der dritten Generation einen klaren Bruch dar, denn hinter dem taktischen Ziel der Anschläge ab 1977 ist ein Bezug zu einem strategischen Gesamtziel nicht mehr zu erkennen. Zudem ist diese Phase gekennzeichnet durch die vollständige Isolation von jeglichem politischen Diskurs.
Zum Aufbau der Arbeit
Quasi alle Revolutionstheorien betonen das enge Verhältnis, das zwischen Avantgarde und der Bevölkerung herrschen müsse. Das Scheitern des bewaffneten Kampfes hängt also mit der Isolation von dem revolutionären Subjekt zusammen. Das ist in komprimierter Form die leitende These dieser Arbeit und wirft die Frage auf, wie und auf welchen Ebenen die Isolation von den „Volksmassen“ entsteht.
Ich gehe- wie Rossi- davon aus, dass es sich bei RAF und BR um Organisationen im soziologischen Sinne handelt, die auf der Mikroebene dem Einfluss von Individuen und auf der Makroebene den Einflüssen der Umwelt unterliegen. Im Zentrum der Arbeit stehen jedoch die Organisationen selbst, die ich anhand der Kriterien Theorie, Praxis und Organisationsstruktur miteinander vergleichen werde.
Eingerahmt werden diese Kapitel durch zwei Analysen zur Makroebene. Einleitend werde ich eine gründliche Kontextualisierung des bewaffneten Kampfes vornehmen, also historische und strukturelle Entwicklungen aufzeigen, die zum bewaffneten Kampf führten und aufzeigen, wie diese sich verändert haben und so zum Untergang- also zur Isolation vom revolutionären Subjekt- von RAF und BR beigetragen haben.
Im letzten Kapitel beschäftige ich mich dann mit den bewussten Reaktionen der Umwelt auf den bewaffneten Kampf. Dabei werden insbesondere die gesetzgeberischen Aktivitäten, aber auch die Reaktionen der (medialen) Öffentlichkeit dargestellt und bewertet. Am Ende jedes Kapitels werden die wichtigsten Erkenntnisse in Hinblick auf die Fragestellung noch einmal zusammengefasst.
Da der Untersuchungszeitraum nicht den kompletten Zeitraum des Bestehens von RAF und BR umfasst, wird in einem Epilog der Vollständigkeit halber das Ende des bewaffneten Kampfes kurz zusammengefasst.
Wenn ich auf eine Untersuchung der Mikroebene weitgehend verzichte, so deshalb, weil es dabei überwiegend um „Analysen von Terroristen statt Analysen des Terrorismus“ geht, also um die Frage, warum sich Menschen für diesen Weg entschieden haben. Diese Frage steht aber gerade nicht im Vordergrund dieser Arbeit. Für die Darstellung und Bewertung solcher „Karrieren“ verweise ich auf das reichhaltige Literaturangebot zu diesem Thema.
Zur Begriffsverwendung
Zur Einleitung in eine Arbeit über die RAF und die BR gehört auch der Versuch, das Thema beim Namen zu nennen. Es ergibt sich das Problem, dass es viele normativ aufgeladene Begriffe für das soziale Phänomen der 70‘er Jahre gibt, um das es hier gehen soll. Wenn ich die in weiten Teilen der medialen Öffentlichkeit gängigen Begriffe „Anarchismus“ und „Terrorismus“ sparsam verwende, so verfolge ich damit kein „gegenpropagandistisches“ Ziel sondern halte diese Begriffe schlicht für sprachlich ungenau und untauglich, die Theorie und Praxis der RAF und der Roten Brigaden zu beschreiben. Wenn hier natürlich auch keine annähernd vollständige Diskursanalyse gegeben werden kann, soll doch auf den politischen Nutzen solcher Begriffe kurz eingegangen werden.
Die Bezeichnung „Anarchist“ für Mitglieder der RAF, die sich auf die knapp 20 Jahre lange Episode der „Propaganda der Tat“ in der langen Geschichte des Anarchismus bezieht, dient der doppelten Diffamierung; zum einen der gewaltverneinenden Ziele eines libertären Sozialismus, zum anderen der RAF- Mitglieder als „Bombenwerfer“.
Der Begriff „Terrorismus“ unterstellt der RAF wie den BR eine willkürliche Anwendung von Gewalt, was in Italien zusätzlich die Grenzen zwischen der Gewalt linker Gruppen und dem Terror rechter Gruppen verwischen soll. Terror muss auch potentiell den Unschuldigen treffen können, um Angst zu erzeugen, während Lenin z. B. den gezielten Einsatz von Gewalt propagiert hat, um den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen. Die Anwendung von ungezielter, willkürlicher Gewalt (Terror) hätte für linke Stadtguerillas keinerlei strategischen Wert, da sie i.d.R. eher den Ruf nach einem starken Staat befördert. Deshalb war es gerade nicht so, dass nach Schleyer oder Moro „als nächstes der Gemüsehändler an der Ecke“ zur Zielscheibe von Anschläge hätte werden können.
Die genannten Merkmale des Terrors träfen eher auf verschiedene Reaktionen der staatlichen Instanzen zu, wie großflächig durchgeführte Hausdurchsuchungen oder die mediale Jagd auf so genannte Sympathisanten. Um genau diese Klippen des ideologischen Sprachgebrauchs zu umschiffen, verwende ich weder den Begriff „Terrorismus“ noch „Staatsterrorismus“. Stattdessen ziehe ich die Begriffe „bewaffneter Kampf“ als Ausdruck des charakteristischen Unterscheidungsmerkmals im politischen Kampf und „Stadtguerilla“ als Bezeichnung eines neuen Organisationskonzeptes politischer Betätigung vor.
Ein anderes Problem bringt die Verwendung des Begriffes „Staat“ mit sich, da man Gefahr laufen könnte, den