Veränderungen von Verhaltensstandards im Bereich familialer Erziehung und Sozialisation seit 1945. Winfried WolfЧитать онлайн книгу.
auch nicht selten nichts weiter als ein Frage- und Antwortspiel (mit Unterhaltungswert freilich) zweier mehr oder weniger anonymer Gesprächspartner, die, so zumindest der Berater, mit Blick auf das große Publikum agieren60, so lassen sich aber doch auch hier trotz unterschiedlicher Bedingungen im Vergleich zur „normalen gesprächsorientierten Beratung partnerzentrierte Grundhaltungen durchhalten. Das geht auch aus einer Befragung von Zeitschriftenberatern durch den Verfasser deutlich hervor: Danach gehört es zu den „guten Eigenschaften“ eines (Zeitschriften)Beraters „zwischen den Zeilen das eigentliche Anliegen zu finden“, „Einfühlungsvermögen“ zu zeigen, d. h. „beim oder im Ratsuchenden“ zu sein61.
Wir wollen uns jedoch nicht über therapeutischen Wert oder Unwert der Zeitschriftenberatung weiter auslassen, unser Interesse geht in eine andere Richtung62. Was den stark reduzierten Beratungsprozess der Zeitschriften-Beratung angeht, das individuelle und zeitlich prinzipiell unbeschränkte Eingehen auf die jeweilige Problemlage, ist für unsere Zwecke nun doch von Vorteil.
Verallgemeinerbare Normen und Werthaltungen spiegeln sich hier, wo sowohl einem einzelnen als auch einer breiten Leserschaft Rat, und zwar praktischer Rat, gegeben wird, deutlicher wieder als wir dies vom einmaligen Protokoll einer gesprächstherapeutischen Sitzung erwarten können. Die Zeitschriftenberatung, die ja keine persönliche Begegnung zulässt, muss „zwangsläufig pauschaler“ sein und „aus der Ferne allgemeine Ratschläge“ erteilen63.
Die Zeitschriften machen Beratungsangebote für aktuelle Lebensfragen, d. h., dass einzelne, vom Ratgeber der Leserschaft präsentierte Fallbeispiele, wiewohl sie immer auch den Einzelfall behandeln, doch repräsentativen Charakter für die Problemlage vieler haben64. Der Leser möchte und soll sich im vorgestellten Fall wiedererkennen und Nutzen aus der angebotenen Beratung ziehen65. So sieht denn auch der §Ratgeber“ seine Funktion schon im Titel der Zeitschrift eindeutig deklariert. „Den Lesern wird eine Vielzahl an Themen geboten in Form von praktischer Beratung und Anleitung, praxisnahen Tipps und Hinweisen sowie aktuellen Informationen.“66
Er kommt damit der Lesererwartung nach praktischer und realitätsgerechter Beratung und Information nach. Dass die Zeitung dieser Erwartung auch gerecht wird, zeigt sich in der hohen Übereinstimmung zwischen „genereller Themenerwartung und speziellen Themenangeboten.“67
So sieht sich denn auch der Ratgeber in Erziehungsfragen den Erwartungen einer Leserschaft ausgesetzt, die er nicht ignorieren kann. Es wäre wohl auch eine Überschätzung der Rolle der „Ratgeberonkel und –tanten“, wenn man annähme, sie hätten ihre „Pädagogik“ gegen die Zeit und nur aus ihrem Kopf herausgeschrieben.68 Vielmehr nimmt der Ratgeber auf, spricht aus und systematisiert, was das lesende Publikum seiner Zeit an Erziehungsvorstellungen besitzt und selbst wenn er gegen überkommene, traditionelle Vorstellungen anschreibt, versucht er doch lediglich Tradition und Moderne miteinander in Einklang zu bringen – niemals aber gibt er Rat „gegen die Zeit“.69
Seine praktischen Tipps verlangen von ihm, und damit unterscheidet er sich wesentlich vom „normalen“ Erziehungsberater und Psychotherapeuten, mehr oder minder eindeutige Stellungnahmen. Erleichtert wird ihm diese Aufgabe durch eine entsprechende Aufbereitung der für die Veröffentlichung vorgesehenen Leserbriefe. Aus „seitenlangen, ganz speziellen Lebensgeschichten“ muss „die Essenz herausgefiltert“ werden.70 In der Raterteilung muss der Ratgeber dann ein Doppeltes leisten: er übermittelt eine Norm vom „richtigen Verhalten“ und er macht Vorschläge darüber, wie sie zu erfüllen ist.71
Was ist „richtiges“ Verhalten?
Woher bezieht er nun seine Vorstellungen vom „richtigen“ Verhalten und wie begründet er seine Raterteilung? Nach Auskunft der Ratgeber durch Verweis auf „pädagogisch-psychologische Erkenntnisse“ und „persönliche Lebenserfahrung“.72 Der Vergleich über mehrere Jahrzehnte hinweg wird zeigen, dass die Gewichtung dabei historisch bedingt ist und dass etwa die „wissenschaftliche“ Begründung die auf Alter und Lebenserfahrung rekurrierende zunehmend zurückgedrängt hat.
Natürlich versucht jeder Ratgeber, das verlangt sein journalistisches Engagement von ihm, in den Augen seiner Leser „unverwechselbar“ zu sein73, doch kann er bei allem persönlichen Einsatz und aufklärerischem Impetus sowohl die Lesererwartung als auch die Leitlinien seiner Redaktion nicht unberücksichtigt lassen. Und so ist trotz aller möglichen individuellen Unterschiede in der Person des Beraters, trotz persönlicher Vorlieben und Eigenheiten, zu erwarten, dass sich in den Ratgeberrubriken und den einschlägigen Beiträgen zu Erziehungsfragen ein Bild von dem, was in der familiären Sozialisation und Erziehung aktuell „Mode“ ist und gelten soll, wiederspiegelt. Diese Vermutung wird durch die Berater-Befragung gestützt: Zeitschriftenberater sind in d. R. hauptberuflich in der Erziehungs- bzw. Familienberatung tätig und wissen aus ihrer täglichen Praxis „vor Ort“, was den Ratsuchenden „auf den Nägeln brennt“.74
Und unabhängig von den Leitlinien der Zeitschrift werden sich, über Jahre hinweg beobachtet, Änderungen in den Standards des Verhaltens, wie sie in der Familie von den Eltern an die nachwachsende Generation übermittelt werden sollen, feststellen lassen. Da nun die Kommunikationsinhalte in der Regel stark auf das breite Publikum abgestimmt sind – denn nur solche Inhalte werden sich behaupten, die vom Publikum auch angenommen werden – ist zu vermuten, dass sich in den Beiträgen des „Ratgebers“ zur Erziehung weitgehend die ‚cultural patterns“ seiner Leserschaft wiederspiegeln.75 Diese sog. Reflexionshypothese dürfte allerdings nicht uneingeschränkt gelten, denn sie setzt voraus, dass die ‚cultural patterns’ des Publikums die Kommunikationsinhalte wesentlich beeinflussen. Ein flüchtige Durchsicht der „Ratgeber“-Empfehlungen zur Erziehung vermag jedoch schon deutlich zu machen, dass sowohl die Wünsche bzw. der Geschmack des Publikums berücksichtigt werden als auch „ratgebereigene“ Zielvorstellungen in die Kommunikationsinhalte einfließen. Das ist bei einer Zeitschrift, die erklärtermaßen nicht der bloßen Unterhaltung dienen, sondern in erster Linie informieren und belehren will, auch nicht weiter verwunderlich. Der Reflexionshypothese ist also zumindest eine Kontrollhypothese entgegenzuhalten, wonach umgekehrt auch die Kommunikationsinhalte beim Publikum Veränderungen bewirken oder dies doch wenigstens beabsichtigen. Die Zeitschrifteninhalte sind dann nicht bloße Reflexion der sog. ‚Sitten und Gebräuche des Volkes’, sondern versuchen diese von sich aus zu beeinflussen und zu strukturieren. Da es jedoch nicht Ziel der vorliegenden Untersuchung ist, Aufschluss über die Erziehungsstandards der Rezipienten des „Ratgebers“ zu erhalten, können wir hier die Frage nach dem Wert oder Unwert dieser beiden Thesen vernachlässigen. Es kann wohl auch in dieser Sache weniger von einem ‚entweder oder’ als eher von einem ‚sowohl als auch’ die Rede sein.
Gleichgültig ob nun der „Ratgeber“ eher die impliziten Werte und Verhaltensvorschriften seines Publikums spiegelt oder eher selbst determinierend auf seine Leserschaft einwirkt, er und mit ihm die Ratgeberrubriken aller Zeitschriften bieten heute einem breiten Publikum das, was den Anstandsbüchern des 18. Und 19. Jahrhunderts ein Anlegen war: der sich bildenden, lesenden Schicht der Bevölkerung die für allgemein gültig gehaltenen Standards zivilisierten Verhaltens und „guter“ Erziehung zu vermitteln.
Zur Strukturierung der Raterteilung: Der „Briefkasten“
Hauptquelle der Untersuchung sind die sog. „Briefkästen“. In ihnen beantwortet ein Psychologe Leserfragen. Sie finden sich im „Ratgeber“ gut platziert in der Heftmitte. Auf zwei bis drei, manchmal vier Seiten werden zumeist ein bis zwei Problemfälle unterschiedlicher Thematik behandelt.
In geraffter Form wird das anstehende Problem dargestellt: der Erziehungsfachmann/frau versucht im Anschluss daran eine Antwort zu geben. Beide Textteile, die Frage und die Antwort, sind deutlich durch die Verwendung verschiedener Schriftarten und durch die Kennzeichnung wörtlicher Rede voneinander getrennt.
Die auszugsweise wiedergegebenen Briefe – es fehlen Anrede und Grußformel – sind zu einem lesbaren Text zusammengestellt und vermitteln in der Beschreibung persönlicher und privater Verhältnisse Authentizität und unmittelbare Betroffenheit. Das in Frage stehende Erziehungsproblem wird ohne Umschweife angesprochen: „Überall,