Schwester des Mondes - Teil meines Lebens. Sorella Di LunaЧитать онлайн книгу.
warum also schüchtern sein? Frage einfach dreist drauf los!“
Luna legt den Kopf auf ihre Arme und weint.
So gerne möchte sie dreist drauflos fragen. Und Antworten bekommen. Sie weiß nicht, warum sie gerade bei Giorgio denkt, er könne ihre Fragen beantworten. Sie kennt ihn doch erst ein paar Wochen. Eine zufällige Bekanntschaft aus einem Forum für Menschen mit Angststörungen und Psychosen.Vielleicht ist es ein Verrückter, einer, der die Foren durchsucht und „Kontakte“ sucht!
Nur liest sie aus den wenigen Zeilen, die Giorgio und sie gewechselt haben, mehr als das. Sie hat Angst, weil sie nicht weiß, ob sie das sehen möchte. Sie denkt zurück an den Tag im Februar vor zwei Jahren, als ihre Mutter gestorben ist. Und fühlt sich auf einmal schrecklich allein und hilflos.
Giorgios Mail:
„Auch wenn Du den Punkt bisher immer ignoriert hast - im Verhältnis zu Deiner Mutter liegt ein wichtiger Ansatzpunkt für Deine Probleme. Du hast sie geliebt, das habe ich bisher aus all Deinen Äußerungen gespürt. Du hast ihre Autorität, ihre Cleverness und damit die Geborgenheit, die sie vermittelt hat, gebraucht. Gleichzeitig musstest Du ihr etwas verheimlichen, weil Du ihr auf keinen Fall wehtun wolltest!
Vorschlag: Rede doch jetzt mit ihr - über Dein Tagebuch. Schreibe es Dir von der Seele!“
Luna weiß, sie hat nichts zu verlieren. Soll doch ein Fremder ihre Seele betrachten. Etwas von ihr erfahren. Sie ist zu verzweifelt, um Vorsicht walten zu lassen. Es gibt Dinge, die sie ihrer Mutter noch sagen möchte.
Lunas Mail:
„Liebe Mama, Du weißt, ich konnte nie reden, habe immer alles geschrieben. So viele Zettel, die ich unter der Wohnzimmertür durch geschoben habe. So auch jetzt. Ich weiß, dass Deine Familie und vor allem auch ich und mein Sohn, Dir unendlich viel bedeutet haben. Du warst unbeugsam für mich, bis zum letzten Tag unverletzlich. Dabei hast Du so ein schweres Leben gehabt. Deine eigene Mutter hat sich kurz vor Deiner Hochzeit umgebracht. Sie war krank. Depressiv. So wie Du. So wie ich. Du hast Dich immer in Dinge hinein fallen lassen können mit all Deinen Emotionen. Du warst fähig, sowohl intensive Trauer, als auch explodierende Begeisterung und Freude zu zeigen. Ich empfinde das auch, nur kann ich meine Emotionen nicht äußern. Du hast es auch uns Kindern nicht leicht gemacht. Trotzdem, eine Welt ohne Dich ist schwer vorstellbar. Wie unendlich Leid tut es mir und wie sehr hasse ich mich dafür, dass ich nicht weinen kann. Ich will nicht groß und verantwortungsvoll sein, ich will ein Kind sein dürfen, schutzbedürftig sein. Ich kann all die Verantwortung nicht mehr tragen.
Ich hab Dich so lieb! Du wusstest ja nichts von dem, was zwischen mir und meinem Bruder vorging. Es war so schwer, es Dir zu verheimlichen, aber Deine Welt wäre zusammengebrochen...“
Als Luna diese Zeilen schreibt, muss sie vor der Macht der Erinnerung aufstöhnen. Es schmerzt so tief in ihr. Und sie erinnert sich voller Schrecken an ein Szenario von damals:
Wiederum ist sie nackt. Sie liegt wieder auf dieser Matratze. Es ist einige Monate nach dem „ersten Mal“. Sie erfährt, nein, sie bekommt beigebracht, was Onanie bedeutet. Sie kann es absolut nicht genießen, fühlt sich unsicher, abgestoßen. Es ist etwas Dreckiges, was hier geschieht. Sie kann es in keinen Zusammenhang mit Liebe bringen. Obwohl sie gerade aus Liebe all dieses über sich ergehen lässt.
Als er sie oral befriedigen möchte, fühlt sie einen Ekel, es ist widerwärtig. Wenn sie heute daran zurückdenkt, wird ihr übel. Speichel sammelt sich in ihrem Mund, vermischt mit einem galligen Geschmack. Sie muss ausspucken gehen. Sie stellt sich vor, das in ihrem Mund wäre sein Sperma und sie wird beinahe verrückt über diese perverse Vorstellung.
Ach Mama, wo warst Du nur...
Giorgios Antwort:
„Antwort von Deiner Mama:
Liebe Luna,
ja, es hat mich oft geschmerzt, dass Du mich aus Deiner Seele ausgeschlossen hast, nicht mit mir geredet hast, immer nur alles mit Dir selbst ausmachen wolltest. Das war schlimm für mich, aber was sollte ich machen? Ich habe Dich immer geliebt, denn Du bist mein Kind, also ist meine Liebe bedingungslos und so wird es bleiben.
Ja, ich habe es meinen Kindern nicht immer leicht gemacht, aber ich habe Euch immer geliebt (und das bedeutet leider auch immer mal wieder Schmerzen bereiten – auf beiden Seiten.) Nun, ich habe versucht, Dich an Deinen Sohn heranzuführen, Deine Liebe zu ihm auch offen zu zeigen und ich bin zufrieden, dass mir das gelungen ist. Das war schön für mich und hat mich glücklich gemacht.
Eine Welt ohne mich gibt es nicht, hast Du das nicht gespürt, als Du jetzt die Kerzen für mich angezündet hast?
Ich würde mir wünschen, ich könnte Dich noch immer wie ein schutzbedürftiges Kind durchs Leben führen, aber willst Du das wirklich? Nimm die Hilfe an, die Du bekommen kannst, suche Dir neue, aber bitte lass Dich nicht fallen!
Du hast alle Kraft, die auch ich hatte. Fehlen tut ihr mir alle, aber ich danke Gott jeden Tag für die Zeit, die ich mit Euch verbracht habe.
Und wenn Du mir etwas verheimlicht hast: Das tut mir leid, dass Du Deine Seele so belastet hast, aber für mich zählt immer nur das Eine: Du liebst mich und was will ich mehr?“
Als Luna diese Zeilen von Giorgio liest, schauert es sie. Wie gut hat er den Ton getroffen. Wie konnte er all das in ihr sehen? Wie kann es sein, dass sie das Gefühl hatte, es wäre wirklich ihre Mutter, die zu ihr spricht?
Sie hat Angst vor dem, was Giorgio sehen kann und Angst vor dem, was in ihr ist. Sie greift automatisch nach dem Wodka und trinkt. Trinkt, und kann nicht mehr aufhören. Sie möchte nicht vergessen, nein sie möchte fühlen!
Sie möchte herausfinden, was Trauer bedeutet. Sie will wissen, was Lust am Leben ist. Sie findet in sich nichts mehr als ein leeres Gefühl. Die ersten Gläser bringen Euphorie. Sie kann das, sie steht das durch, die Erinnerungen schrecken sie nicht mehr. Viele Gläser später findet Luna sich im Badezimmer wieder, mit dem Skalpell in der Hand und einem Tuch voller Blut. Sie spürt keinen Schmerz mehr.
Am Tag danach fühlt sie zum ersten Mal bewusst, dass es jemanden in ihr gibt. Jemanden, der nicht die erwachsene Luna ist, jemand, der ein Kind ist. Sie fühlt sich zwiespältig, kann nicht adäquat reagieren, nicht vernünftig agieren. Es scheint sie zu zerreißen, die Ambivalenz der Gefühle, des Empfindens.
Sie hört nach vielen, vielen Jahren wieder das Flüstern. Nur kurz, wie zufällig, wie im Vorbeigehen, aber sie hört es. Und weiß, dass ihre unsichtbaren Freunde, die sie als Kind hatte, nicht mehr weit von ihr sind. Sie möchte sie gerne besuchen, scheut aber davor zurück. Noch ist der Weg ihr zu weit. Noch kann sie klare Gedanken fassen. Noch ist der Zeitpunkt nicht da.
Sie fühlt sich ihrer toten Mutter gegenüber beschämt. Trotz steigt in ihr auf, wenn sie daran denkt, was sie ihr alles verheimlicht hat. Und dass sie heute noch die Schuld bei sich selber sucht. Weil sie es zugelassen hat. Das Stöhnen, das Bewegen, das Streicheln, das Küssen, die Perversionen, die Unterwürfigkeit.
Giorgio schreibt:
Liebe Luna,
diese Schuldgefühle sind die Folge Deiner traumatischen Belastungen, die Du so lange versucht hast alleine zu tragen. Das ist aber unmöglich, ja es ist unmenschlich…
Du brauchst professionelle Hilfe, um wieder zu Dir selbst zu finden, Dich selbst wieder lieben zu können. Ich werde Dich dabei begleiten, Dir zur Seite stehen!
Dein Giorgio
3 Verloren
„In jedem Augenblick entscheidest du dich für dich selbst, aber entscheidest du dich auch für dein Selbst? Körper und Seele enthalten