Das Steckenpferd des alten Derrick. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
dessen rotes Schlusslicht er vom Balkon aus gesehen hatte.
»Ja, dort stand ein Wagen«, gab er zu, »aber er schien leer zu sein. Haben Sie Feinde, Mr. Derrick?«
Der andere schüttelte abwehrend den Kopf.
»Nicht, daß ich wüßte. Bei meinem Vater wäre mir das alles verständlicher erschienen, aber ich habe eigentlich nie etwas mit irgendeinem Menschen gehabt. Nein, ich wüßte nicht!« setzte er nachdenklich hinzu.
»Ich sah Ihnen an, daß Sie eben noch etwas bemerken wollten«, machte ihn Dick aufmerksam.
Derrick überging die Anspielung.
»Ich muß auf alle Fälle nach London«, gab er statt dessen zur Antwort.
»Ich bringe Sie hin«, erbot sich Tommy.
»Auch ich schließe mich an«, fiel Staines ein; »deinen Wagen will ich gern benutzen, Tommy, aber nicht unter deiner Führung. Ich habe heute schon zu viel Pech gehabt, um noch mein Leben mit dir aufs Spiel zu setzen, mein Junge. Mich in einer Nacht wie dieser deinen Händen anzuvertrauen, ist gleichbedeutend mit einer Anwartschaft auf baldige Beerdigung.«
Nach langem Suchen fanden sie Tommys Chauffeur. Bei Tagesanbruch hielten sie, schmutzbedeckt und übernächtigt, vor Lord Wealds Haustür. Vor der des Nebenhauses stand ein Schutzmann auf Wache, der sein steifes Benehmen erst ablegte, als er Dick erkannt hatte. Scotland Yard, so berichtete der Beamte, habe den Fall übernommen, die untersuchenden Beamten das Haus jedoch seit langer Zeit verlassen. Derrick betrat sein Haus, und die beiden Männer folgten ihm. Der Wächter war noch auf. Gemeinsam durchsuchten sie das Haus, nachdem Dick den Weg beschrieben hatte, über den er vom Balkon des dritten Stockwerks in Derricks Haus gelangt war.
»Wahrscheinlich haben die Yardleute das Fenster, durch das du eingestiegen bist, auch als Eingang der Einbrecher betrachtet«, meinte der Lord ironisch lächelnd. »Du siehst also, daß auch die allwissende Hermandad sich irren kann.«
»Die Polizei hat auf meinem Bierglas einen Fingerabdruck entdeckt«, ließ sich der Wächter vernehmen. »Sie hat das Glas mitgenommen, um den Abdruck zu fotografieren.«
Dick fand diese Mitteilung höchst interessant, und als ihn Tommy nun aufforderte, ihm beim Frühstück Gesellschaft zu leisten, lehnte er die Einladung ab.
»Ich muß zum Yard«, begründete er seinen Entschluss. »Der Fall muß mir zugeteilt werden. Der Urlaub kann warten.«
Gegen zehn Uhr befand er sich beim Chef und erhielt von ihm die Zusicherung, die Untersuchung anvertraut zu bekommen.
»Nehmen Sie die Sache aber nicht zu leicht, Staines«, warnte er ihn. »Sie ist wichtiger, als wir alle dachten.«
Staines wunderte sich, denn er hatte nur an einen gewöhnlichen Einbruch gedacht. Die Aufklärung erhielt er schneller, als er vermutete.
»Erinnern Sie sich des Mordes von Slough?« fragte ihn der Chef.
»Ja!« nickte Dick. »Ich las von dem Fall in der Zeitung. Ich trat damals gerade bei der Polizei ein.«
»Wie Sie wissen werden, ist es uns bisher noch nicht gelungen, den Täter dingfest zu machen. Die einzige wirklich verwendbare Spur, die er zurückließ, war ein Daumenabdruck auf dem Lauf der Waffe. Sie werden sich auch dieses Punktes erinnern können, Staines, wie?«
»Ganz genau, Mr. Bourke. Ich habe diesen Abdruck unzählige Male in Händen gehabt.«
»Nun gut. Der Täter ist mit der Beute, sechshundert Pfund, unerkannt entkommen. Alles, was wir von ihm haben, ist ein unscheinbarer Daumenabdruck, und ...«
Er unterbrach sich und starrte Dick an, der gespannt des Kommenden harrte. Ehe Bourke fortfuhr, öffnete er ein Schubfach seines Pultes und entnahm ihm ein kleines Bild. Er reichte es seinem Inspektor, der es interessiert in die Hand nahm.
»Sehen Sie sich die Aufnahme genau an, Staines«, bat er. »Sie werden sie noch sehr gut gebrauchen können. Es ist die Wiedergabe des auf dem Lauf der Mordwaffe gefundenen Daumenabdrucks. Wissen Sie, warum ich Ihnen das alles wiederkäue? Nun, diesen gleichen Abdruck haben wir heute morgen, als meine Leute den Einbruch bei Derrick untersuchten, auf dem Wasserglas gefunden, das Larkin zum Biertrinken benutzt hatte.«
4
Dick glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Gespannt prüfte der das Lichtbild, das er in der Hand hielt. Ja, es war so. Zu gut waren die Einzelheiten des Fingerabdrucks des Mörders von Slough in seinem Gedächtnis eingeprägt, als daß er sich hätte irren können.
»Merkwürdig!« sagte er endlich. »Was wollen die Leute von Derrick? Er hat, wie er selbst zugibt, nur ganz minderwertige Silbergeräte in jenem Haus aufbewahrt. Diese können es also nicht sein, die einen Einbruch in seiner Wohnung lohnenswert machen. Das ist aber schon der zweite Versuch ...«
»Nein, der dritte«, verbesserte ihn Bourke. »Einmal wurde, ohne daß Derrick etwas davon erfahren hatte, im Haus eingebrochen. Wissen Sie, was ich glaube? Nein? – Setzen Sie sich erst einmal, Staines. Wie Sie wissen, ritt der alte Derrick, der Vater Walters, ein ganz besonderes Steckenpferd?!«
»Ja, sein Sohn erzählte mir erst gestern davon.«
»Von der Fingerabdrucksammlung seines Vaters?«
»Ja.« Dick nickte bestätigend.
»Wir nannten den Alten hier im Yard bloß den ›Amateur-Daktyloskopen‹; er muß Tausende aller möglichen Abdrücke gesammelt haben. Sein ganzes Sehnen und Trachten ging darauf hinaus, die Polizei mit ihrer Annahme, es gäbe keine Fingerabdrücke verschiedener Personen, die einander völlig gleich seien, ins Unrecht zu setzen. Sonst geizig wie ein Shylock, war ihm für sein Steckenpferd nichts zu teuer. Er war so ein Fanatiker, wie es nur je ein Bibliophile gewesen sein mag. Den ganzen Tag brachte er in seinem Arbeitszimmer mit dem Tabellieren und Registrieren der gesammelten Abdrücke zu. Sogar uns vom Yard, die wir doch bestimmt in dieser Art Erkennungsdienst keine Waisenknaben sind, konnte er allerlei Neues bringen. Ich bin fest überzeugt, daß er seiner Theorie doch noch zum Erfolg verholfen hätte, wenn er nicht vor der Zeit ins Jenseits abberufen worden wäre.«
Bourke unterbrach sich und blickte seinen Inspektor nachdenklich an. Nach kurzer Pause fuhr er fort: »Ich bin nun zu der Überzeugung gekommen, daß es dem alten Derrick kurz vor seinem Tode doch noch gelungen sein muß, die lange gesuchte Doublette von Fingerabdrücken zu finden; er wird den Abdruck, den der Mörder von Slough auf der Mordwaffe hinterlassen hatte, zwischen den von ihm neu gesammelten wiederentdeckt haben.«
»Aber«, gab Staines zu bedenken, »Walter Derrick hatte doch, soweit ich unterrichtet bin, die ganze Sammlung seines Vaters verbrennen lassen, nicht wahr?«
»Die ganze? Wer weiß! Das einzige, was wir wissen, ist, daß der Sohn nach seiner Rückkehr die von ihm aufgefundenen Sammlungsstücke zerstören ließ. Ich habe damals die Sammlung mit eigenen Augen gesehen; sie füllte die ganze Längswand im Arbeitszimmer des alten Derrick aus. Walter Derrick bot uns bei seines Vaters Tod die komplette Sammlung an. Wir lehnten jedoch ab, da es uns nicht gestattet ist, Fingerabdrücke Unbestrafter zu sammeln. Vielleicht sind aber, trotz der Zerstörung durch den Sohn, einige besonders wichtige Stücke übriggeblieben, hinter denen die Einbrecher nun her sind. Warum sollten sie auch sonst dort einbrechen? Walter Derrick gibt selbst an, daß in seiner Wohnung so gut wie gar keine Wertgegenstände aufbewahrt werden. Die einzige Erklärung für die Einbrüche ist vielleicht in dem Wunsch der Einbrecher zu suchen, ein sie besonders interessierendes Stück der Sammlung in ihre Hände zu bekommen, oder es wenigstens den Blicken Unbefugter zu entziehen. Man hat ja überhaupt nichts vermißt; gestohlen wurde gar nichts: Also wozu der große Aufwand und das Risiko, das die Einbrecher bei ihren wiederholten Versuchen eingegangen sind?« Bourke streckte dramatisch seine Hände aus: »Legen Sie dem oder den Einbrechern die Handschellen an, Staines, und ich wette, Sie werden den Mörder von Slough festgenommen haben.«
Der Inspektor ging an die Aufklärung des neuen Falles mit besonderer Methode heran. Er versuchte, alles, was er von dem Fall wußte, aus seinem