Die Gräfin von Ascot. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
Morlay hatte sich inzwischen in dem Geschäft umgesehen, das sehr gut ausgestattet war. Schönes Paneel bedeckte die Wände bis zur Decke; der Boden war mit Parkett ausgelegt. Die Damenkleider und -mäntel hingen in großen Schränken mit Spiegelscheiben. An der hinteren Seite war eine Trennungswand eingebaut, und Herman sah mehrmals dorthin. Zuerst glaubte John Morlay, der Mann hätte ihm etwas vorgelogen und Mrs. Carawood wäre doch zugegen.
»Vielleicht kommen Sie ins Büro«, sagte Herman und warf wieder einen Blick in den hinteren Teil des Ladens. Nun verstand John, daß der Angestellte sich nur überlegt hatte, ob er den fremden Herrn dorthin führen könnte.
Das Büro war ein verhältnismäßig kleiner Raum. Es standen ein großer Schreibtisch mit Stuhl darin und verschiedene Bücherregale. Die unteren Fächer enthielten die Geschäftsbücher und die Korrespondenz von Mrs. Carawood, während oben Dutzende von billigen Abenteuer- und Kriminalgeschichten lagen.
»Mrs. Carawood fährt jetzt sehr oft nach Cheltenham, bis Mylady nach Ascot zieht«, erklärte Herman. »Sie hat noch verschiedenes vorzubereiten.«
John lächelte.
»Unter Mylady verstehen Sie doch die Gräfin Fioli?«
Herman nickte eifrig.
»Sind Sie ein Freund von ihr?« fragte er dann.
»Das möchte ich nicht gerade behaupten, aber ich kenne die junge Dame oberflächlich.«
Herman strahlte.
»An Mylady kann man sehen, daß der alte Fenner unrecht hat.«
»Wer ist denn Mr. Fenner?«
John war erstaunt über die Herzlichkeit, mit der er hier empfangen wurde. Erst später erfuhr er, daß das Faktotum von Mrs. Carawood hohe Achtung vor allen Leuten hatte, die Mylady kannten oder mit ihr verkehrten.
»Fenner ist ein Sozialdemokrat. Er kann sehr gut reden, hat Bildung und so weiter.«
»Spricht er denn schlecht von Mylady?« fragte Morlay, der sich heimlich amüsierte.
Herman schüttelte den Kopf.
»Nein, das tut er nicht! Das ist das einzige Gute an Mr. Fenner. An Königen, an Lords und an Grafen läßt er keinen guten Faden, aber über Mylady hat er noch nie etwas Schlechtes gesagt.«
John Morlay lenkte geschickt die Unterhaltung auf Mrs. Carawood und ihre Geschäfte und erfuhr, daß sie insgesamt acht Läden in der Stadt hatte, die alle gut gingen. An diesem Nachmittag war sie nach Cheltenham gefahren; Herman nannte die genaue Abfahrtszeit des Zuges.
»Mrs. Carawood liest wohl sehr viel«, erkundigte sich John, während er die Bücherregale betrachtete.
Herman lächelte verklärt.
»Sie hat jede Geschichte gelesen, die hier steht.« Zärtlich fuhr er mit der Hand über die Rücken der Bücher und Heftromane. »Und ich habe jede gehört!«
»Sie wollen wohl sagen, daß Sie auch alle diese Geschichten gelesen haben?«
»Nein, ich kann nicht lesen, auch nicht schreiben«, erklärte er einfach. »Aber wenn das Geschäft geschlossen ist, liest Mrs. Carawood mir vor.«
»Ist denn Mr. Fenner damit einverstanden?« fragte John Morlay lächelnd.
»Es kommt gar nicht darauf an, was er tut oder nicht tut. Er sagt, ich bekäme dadurch falsche Vorstellungen, aber das versteht er nicht.«
John Morlay war sehr erstaunt und nachdenklich, als er langsam zum Viktoria-Bahnhof ging. Und dann tat er etwas, was ihm selbst ganz unerklärlich war: Er nahm ein Taxi, fuhr zu seiner Wohnung zurück, packte einen Koffer und ließ sich dann zur Station Paddington bringen, wo er in den Zug nach Cheltenham stieg. Plötzlich hatte er das unwiderstehliche Verlangen, Mrs. Carawood kennenzulernen – vielleicht aber wünschte er noch mehr, Mylady wiederzusehen.
3
Mrs. Carawood ging durch den großen, grauen Steinbogen, der den Eingang zu dem bekannten und berühmten Mädchen-College in Cheltenham bildete, und wandte sich nach links, wo die Steintreppe lag.
Die einzelnen Klassen kamen aus den verschiedenen Wohngebäuden zum Haupthaus, lange Reihen junger Mädchen zu zweien und zweien, in dunkelblauen Röcken und weißen Blusen. Dazu trugen sie Krawatten in den Farben der Schule.
Der Portier eilte auf Mrs. Carawood zu, als er sie erkannte.
»Guten Morgen! Haben Sie Mylady schon gesehen?«
»Nein, Mr. Bell«, sagte die untersetzte Frau freundlich. »Ich kam gestern spät mit dem Abendzug. Geht es ihr gut?«
Ihre Stimme hatte einen gewissen Anklang an den Londoner Jargon. Dem Portier gefiel sie, wenn er das Äußere und die Manieren dieser Frau auch nicht gerade sehr fein fand. Jedenfalls war sie anders als die Eltern der jungen Damen, die hier erzogen wurden, und er fühlte sich mit ihr eigentlich gesellschaftlich auf einer Stufe.
»Es ging ihr sehr gut, als ich sie gestern sah. Wollen Sie sie heute nach Hause mitnehmen?«
Mrs. Carawood schüttelte den Kopf.
»Nein«, erwiderte sie kurz und ging dann weiter.
Am oberen Ende der Treppe wurde sie von einer der Lehrerinnen empfangen, die als Zeichen ihrer Würde eine Art Medaillon um den Hals trug. Diese geleitete sie durch eine große Tür in einen Saal, wo sie ihr einen Platz anwies. Sie befand sich oben auf der Galerie, die die große Halle auf drei Seiten umgab. Unten war auf der einen Seite ein Podium aufgeschlagen und mit schweren, blausamtenen Vorhängen drapiert. Auf dem Tisch standen ein silbernes Lesepult und eine Vase mit prachtvollen Blumen. Im Hintergrund präludierte eine Orgel. Die Mädchen der einzelnen Klassen nahmen ihre Plätze ein, bis der große Raum und die Galerien gefüllt waren.
Zuletzt erschienen die Schülerinnen des obersten Jahrgangs, die besondere Sitze hatten. Eins der Mädchen sprach mit einer älteren Dame und entfernte sich dann. Mrs. Carawoods Augen leuchteten auf, als sie bald darauf die schlanke Gestalt auf sich zukommen sah.
Es war Marie. Ihr Gesicht hatte sich vor Freude gerötet, und sie kam eilig auf Mrs. Carawood zu. Sie reichte der alten Frau die Hand und drückte einen Augenblick die Wange an die ihre.
Nun erschienen unten die Lehrerinnen. Eine trug das große Gebetbuch. Eine große, majestätisch aussehende Dame folgte ihr. Sie hatte ernste, würdevolle Züge, schaute aber etwas müde auf die Versammlung.
John Morlay saß auf der gegenüberliegenden Seite der Galerie und beobachtete Mrs. Carawood und Marie Fioli. Er war einer der ersten gewesen, die die Galerie des großen Saals betreten hatten, und wartete nun schon über eine Viertelstunde, während die vielen jungen Mädchen nach und nach den Raum füllten.
Jetzt fiel ihm ein, daß er Mrs. Carawood schon in Ascot gesehen hatte, als sie aus dem Auto stieg. Sie mußte etwa fünfzig Jahre alt sein, hatte eine dunkle Gesichtsfarbe und angenehme, freundliche Züge. Sie erinnerte John Morlay in gewisser Weise an eine Zigeunerin, denn sie hatte schwarze Haare, die noch nicht im mindesten ergraut waren. Und auf diese Entfernung hin konnte er auch nicht die kleinen Falten in ihrem Gesicht sehen, so daß es glatter und jugendlicher erschien, als es in Wirklichkeit war.
Aufs höchste erstaunt und interessiert betrachtete er Marie Fioli, als sie hereinkam. Er konnte sich zwar noch auf das schlanke junge Mädchen besinnen, das er vor einigen Monaten kennengelernt hatte, aber sie hatte sich inzwischen sehr verändert. Eine Frau konnte man sie noch nicht nennen, aber sie war unter keinen Umständen mehr ein Kind. John war geradezu begeistert von ihrem Aussehen. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie jungenhaft schlank, etwas ungelenk und befangen gewesen. Aber nun bewegte sie sich harmonisch und natürlich, anmutig und formvollendet.
Es wurde eine kurze Andacht abgehalten, aber Morlay hörte die Worte der Direktorin nicht; er konnte den Blick nicht von Maries Gesicht abwenden. Und je länger er zu ihr hinüberblickte, um so verächtlicher und gemeiner erschien ihm die kaltblütige Art, mit der